Die Spitex als Türöffnerin für eine aufsuchende Suchtberatung

In Lenzburg und Baden etabliert die regionale Spitex eine Zusammenarbeit mit der jeweiligen Suchtberatung vor Ort. Ziel ist es, Menschen mit einer eingeschränkten Mobilität und einem problematischen Substanzkonsum oder einer Abhängigkeit besser zu erreichen und zu unterstützen. Die Grundlage dafür bildet das «Lenzburger Modellkonzept».

KARIN MEIER. In vielen Fällen bleibt eine Sucht unerkannt. Wenn Betroffene aufgrund weiterer psychischer oder somatischer Erkrankungen in ihrer Mobilität eingeschränkt sind, sind die Hürden auf dem Weg in eine Suchtberatung umso grösser. Weil Spitex-Mitarbeitende ihre Klientinnen und Klienten zu Hause besuchen, bemerken sie oft sehr früh, wenn diese suchtgefährdet sind. Für die frühzeitige Erkennung und Behandlung einer Suchtproblematik kommt den Spitex-Mitarbeitenden deshalb eine Schlüsselrolle zu. In Ausgabe 6/2022 wurde bereits über das Thurgauer Konzept «Suchtgefährdung im Alter – erkennen und handeln» berichtet, das die Schritte für eine erfolgreiche Früherkennung und Frühintervention durch die Spitex erläutert. Nur kurz erwähnt wurde hingegen das Aargauer Projekt «1 + 1 = 3», das nun ein Modellkonzept hervorgebracht hat:

Genauer hat im Kanton Aargau der Fachverband Sucht im Dezember 2020 das zweijährige Pilotprojekt «1 + 1 = 3: Interprofessionelle Zusammenarbeit von Spitex und Suchthilfe» ins Leben gerufen. Ziel war es, für Menschen mit einem problematischen Substanzkonsum oder einer Abhängigkeit ein niederschwelliges Beratungsangebot bereitzustellen und so ihre Versorgung verbessern zu können. Das Projekt wurde von der Stiftung Gesundheitsförderung Schweiz finanziert.

In Lenzburg arbeitete der Fachverband Sucht eng mit der Spitex Region Lenzburg und der Suchtberatung ags Lenzburg zusammen. Die Organisationen erarbeiteten gemeinsam das «Lenzburger Modellkonzept». Es zeigt auf, wie die Zusammenarbeit zwischen Suchthilfe und Spitex funktioniert und was für ein erfolgreiches Miteinander nötig ist. In der Region Baden haben das BZBplus und die Spitex Limmat Aare Reuss kurz ­darauf ebenfalls eine Zusammenarbeit begonnen und das Modellkonzept in leicht angepasster Version umgesetzt.

Das Lenzburger Modellkonzept kann online kostenlos heruntergeladen werden, hier das zugehörige Dokument. Bild: Fachverband Sucht

Idealtypische Fälle als Orientierung
Das Kernstück des «Lenzburger Modellkonzepts» umfasst idealtypische Fallbeispiele, die den Spitex-Mitarbeitenden so oder ähnlich im Berufsalltag begegnen können. Die Beispiele zeigen mögliche Vorgehen im ­Umgang mit Klientinnen und Klienten mit einer Abhängigkeitsgefährdung auf: Je nach Situation kann beispielsweise der Einbezug der Suchtberatung für eine interprofessionelle Fallbesprechung, eine aufsuchende Suchtberatung oder für die Beratung von Angehörigen sinnvoll sein. Ziel ist es, die Klientinnen und Klienten mit einer Abhängigkeit möglichst gut zu unterstützen. Die Erfahrung zeige jedoch, dass die Offenheit dafür stark vom Einzelfall abhänge, sagt Marco Gyr, Bereichsleitung Spezialdienste der Spitex Region Lenzburg: «Ein 80-Jähriger, der seit Jahrzehnten täglich eine Flasche Wein trinkt, ist möglicherweise weniger empfänglich für eine aufsuchende Suchtberatung als ein jüngerer Klient, der am Anfang seiner Sucht steht.»

