Die Hürden der Kooperation der Hausärztinnen und Hausärzten mit der Spitex

Die Zusammenarbeit der Hausärztinnen und Hausärzte mit der Spitex ist von zentraler Bedeutung. Dies betonen FMH -Vorstandsmitglied Carlos Quinto und Spitex-Schweiz-Vorstandsmitglied Gabriele Balestra. Hürden der Kooperation müssten indes dringend aus dem Weg geräumt werden – etwa inkompatible IT-Systeme und ungenügende Finanzierung.

Das komplexe Netzwerk der Spitex mit vielen der zentralen Partnerschaften für eine gute Versorgung. Illustration: Stutz Medien AG

INTERVIEW: KATHRIN MORF, SONIA BARBOSA

SCHWEIZERISCHE ÄRZTEZEITUNG, SPITEX MAGAZIN 1: Wie wichtig ist die Partnerschaft der rund 7500 Hausärztinnen und Hausärzte und der rund 2700 Erbringer von Spitex-Leistungen 2, damit das Gesundheitswesen die rasant steigende Nachfrage nach ambulanten Leistungen meistern kann?
 
GABRIELE BALESTRA: Die enge Zusammenarbeit zwischen den Hausärztinnen und Hausärzten 3 und der Spitex ist äussert wichtig – auch weil die Zahl der komplexen ambulanten Fälle zunimmt.

CARLOS QUINTO: Eine solche enge Partnerschaft, in deren Zentrum die gemeinsamen Patientinnen und Patienten stehen, halte ich für ein Muss für eine gute Versorgung. Das A und O ist dabei das gegenseitige Vertrauen.

GABRIELE BALESTRA: Die Spitex-Organisation von Locarno ALVAD, deren Direktor ich bin, fördert dieses Vertrauen zum Beispiel, indem drei von sieben Vorstandsmitgliedern Hausärzte sind. Und indem wir an der Verbesserung der Kommunikation mit der Hausärzteschaft arbeiten. 

Diese Kommunikation, die häufig mit der Zuweisung von Patientinnen und Patienten an die Spitex via OPAN CARE 4 beginnt, gilt als herausfordernd. Wo «harzt» es besonders?

GABRIELE BALESTRA: Oft fehlen Patientendaten und Medikationslisten. Zudem müsste sich die Spitex vor allem in instabilen Pflegesituationen auf die Erreichbarkeit der Hausärzte verlassen können. Die ALVAD hat ihre ­Erreichbarkeit verbessert, indem wir die Kontaktdaten aller Fallführenden den zuständigen Hausärzten mitteilen und einen Pikettdienst für ärztliche Anfragen ausserhalb der Bürozeiten betreiben.

CARLOS QUINTO: Ich habe tagsüber so viel zu tun, dass ich meine Mails oft erst nach 19 Uhr kontrolliere. Darum empfehle ich für dringliche Anfragen das Telefon. So erreicht die Spitex sicher eine medizinische Praxisassistentin (MPA) oder Praxiskoordinatorin (MPK), die ihr selbst weiterhelfen oder mich beiziehen kann. Für ­einen optimalen Austausch von Daten müsste auf eine gemeinsame digitale Plattform gesetzt werden – und nicht wie heute auf viele inkompatible IT-Systeme.

Die Partnerschaft zwischen Hausärztinnen und Hausärzten und der Spitex, in deren Zentrum die gemeinsamen Patientinnen und Patienten stehen, halte ich für ein Muss für eine gute Versorgung.

Dr. med. Carlos Beat Quinto

Facharzt und Vorstandsmitglied FMH

Diese Inkompatibilität gilt als Hürde der integrierten Versorgung. Das elektronische Patientendossier (EPD) soll Abhilfe schaffen. Noch setzen viele Betriebe oder Regionen aber auf individuelle Lösungen. Plädieren sie für ein nationales, vielleicht sogar staatlich verordnetes System?

CARLOS QUINTO: Kantone und Bund sollten für einen nationalen Standard für den Austausch von strukturierten Gesundheitsdaten sorgen. Die dänische Regierung hat zum Beispiel ein bestehendes Praxissystem ausgewählt und es verbindlich und staatlich finanziert im ganzen Land ausgerollt. In der Schweiz gibt es hingegen zahlreiche inkompatible Systeme, und der Bund baut mit dem EPD auch noch ein teures Parallelsystem auf, das derzeit nicht funktioniert. Darum müssen wir Leistungserbringer Informationen in viele verschiedene Systeme übertragen, im Widerspruch zum «once only»-Prinzip.

