In der Nacht unterwegs
Die Spitex bietet ihre Dienstleistungen auch in der Nacht an - und dies mancherorts schon seit vielen Jahren. Um der steigenden Nachfrage und der zunehmenden Komplexität der häuslichen Pflegesituationen zu entsprechen, wurden die nächtlichen Angebote ständig ausgebaut und weiterentwickelt. Nicht selten sind die Organisationen mit der Herausforderung konfrontiert, wie sie das Angebot finanzieren und wo sie entsprechend qualifiziertes Personal rekrutieren können.
KATHRIN MORF UND EVA ZWAHLEN. «Nachtarbeit» bedeutet laut Arbeitsgesetz die Arbeit zwischen 23 und 6 Uhr. Die Arbeit in der Nacht bietet den Mitarbeitenden viel Gestaltungsfreiraum und erfordert eine grosse Selbstständigkeit – und von den Arbeitgebenden Massnahmen zum Schutz der Gesundheit. Was sind Trends in der nächtlichen Spitex-Arbeit? Was steht dem Spitex-Nacht-Angebot derzeit noch im Wege? Und was sind die Sonnen- und Schattenseiten der Nachtarbeit für die Mitarbeitenden? Diesen und weiteren Fragen stellen sich Tamara Renner, Co-Geschäftsleiterin Spitex Stadt Luzern, sowie Cornelis Kooijman, Co-Geschäftsführer Spitex Schweiz.
Tamara Renner und Cornelis Kooijman, wie hat sich das Nachtdienst-Angebot der Spitex in den vergangenen Jahren entwickelt?
TAMARA RENNER (TR): Wenn ich auf die Ursprünge unseres Nachtdienstes zurückblicke, so fällt mir vor allem auf, dass die Situationen in der Nacht im Laufe der Zeit komplexer wurden und es heute auch mehr Notfälle gibt als früher. In den ersten rund 13 Jahren unseres Angebots gingen die Mitarbeitenden zu zweit auf Tour, mit dabei waren jeweils eine Pflegefachperson HF und eine Pflegehilfe. Eine Mitarbeiterin übernahm den Einsatz, die andere wartete im Auto. Aus Sicherheitsgründen blieben sie per Funkgerät miteinander im Kontakt. Bei Bedarf gingen auch beide zum Klienten oder zur Klientin. Es gab gerade mal eine Tour pro Nacht, heute sind es drei (vgl. Infokasten).
CORNELIS KOOIJMAN (CK): Wir stellen fest, dass die Anzahl, allerdings auch die Breite, der nächtlichen Unterstützungsangebote durch Spitex-Organisationen über die Jahre zugenommen hat. So gibt es heute zahlreiche Betriebe, die einen Notfall-Pikett-Service anbieten oder Pflegeleistungen rund um die Uhr erbringen, zum Teil in besonderen Situationen im Rahmen der Palliative Care. Zudem gibt es Spitex-Organisationen, die für beides einen grösseren Perimeter als ihr angestammtes Einzugsgebiet bedienen und zum Beispiel auch benachbarte Organisationen unterstützen.
Mit dem Erbringen
von Leistungen auch in der Nacht wird der Grundsatz ‹ambulant vor stationär› wirklich gelebt.
Cornelis Kooijman
Co-Geschäftsführer Spitex Schweiz
Was sind die Gründe für das stetig steigende Angebot der «Nacht-Spitex»?
CK: Immer mehr Menschen leben allein, es gibt weniger Mehrgenerationenhaushalte, die Gesellschaft ist individueller unterwegs. Unterstützungsleistungen, auch während der Nacht, können und werden nicht mehr «einfach so» durch Angehörige erbracht. Heute werden in der Tendenz auch komplexe Pflegeinterventionen zu Hause durchgeführt, entsprechend kann eine Versorgung auch während der Nacht nötig sein. Der Einsatz von digitalen Devices und Sensoren für Echtzeitmessungen ermöglicht es der Spitex-Organisation, über Notfallsituationen oder notwendige Hilfeleistungen zeitnah informiert zu werden und so den Pikett-Dienst gezielt einzusetzen.
TR: Ich teile diese Einschätzung. Ergänzen möchte ich, dass die Menschen heute früher aus dem Spital aus- und später in ein stationäres Setting eintreten. Ein professioneller und sehr gut ausgebildeter Nachtdienst hilft uns dabei, der eingangs geschilderten Komplexität zu begegnen.
Welche Vorteile entstehen für die Bevölkerung, wenn die Spitex auch nachts unterwegs ist?
CK: Angebote während der Nacht ermöglichen es den Menschen, noch länger in ihrem Zuhause zu leben. Ohne Angebot der Nacht-Spitex müssten sie früher in eine stationäre Einrichtung wechseln, vor allem dann, wenn Angehörige nicht einspringen können oder es keine Angehörigen gibt. Übernehmen Angehörige bereits einen wichtigen Teil der Care-Arbeit, so können die Spitex-Organisationen diese entlasten. Mit dem Erbringen von Leistungen auch in der Nacht wird der Grundsatz «ambulant vor stationär» wirklich gelebt. Mit dem Vermeiden oder Verzögern des Heimeintritts werden Kosten eingespart. Zudem erhalten die Menschen mit nächtlichen Spitex-Leistungen die Unterstützung dann, wenn sie sie brauchen – nämlich rund um die Uhr.
