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Mit nächtlicher medizinischer Fernüberwachung Eltern entlasten
Der Schweizerische Kinderspitex Verein hat das Projekt «Medizinische Fernüberwachung in Echtzeit» (MFE) lanciert. Die Idee dahinter: Kranke und beeinträchtigte Kinder sollen in ihrer vertrauten Umgebung leben können, weil sie von Pflegefachpersonen nachts aus der Distanz überwacht werden. 2024 ist der Verein zusammen mit der Kinderspitex Ostschweiz in die Pilotphase gestartet. Sie begann mit ambulanten Patientinnen und Patienten, 2025 wird auch der Zustand von dauerhaft stationär betreuten Kindern fernüberwacht.
KARIN MEIER. Kinder, die an Epilepsie leiden, über eine Dauersondierung künstlich ernährt werden, einen zentralen Venenkatheter erhalten haben oder von einer Bradykardie oder Tachykardie betroffen sind, haben eines gemeinsam: Sie benötigen in unregelmässigen, grösseren Abständen pflegerische Hilfe oder müssen zur Sicherheit dauernd überwacht werden, damit in einem Notfall schnell reagiert werden könnte. Dies geschieht entweder durch eine Pflegefachperson vor Ort, falls die IV eine solche Nachtwache genehmigt bzw. die Mittel dafür spricht. Andernfalls übernehmen die Eltern die Überwachung. Für beide Situationen könnte dereinst die «Medizinische Fernüberwachung in Echtzeit» (MFE) zum Zug kommen. Sie ersetzt gleichsam die pflegenden Angehörigen beziehungsweise die Nachtwache am Bett und schlägt Alarm, wenn sich ein Notfall abzeichnet oder ein solcher eintritt.
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KI unterstützt die medizinische Fernüberwachung
Der Schweizerische Kinderspitex Verein hat in Zusammenarbeit mit der Kinderspitex Ostschweiz eine Lösung für eine solche MFE entwickelt. Sie bedingt am Patientenstandort beziehungsweise im Kinderzimmer eine Kamera mit durch künstliche Intelligenz (KI) gestütztem Bewegungsdetektor, der etwa das Herausfallen eines Patienten aus dem Bett erkennt. Weiter sind ein Monitor inklusive Sensor und ein Computer erforderlich. Der Sensor erfasst Vitalparameter wie Herzfrequenz (HR), Atemfrequenz (AF) und Sauerstoffsättigung (SpO2). Diese Daten sendet er via Bluetooth oder Kabel an den Monitor, der sie wiederum über USB an den Computer überträgt. Von dort werden die Daten über eine sichere Netzwerkverbindung (VPN) an einen Server übermittelt.
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Wir wollen es Eltern ermöglichen, ihr pflegebedürftiges Kind unter professioneller Aufsicht daheim zu betreuen und nachts dennoch beruhigt schlafen zu können.
Thomas Engeli
Gründer und Geschäftsführer Schweizerischer Kinderspitex Verein
Diplomierte Pflegefachpersonen überwachen in der MFE-Zentrale der Kinderspitex Ostschweiz die Daten auf ihrem Bildschirm. Mit dem Einverständnis der Eltern zeigt ihr Bildschirm zudem eine Videoübertragung des Kinderzimmers an. «Bei der medizinischen Überwachung kommt den Pflegefachpersonen KI zu Hilfe. Diese teilt die gemessenen Werte – unter Berücksichtigung des Krankheitsbildes – in drei Stufen ein», erläutert Mario Corradini. Er leitet das MFE-Projekt und ist beim Schweizerischen Kinderspitex Verein für den Datenschutz zuständig. «Grün» bedeutet, dass sich die Werte innerhalb der erwünschten Bandbreite befinden und keine Intervention erforderlich ist. Schwanken die Werte, ist eine genauere Beobachtung notwendig, und Stufe «Gelb» wird angezeigt. Falls nötig, wecken die Pflegefachpersonen die Eltern. «Wird eine medizinische Intervention wahrscheinlich, kommt die Stufe «Rot» zum Tragen. Spätestens jetzt werden die Eltern telefonisch geweckt», sagt Mario Corradini. Sobald sie im Kinderzimmer eingetroffen sind, werden sie von den Pflegefachpersonen über die zu treffenden Massnahmen instruiert. Die Pflegefachpersonen alarmieren bei Bedarf auch die Ambulanz. Dank der kontinuierlichen Messung und Übertragung der Vitalparameter-Werte kann der Notfallarzt sofort reagieren. Sollte die Datenübermittlung aus irgendeinem Grund unterbrochen sein, wird ebenfalls ein Alarm ausgelöst.