GABRIELE BALESTRA: Eine gut funktionierende nationale Plattform würde Koordination und Patientensicherheit stark verbessern. Realistischer scheint mir momentan aber ein nationaler Standard für die Schnittstellen zwischen den unterschiedlichen IT-Systemen. Gibt es auch diesen nicht, müssen wir zumindest an guten regionalen Lösungen arbeiten, statt abzuwarten. Darum hat ALVAD den Hausärzten den Zugriff auf ihre elektronischen Patientenakten über eine App ermöglicht, die bisher aber kaum genutzt wird. Noch besser wäre eine Schnittstellenlösung für die gesamte Gesundheitsregion. 


Solchen integrierten Vorhaben dürfte vielerorts das «Silo-Denken» im Weg stehen, das sich an Partikularinteressen und alten Hierarchien orientiert?

GABRIELE BALESTRA: Vielerorts ist ein Kulturwandel hin zum integrierten Denken nötig. Auch die Spitex muss den Austausch mit den Hausärzten aus Überzeugung anstreben, zum Beispiel durch gemeinsame Fallbesprechungen und Qualitätszirkel. 

CARLOS QUINTO: Glücklicherweise ist dieser Kulturwandel bereits in vollem Gang. Zum Beispiel wird an den medizinischen Fakultäten eine integrierte Kultur gelehrt. Umso wichtiger ist, dass die Finanzierung die integrierte Versorgung nicht verunmöglicht.

Bremst die mangelhafte Finanzierung die integrierte Versorgung derzeit aus?

GABRIELE BALESTRA: Aufseiten der Spitex sicherlich. Obwohl die Koordination in der Krankenpflege-Leistungsverordnung (KLV) enthalten ist, anerkennen viele Krankenkassen die Notwendigkeit unserer koordinativen Leistungen nicht. Sie sehen nicht, dass gute Koordination langfristig eine Sparmassnahme für das Gesundheitswesen ist, weil sie zum Beispiel Hospitalisationen verhindert. Die Spitex muss mit Nachdruck für eine Verbesserung dieser Situation einstehen.

CARLOS QUINTO: Eine gute Koordination ist für die Versorgungsqualität zentral. Die 2018 vom Bund eingeführten Zeitlimitationen für Hausärzte waren darum ein riesiger Fehler. Denn jetzt haben wir nur 30 Minuten pro Quartal und Patient für die Koordination zur Verfügung. Für Massnahmen wie runde Tische oder interprofessionelle Hausbesuche reicht dies bei Weitem nicht aus. TARDOC 5 könnte diese Ausgangslange ab 2026 verbessern.

Neben der Finanzierung gilt auch der Fach­kräftemangel in beiden Branchen als Hürde für die ­Koordination. Zu Recht?

CARLOS QUINTO: Entwicklungen wie der Fachkräftemangel oder der Medikamentenmangel sorgen dafür, dass Hausärztinnen und Hausärzte zeitlich sehr gefordert sind. Um den Fachkräftemangel zu bekämpfen, müssen Bund und Kantone die Ausbildungskapazität im Inland ausbauen, die ärztliche Grundversorgung aufwerten und Anreize schaffen, dass die Fachkräfte im Beruf bleiben.

GABRIELE BALESTRA: In der Pflege wird gerade eine Ausbildungsoffensive im Rahmen der Umsetzung der Pflegeinitiative gestartet. Weitere Massnahmen wie eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen werden folgen. Wir Leistungserbringer dürfen indes nicht zulassen, dass 
der Fachkräftemangel uns von guter Koordination abhält. Schliesslich sorgt diese für effizientere Prozesse und spart damit personelle Ressourcen.

Viele Krankenkassen sehen nicht, dass eine gute Koordination langfristig eine Sparmassnahme für das Gesundheitswesen ist, weil sie zum Beispiel Hospitalisationen verhindert.

GABRIELE BALESTRA

Co-Vizepräsident Spitex Schweiz, Direktor ALVAD

Eine weitere mögliche Lösung für die Verbesserung der Koordination sind spezialisierte Fachpersonen, die sich um nahtlose Übergänge kümmern. Welche Berufsgruppe eignet sich hierfür?

CARLOS QUINTO: MPA beherrschen diese Rolle gut – insbesondere dann, wenn sie eine Weiterbildung zur MPK in klinischer Richtung absolviert haben. Pflegeexpertinnen und Pflegeexperten APN sind geeignet, wenn ein Hausarzt Unterstützung bei den Hausbesuchen benötigt oder in Liaison-Funktion zu Alters- und Pflegeheimen steht. Leider werden bisher die nicht ärztlichen Mitarbeitenden in Arztpraxen gar nicht oder inadäquat finanziert.