Viel Raum im «Lenzburger Modellkonzept» erhalten dessen partizipativer und interprofessioneller Ansatz, die entwickelte Grundhaltung gegenüber Menschen mit einem problematischen Substanzkonsum oder einer
Abhängigkeit sowie Empfehlungen für Organisationen, welche das Modell bei sich anwenden möchten. Thematisiert werden weiter interprofessionelle Schulungen. «Wir haben die Spitex-Mitarbeitenden der Hauswirtschaft, der Somatik und der Psychiatrie darin geschult, Hinweise auf einen problematischen Substanzkonsum oder eine Abhängigkeit zu erkennen. Zudem muss geklärt sein, wer innerhalb der Spitex-Organisation die Thematik gegenüber dem Klienten oder der Klientin anspricht und wie das geschieht. Das kann beispielsweise die fallführende Pflegefachperson übernehmen», sagt Facia Marta Gamez, Projektleiterin beim Fachverband Sucht. In die physischen Treffen und das gegenseitige Kennenlernen der beiden beteiligten Organisationen sei viel Zeit investiert worden, was zu Beginn des Projekts wegen der Covid-19-Pandemie nicht leicht gewesen sei. Der Austausch vor Ort ist laut Facia Marta Gamez jedoch zentral: «Eine erfolgreiche Zusammenarbeit steht und fällt mit den persönlichen Kontakten. Kann man gegenseitig auf die Ressourcen und das Know-how der anderen Organisation zurückgreifen und weiss man, an wen man sich für eine Zusammenarbeit wenden kann, entsteht ein immenser Mehrwert für die Betroffenen. Zudem entlastet dies die Spitex-Mitarbeitenden, da sie sich dank des Einbezugs der Suchtberatung auf ihren Pflegeauftrag konzentrieren können.»

In der Zusammenarbeit mit der Suchtberatung können wir unseren Klientinnen und Klienten die sucht spezifische und sozial­arbeiterische Expertise der Mitarbeitenden der Suchtberatungsstelle vermitteln.

Marco Gyr

Bereichsleiter Spezialdienste Spitex Region Lenzburg

Gesellschaftlichen Auftrag wahrnehmen
Das Engagement der Spitex Region Lenzburg bezüglich der Zusammenarbeit mit der Suchtberatungsstelle begründet Marco Gyr mit dem gesellschaftlichen Auftrag, den die Spitex habe: «Die NPO Spitex hat in der Schweiz eine grosse Reichweite. Wir sind deshalb in der Verantwortung, unseren Teil zur bestmöglichen Versorgung unserer Klientinnen und Klienten beizutragen, auch wenn dafür notwendige Leistungen nicht über das KVG abgedeckt sind. In der Zusammenarbeit mit der Suchtberatung können wir ihnen die suchtspezifische und sozialarbeiterische Expertise der Mitarbeitenden der Suchtberatungsstelle vermitteln, die für sie erst noch kostenlos ist. Das ist auch deshalb wichtig, weil eine früh erkannte Suchterkrankung die Gesellschaft viel weniger kostet als eine chronifizierte.»

Sowohl in der Region Lenzburg wie auch in der Region Baden wird nach Ende des Pilotprojekts weiter in die Zusammenarbeit zwischen der Suchtberatung und der Spitex investiert. Bis die interprofessionelle Versorgung nachhaltig in den Strukturen der Organisationen verankert ist und die Zusammenarbeit von allen Mitarbeitenden gelebt wird, wird es gemäss Marco Gyr noch ungefähr zwei bis drei Jahre dauern.

Das «Lenzburger Modellkonzept» kann als PDF heruntergeladen werden von www.fachverbandsucht.ch. Zusätzliche Informationen gibt es unter Fachwissen/Themen/­Kooperation und Integration; weitere Informationen und Arbeits­instrumente unter: Fachwissen/Themen/Sucht im Alter.

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