Zur Sicherstellung des Datenschutzes werden alle Daten bei einem externen Partner in der Schweiz gehostet. «Die Übermittlung, Speicherung und, falls nötig, die Archivierung der Daten erfolgen jederzeit datenschutzkonform», sagt Mario Corradini.
Kinder sicher daheim betreuen
Das MFE-Projekt wurde 2016 ins Leben gerufen. Initiator und treibende Kraft ist Thomas Engeli, der auch den Schweizerischen Kinderspitex Verein gegründet hat. Seine Motivation ist die eigene Betroffenheit: Thomas Engelis viertes Kind litt an einer Stoffwechselkrankheit, was zu häufigen epileptischen Anfällen und Atemstillständen führte. Weil damals noch keine Kinderspitex in der Ostschweiz existierte, musste das Kind die ersten beiden Lebensjahre überwiegend im Spital verbringen. «Mit dem Schweizerischen Kinderspitex Verein, der Kinderspitex Ostschweiz und dem MFE-Projekt wollen wir es Eltern ermöglichen, ihr pflegebedürftiges Kind unter professioneller Aufsicht daheim zu betreuen und nachts dennoch beruhigt schlafen zu können», sagt Thomas Engeli.
Beim Projekt von Beginn weg mit an Bord war die damalige Fachhochschule St. Gallen. Sie heisst heute OST Fachhochschule Ostschweiz und begleitet das Projekt wissenschaftlich. Dafür hat sie von der Kommission für Technologie und Innovation (KTI) des Bundes 310 000 Franken erhalten. Der Schweizerische Kinderspitex Verein hingegen berappt seinen Teil des Projekts selbst und ist deshalb auf Spenden angewiesen. «Kostendeckend wird die MFE erst in der Betriebsphase, wenn sie von den Krankenkassen und der IV finanziert wird», sagt Thomas Engeli.
Die Kinderspitex Ostschweiz
Der Schweizerische Kinderspitex Verein wurde 2000 gegründet. Ihm gehört die Kinderspitex Ostschweiz an. Sie widmet sich der Pflege und Überwachung von schwer beeinträchtigten Kindern in der Ostschweiz und zählt 55 Vollzeitstellen, die auf 176 Mitarbeitende aufgeteilt sind. Nebst dem MFE-Projekt hat sie folgende Projekte initiiert: Mit der «Hängematte» bietet sie Wochenend-Ferienplätze für schwer beeinträchtigte Kinder im Vorschulalter an, sodass Eltern etwas Zeit für sich haben. «Chili» bietet eine Wochenendgestaltung für beeinträchtigte Kinder an. «Spitex Mobile» stellt Familien mit einem Kind im Rollstuhl rollstuhltauglich umgebaute Fahrzeuge zur Verfügung.
Kinderspitex Ostschweiz
Pilotphase hat begonnen
Das Projekt befindet sich derzeit in der Pilotphase, die bis mindestens Ende 2025 dauern wird. Aktuell werden in der Ostschweiz fünf bis acht Kinder in ihrem Zuhause nachts von zwei diplomierten Pflegefachpersonen medizinisch fernüberwacht. Eines dieser Kinder ist der sechsjährige Robin Max Sprenger. Er ist vom Charge-Syndrom betroffen. Dies ist ein seltener Gendefekt, der nebst Hörseh-Schädigungen meist etliche weitere Körperbereiche betrifft. Robin Max lebt mit seinen Eltern Cherise und Daniel Sprenger in Dettighofen (TG). Tagsüber besucht er den Kindergarten, wo eine Pflegefachperson anwesend ist. Nachts hingegen muss er überwacht werden. Dies geschieht seit diesem August mittels MFE.