GABRIELE BALESTRA: Neben MPK und APN sind spezialisierte Pflegefachpersonen für die Optimierung der Kooperation wichtig. Zum Beispiel verfügen viele Spitex-­Organisationen über Fachpersonen in Psychiatrie, Wundversorgung, Diabetologie und Palliative Care, die eng mit Arztpraxen zusammenarbeiten können. Leider weiss die Ärzteschaft aber wenig über die Verfügbarkeit dieser Fachpersonen, was wir ändern müssen.

Betrachten wir zum Schluss die zunehmende Bürokratie im Gesundheitswesen. Ist auch sie eine Hürde für die Koordination?

CARLOS QUINTO: Ja, denn die Bürokratie kostet uns immer mehr Zeit. Ein Beispiel: Hausärzte müssen seit 2024 zwei A4-Seiten für die Krankenkassen ausfüllen, wenn sie Kompressionsstrümpfe verschreiben. Dieses Formular verursacht schätzungsweise Kosten von 120 Franken pro Fall – für 60 Franken kostende Strümpfe.

GABRIELE BALESTRA: Auch die Spitex muss darauf bestehen, dass ihre Mitarbeitenden nicht immer mehr Zeit für Bürokratie aufwenden müssen. Im Juli 2024 fällt immerhin eine administrative Hürde weg: Die Spitex muss für gewisse Pflegeleistungen keine ärztliche Unterschrift mehr einholen [Vgl. Infokasten «Neuer Umgang mit Bedarfsmeldungen»]. Dennoch sollte sie die Ärzteschaft im Sinne einer guten Koordination über ihr Vorgehen informieren.

CARLOS QUINTO: Diesen Schritt begrüsse ich sehr. Die Politik muss sicherstellen, dass die Hausärztinnen und Hausärzte sowie alle Spitex-Mitarbeitenden wieder mehr sinnhafte Zeit mit ihren Patientinnen und Patienten verbringen können – und weniger Zeit vor dem Bildschirm und mit Papierkram.

Zu den Interviewten

Dr. med. Carlos Beat Quinto ist Facharzt für Allgemeine Innere Medizin in einer Gruppenpraxis in Pfeffingen BL. Auch ist er unter anderem Zentralvorstand des Berufsverbands FMH (Foederatio Medicorum Helveticorum), Vorstandsmitglied der Ärztegesellschaft Baselland sowie Lehrbeauftragter am Universitären Zentrum für Hausarztmedizin beider Basel.

Gabriele Balestra ist Direktor der Spitex von Locarno (Associazione Locarnese e Valmaggese di Assistenza e cura a Domicilio, ALVAD) und ­Co-Vizepräsident von Spitex Schweiz. Zudem ist der Volkswirtschaftler unter anderem Gemeinderat von Gordola TI.

Neuer Umgang mit Bedarfsmeldungen

Die Umsetzung der 1. Etappe der Initiative «Für eine starke Pflege (Pflegeinitiative)» ermöglicht unter anderem die direkte Abrechnung gewisser Pflegeleistungen: Pflegefachpersonen und Spitex-Organisationen dürfen seit 1. Juli 2024 Leistungen der Abklärung, Beratung, Koordination (KLV-A) und der Grundpflege (KLV-C) ohne ärztlichen Auftrag bzw. ärztliche Anordnung abrechnen. Ergeben Bedarfsermittlung und Pflegeplanung keine Notwendigkeit von KLV-B-Leistungen (Behandlungspflege), braucht es keine ärztliche Unterschrift mehr. Die Ärzteschaft muss aber über alle Massnahmen informiert werden.

  1. Dieser Bericht ist als Kooperation zwischen FMH und Spitex Schweiz entstanden und erscheint in der «Schweizerischen Ärztezeitung» und im «Spitex Magazin». ↩︎
  2. Zahlen gemäss FMH-Ärztestatistik 2023 und Spitex-Statistik des Bundesamtes für Statistik (BFS) 2022. ↩︎
  3. Im Folgenden wird teilweise auch nur von «Hausärzten» gesprochen; die weibliche Form ist aber immer mitgemeint. ↩︎
  4. Seit 10 Jahren existiert OPAN, die heute meistgenutzte Plattform für Online-Patientenanmeldungen an Heime und Spitex. Ab 24. Juli heisst die Plattform für alle Bereiche «OpanCare» (https://opancare.ch). ↩︎
  5. Der Bundesrat gab Mitte Juni bekannt, dass die seit 2004 geltende Tarifstruktur TARMED für ambulante ärztliche Leistungen per 1. Januar 2026 durch die Einzelleistungstarifstruktur TARDOC sowie durch eine Tarifstruktur für Pauschalen ersetzt wird. ↩︎

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