Mit besseren Arbeitsbedingungen gegen den Fachkräftemangel

Die Spitex Riehen-Bettingen BS begegnet dem Fachkräftemangel proaktiv: Im Rahmen eines zweijährigen, wissenschaftlich begleiteten Pilotprojekts führt sie eine 38-Stunden-Woche, «Flexitage» und zusätzliche Familienzulagen ein. Im Gegenzug sind die Mitarbeitenden bereit, auf ausgewählte Privilegien zu verzichten.

Die Spitex Riehen-Bettingen bietet bessere Arbeitsbedingungen für mehr Zufriedenheit der Mitarbeitenden. Illustration: Getty Images

Martina Kleinsorg. Fehlzeiten, Fluktuation, Unterbesetzung – den Fachkräftemangel bekommt auch die Spi­tex Riehen-Bettingen immer deutlicher zu spüren. Profitierte sie lange von der grenznahen Lage und konnte vielfach Mitarbeitende aus Deutschland rekrutieren, ist von diesem Standortvorteil heute nichts mehr zu spüren. «Vier Stellen haben wir seit Dezember ausgeschrieben und keine einzige Bewerbung erhalten», berichtet Claudia Wussler-Wenger, Geschäftsleitende der aktuell 75 Mitarbeitende und 50 Vollzeitstellen umfassenden Organisation. Erst wenn ab dem Frühling neue Absolventinnen und Absolventen von Pflegeausbildungen auf den Markt kämen, sehe sie eine Chance, vakante Positionen zu besetzen. Die Nachfrage nach qualifiziertem Personal sei enorm: Allein in der Region Basel sind aktuell die Stellen von rund 330 diplomierten Pflegefachpersonen, 100 Fachpersonen Gesundheit (FaGe) und 40 Pflegehelfenden ausgeschrieben, hat Claudia Wussler-Wenger bei ihrer Analyse aktueller Stellenanzeigen herausgefunden. Die hohe Berufsaustrittsquote verschärfe das Problem: «Im letzten Jahr hatten wir drei Kündigungen zu verzeichnen von Mitarbeitenden, die ganz aus der Pflege ausgestiegen sind.»

Wir müssen jetzt etwas tun, um unseren Klientinnen und Klienten die Leistungen weiter anbieten zu können, aber auch damit unsere Mitarbeitenden Freude an ­ihrem Beruf haben und gesund bleiben.

CLAUDIA WUSSLER-WENGER

Geschäftsleiterin Spitex Riehen-Bettingen

«Wir müssen jetzt etwas tun»
Die Politik sei viel zu langsam, zum Teil werde der Pflegenotstand sogar ignoriert oder verleugnet. «Wir werden in einen akuten Versorgungsengpass kommen», sagt Claudia Wussler-Wenger. «Wenn wir warten, bis endlich einmal mehr Geld zur Verfügung steht für die Ausbildung und attraktivere Arbeitsbedingungen, haben wir gar keine Leute mehr», findet sie klare Worte. «Wir müssen jetzt etwas tun, um unseren Klientinnen und Klienten die Leistungen weiter anbieten zu können, aber auch damit unsere Mitarbeitenden Freude an ihrem Beruf haben und gesund bleiben», sieht sie sich gefordert.

Bis die Massnahmen der Pflegeinitiative definiert und umgesetzt seien und ihre Wirkung zeigten, werde es noch länger dauern, formuliert es Marco Liechti, Leitung Zentrale Dienste. «Die Spitex Riehen-Bettingen entschloss sich deshalb, eine Vorreiterrolle zu übernehmen und die Arbeitgeberleistungen schon jetzt proaktiv zu verbessern.»

Um zusätzliche Leistungen finanzieren zu können, tragen die Mitarbeitenden nach dem Prinzip «Geben und Nehmen» ihren Teil bei. Im Rahmen einer Online-Befragung wurde ermittelt, auf welche bisherigen freiwillig angebotenen Leistungen sie zu verzichten bereit sind und auf welche nicht. Die anschliessend geschnürten und vom Vorstand bewilligten Massnahmen umfassen im Einzelnen:

Die Spitex Riehen-Bettingen hat sich entschlossen, eine Vorreiterrolle zu übernehmen und die
Arbeitgeberleistungen proaktiv zu verbessern.