Mit der Teilnahme wollen Sprengers das Engagement der Mitarbeitenden der Kinderspitex Ostschweiz honorieren, die vorher eine Nachtwache für Robin Max gestellt haben. Während der Pilotphase sei ein Notfall bislang ausgeblieben. Für «normale Massnahmen» wie das Absaugen des Speichels, falls Robin Max ihn nicht in die Kanüle hineinhustet, oder das Justieren eines verrutschten Sensors hingegen würden sie regelmässig geweckt. «Es gibt Nächte, da können wir durchschlafen. In anderen Nächten müssen wir jedoch oft aufstehen, in seltenen Fällen bis zu zehn Mal», sagt Daniel Sprenger. Weil seine Frau weniger tief schläft, ist es oftmals sie, die aufsteht und sich um den Sohn kümmert. Sie ist auch diejenige, die bezüglich MFE eher Vorbehalte hat und eine gewisse nächtliche Nervosität nicht ablegen kann. Daniel Sprenger hingegen hat volles Vertrauen in die Technik.
Grundsätzlich hätten sie mit der MFE bislang positive Erfahrungen gemacht. Das Ehepaar schätzt daran insbesondere zwei Dinge: «Erstens gibt es nichts Schöneres, als wenn ein Kind zu Hause ist und vor Ort betreut werden kann. Zudem bietet uns die MFE trotz Videoüberwachung volle Privatsphäre», sagt Daniel Sprenger.
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Die Übermittlung, Speicherung und, falls nötig, die Archivierung der Daten erfolgen jederzeit datenschutzkonform.
Mario Corradini
Leiter MFE-Projekt und Datenschutz-Verantwortlicher Schweizerischer Kinderspitex Verein
Grosses Potenzial
2025 sollen rund 10 bis 15 Familien beim Pilotprojekt mitmachen. Mit der Spitex Bern wird sich eine weitere Spitex-Organisation beteiligen. Stationäre Institutionen werden sich ebenfalls engagieren. Eine davon ist die Stiftung Kronbühl, die Wohnmöglichkeiten für Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit einer schweren körperlichen und geistigen Beeinträchtigung bietet. Die technische Infrastruktur dafür wird derzeit vor Ort installiert, die Schulung des Personals hat begonnen: Die Mitarbeitenden vor Ort werden die von ihnen betreuten Personen nachts mit den Sonden verbinden, während die medizinische Überwachung durch die diplomierten Pflegefachpersonen in der MFE-Zentrale erfolgt. 2025 soll die Stiftung Waldheim, die ebenfalls Wohnplätze für Menschen mit einer Beeinträchtigung anbietet, zum Pilotprojekt stossen.
Nach Abschluss der Pilotphase wird es darum gehen, eine Betriebsbewilligung für die MFE zu erhalten, mit den Krankenkassen und der IV einen Tarif für die Kosten der ambulanten und stationären MFE zu vereinbaren und die MFE medizinisch zertifizieren zu lassen. Sind all diese – beträchtlichen – Hürden genommen, kann die MFE in einer ersten Betriebsphase auf die ganze Schweiz ausgedehnt werden. Thomas Engeli geht davon aus, dass in den ersten beiden Jahren rund 80 Kinder gleichzeitig medizinisch fernüberwacht werden können.
Das Potenzial der MFE sei gross: «Kinder können zu einem früheren Zeitpunkt als heute aus einem stationären in ein günstigeres ambulantes Setting entlassen werden. Ausserdem könnten nicht nur noch mehr Kinder auf diese Art betreut werden, sondern auch Erwachsene», sagt Thomas Engeli. Ein weiterer Vorteil der MFE sei die erhöhte Patientensicherheit in jenen Fällen, in denen die Eltern ihr Kind selbst überwachen müssen. Zudem sei die MFE eine kostengünstige Lösung: «Weil zwei bis drei Pflegefachpersonen bis zu 20 Patienten auf einmal medizinisch überwachen können, lässt sich mit der MFE auch Pflegepersonal vor Ort einsparen. In Zeiten der stets steigenden Gesundheitskosten und des Fachkräftemangels sind dies doch gute Nachrichten.»