MARCO LIECHTI

Leitung Zentrale Dienste Spitex Riehen-Bettingen

Massnahmenpaket 1: Einführung einer 38-Stunden-Woche (zuvor 42) bei gleichem Lohn.
• Beitrag der Mitarbeitenden: Aufhebung der bislang zusätzlich gewährten bezahlten Pause von
15 Minuten täglich (die gesetzlich vorgeschriebene Pause bleibt bestehen; eine unbezahlte zusätzliche Pause darf weiterhin gemacht werden).

Massnahmenpaket 2: Einführung von fünf flexiblen Ferientagen («Flexitage») pro Jahr, die über fünf Jahre angespart werden können, zusätzlich zum regulären Ferienanspruch.
• Beitrag der Mitarbeitenden: Aufhebung der bisher gewährten «Vorfesthalbtage» (z. B. vor dem 1. Mai, Karfreitag, Heiligabend, Silvester) sowie Kürzung des regulären Ferienanspruchs ab Alter 50 um 2 auf 28 Tage sowie ab Alter 60 um 3 auf 32 Tage.

Massnahmenpaket 3: Einführung einer zusätzlichen ­Familienzulage (für ein Kind: 400 Franken, zwei Kinder: 500 Franken, drei Kinder: 540 Franken, vier oder mehr Kinder: 570 Franken) für alle Mitarbeitenden, die
Anspruch auf eine Kinder- oder Ausbildungszulage haben.
• Beitrag der Mitarbeitenden: Aufhebung der
bisher ab 15 Jahre Betriebszugehörigkeit gewährten Dienstaltersgeschenke sowie der doppelten Sonntagszulage.

Gemessen werden soll der am 1. April gestartete zweijährige Pilotversuch an folgenden Zielen:
• Steigerung der Arbeitgeberattraktivität
• Zunahme von Bewerberinnen und Bewerbern
• Steigerung der Arbeitszufriedenheit und Motivation (Work-Life-Balance)
• Erhöhung der Arbeitsqualität
• Reduktion der Fehlzeiten
Die 38-Stunden-Woche komme aufgrund kürzerer Arbeitstage nicht nur älteren Mitarbeitenden entgegen, sondern auch dem Spitex-Alltag mit der Hauptlast am Vormittag, ist Claudia Wussler-Wenger überzeugt. Mit Flexitagen sei es möglich, auch mal drei, vier Wochen Ferien am Stück zu machen – bislang ging dies meist nur mit unbezahlten Ferien. Die Familienzulage scheint angesichts der hohen Kinderbetreuungskosten aktuell die wichtigste Massnahme. «Zudem übernehmen wir bereits seit Januar die Beiträge für die Kranken- und Unfalltagegeldversicherung vollumfänglich», ergänzt Marco Liechti. Eine Pensionskassen-Lösung mit hohen Sparsätzen und einem Arbeitgeberanteil von 55 Prozent komplettiere das Gesamtpaket.

Die zusätzlichen Personalkosten, welche die Schaffung von fünf zusätzlichen Vollzeitstellen beinhalten, reduzieren sich dank der Beiträge der Mitarbeitenden von rund 500 000 auf 220 000 Franken pro Jahr. Für die Pilotphase könne die Spitex Riehen-Bettingen auf Rücklagen zurückgreifen, anschliessend werde man zur weiteren Finanzierung wohl auf die Gemeinde zugehen müssen.

Das Projekt wird wissenschaftlich begleitet
Prof. Dr. Franziska Zúñiga vom Institut für Pflegewissenschaft der Universität Basel begleitet das Projekt zu Beginn und Abschluss der Pilotphase mit Personal-, Klientinnen- und Klienten- sowie Angehörigenbefragungen. Verwendet werden die gleichen Fragebögen wie bei der SPOTnat-Erhebung 2021 (vgl. Infokasten), bei der auch die Spitex Riehen-Bettingen teilnahm. Somit werden Daten von insgesamt drei Messzeitpunkten vorliegen. «Auch wenn die Fragen nicht spezifisch auf die Massnahmenpakete eingehen, lassen die Rückmel­dungen mögliche Veränderungen zum Besseren oder Schlechteren in den relevanten Themenbereichen erkennen», erklärt Franziska Zúñiga.

Die aktive Einbindung in
Entscheidungen ist das A und O, um Mitarbeitende zu halten. Dass man also gemeinsam einen Weg findet, mit welchem sich jede und jeder wohlfühlt.

Franziska Zúñiga

Professorin für Pflegewissenschaft Universität Basel

Weitere Erkenntnisse erhofft sich Claudia Wussler-Wenger aus dem internen Absenzenmanagement. Zudem frage man bei Kündigungen stets nach dem Grund. «Wenn wir jetzt investieren, wollen wir am Ende wissen, welche Massnahmen etwas bringen und wo nachgebessert werden muss», sagt sie. Vielleicht zeige sich, dass es keine optimale Lösung für alle gibt. «Für die einen mehr Geld, für die anderen mehr Ferien – auch ein flexibles Konstrukt ist vorstellbar.» Das partizipative Vorgehen der Spitex Riehen-Bettingen beurteilt Pflegewissenschaftlerin Franziska Zúñiga als vorbildlich: «Aus meiner Sicht ist die aktive Einbindung in Entscheidungen das A und O, um Mitarbeitende zu halten. Dass man also gemeinsam einen Weg findet, mit welchem sich jede und jeder wohlfühlt.»

Die neuen «Benefits» werden seit Januar 2023 in den Stellenanzeigen aufgeführt. Dass noch keine Resonanz zu spüren sei [Stand: Anfang März 2023], überrascht Marco Liechti nicht. «Trotz umfangreicher Information ist selbst für unsere bestehenden Mitarbeitenden nicht immer klar, was die Benefits für sie konkret bedeuten.» Hier wolle man noch vertiefter kommunizieren. Um in der breiten Öffentlichkeit für das Thema Aufmerksamkeit zu gewinnen, seien regional Werbung in öffentlichen Verkehrsmitteln geplant sowie Publikationen in lokalen Zeitungen.

Sigrid Zoth, diplomierte Pflegefachfrau HF mit Fallführung, arbeitet seit 2019 bei der Spitex Riehen-­Bettingen und hält die definierten Massnahmen für sehr attraktiv. Sie vermutet, dass sich insbesondere Mütter davon angesprochen fühlen, dort liege grosses Potenzial auf dem Fachkräftemarkt. «Dass wir als Mitar­beitende auch Opfer bringen müssen, sehe ich als selbstverständlich an, schliesslich muss ein Betrieb wirtschaftlich denken», ergänzt die 56-Jährige. «Ich konnte zunächst jedoch kaum glauben, wie grosszügig man uns entgegenkommt.»

Die nationale Studie SPOTnat (SPitex KOordination und QualitäT)
Unter Leitung von Prof. Dr. Franziska Zúñiga vom Institut für Pflegewissenschaft der Universität Basel wurden 2021 jeweils bis zu über 100 Mitarbeitende und 50 Klientinnen und Klienten sowie deren Angehörige von 88 nach Zufallsstichprobe ausgewählten Spitex-Organisationen befragt. Das Projekt gibt erste ­nationale Einblicke in die Versorgungsqualität und deren Einflussfaktoren im Schweizer ­Spitex-Bereich. Es erlaubt, Handlungsfelder zur Qualitätsverbesserung zu erkennen und zeigt Ansatzpunkte auf verschiedenen Ebenen auf. Die Resultate des Projekts sollen Politik und Spitex-Verantwortliche in der Weiterentwicklung der Versorgungsqualität unterstützen. Der Abschlussbericht soll im Frühling 2023 veröffentlicht werden. 
→ spotnat.nursing.unibas.ch

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