TR: Unser Nachtdienst deckt alles ab, auch anspruchsvolle Situationen und Notfälle. Ich sehe den grössten Vorteil eines Nachtangebots darin, dass Klientinnen und Klienten wie bereits erwähnt nach einem Spitalaufenthalt rascher nach Hause können oder auch schwer kranke und sterbende Menschen nicht stationär verlegt werden müssen, sondern meist in ihrem gewohnten Zuhause Abschied nehmen können. Zentral ist allerdings auch die Entlastung von pflegenden Angehörigen, worauf Cornelis schon hingewiesen hat. Als Ökonomin sage ich: Betriebswirtschaftlich gesehen sind die Vollkosten in der Nacht höher als am Tag. So haben unsere Mitarbeitenden zum Teil längere Wegzeiten. Volkswirtschaftlich gesehen jedoch lohnt es sich auf jeden Fall für jede Gemeinde und jeden Kanton, einen vollumfänglichen Nachtdienst aufzubauen: Die stationären Kosten sind um einiges höher als die ambulanten. Jeder Tag, der nicht im Spitalbett oder im Pflegeheim verbracht wird, senkt die Kosten des Gesundheitswesens.
Betriebswirtschaftlich gesehen sind die Vollkosten in der Nacht höher als am Tag. Volkswirtschaftlich gesehen jedoch lohnt es sich auf jeden Fall für jede Gemeinde und jeden Kanton, einen vollumfänglichen Nachtdienst aufzubauen.
Tamara Renner
Co-Geschäftsleiterin Spitex Stadt Luzern
Welche Hürden bestehen beim Auf- und Ausbau eines Nachtangebots?
TR: Grundsätzlich: Wenn es ein Angebot nicht gibt, so übernehmen meiner Erfahrung nach einfach die pflegenden Angehörigen die anstehenden Aufgaben, was früher oder später zu einer Überbelastung führt. Die pflegedürftigen Menschen wiederum wechseln schneller in ein stationäres Setting. Zur Frage: Ich sehe zwei konkrete Hürden. Einerseits kann es auch im Nachtdienst anspruchsvoll sein, geeignetes Personal zu finden. Umso wichtiger ist es, bestehenden oder potenziellen Spitex-Mitarbeitenden die Aufgaben näherzubringen und aufzuzeigen, welche Wirkung diese wertvolle Arbeit erzielt. Die zweite Hürde sehe ich in der Finanzierung. Seitens der Gemeinden und des Kantons braucht es den Willen, in einen Nachtdienst und in ambulante Leistungen zu investieren. Schliesslich übernehmen die Krankenversicherer denselben Tarif, egal ob die Leistung am Tag, am Abend oder in der Nacht erbracht wird. Gemeinden sollten sich zusammenschliessen und einen professionellen Nachtdienst mit einem spezialisierten Palliativpflege-Angebot aufbauen. Dies entlastet das Gesundheitswesen enorm und unterstützt den Menschen in seinem Wunsch, daheim zu leben. Und nicht zuletzt müssen der Kanton und die Gemeinden bereit sein, entsprechende Löhne zu bezahlen, damit mit qualifiziertem Personal eben auch anspruchsvolle und Notsituationen abgedeckt werden können.
CK: Pflegeinterventionen in der Nacht müssen oftmals von gut ausgebildetem Fachpersonal erbracht werden. Dieses zu finden und zu rekrutieren, ist nicht einfach, das sehe ich genau wie Tamara. Mit dem Einsatz der hochqualifizierten Fachpersonen fallen höhere Kosten an, zudem müssen auch die Nachtdienste oder ein Nacht-Pikett-Dienst vollumfänglich finanziert werden. Wer zahlt dies? Eine weitere Hürde sehe ich darin, dass diese Nachtangebote zum Teil noch nicht umfassend bekannt sind und es Menschen vielleicht auch als unangenehm empfinden, wenn nachts eine fremde Person in die eigene Wohnung kommt.
Jede Nacht bis zu 60 Kilometer unterwegs
Die Spitex Stadt Luzern (SSL) hat 1995 als erste Spitex-Organisation der Schweiz ein eigenständiges Nachtdienst-Team gegründet. Dieses ist für die Stadt Luzern, über 15 Agglomerationsgemeinden, die Justizvollzugsanstalt (JVA) Grosshof in Kriens, diverse Anbietende intermediärer und stationärer Dienstleistungen in der Region, die Hirslanden-Klinik in Meggen und das SRK-Notrufsystem tätig. Zudem betreut die SSL bei Bedarf auch Klientinnen und Klienten von Privatspitex-Organisationen. Das Nachtdienst-Team besteht aus fünf Pflegefachpersonen HF sowie sieben Fachpersonen Gesundheit (FaGe) und betreut rund 50 Klientinnen und Klienten. Zwischen 23.15 Uhr und 6.45 Uhr fährt das Team derzeit drei Touren pro Nacht, die vollumfänglich mit Einsätzen belegt sind. Dabei übernimmt eine Pflegefachperson, die ebenfalls die Nachtverantwortung wahrnimmt, eine Tour, die beiden anderen Touren werden jeweils durch eine FaGe bestritten. Die Einsätze reichen von Besuchen bei Demenzkranken, der Hilfe bei der Abendpflege über Stürze oder verschobene Katheter bis zur Betreuung von psychiatrischen Klientinnen und Klienten sowie anspruchsvollen Palliativ-Situationen. Die Mitarbeitenden des Nachtdienst-Teams sind allein und mit dem Auto unterwegs. Ausgerüstet sind sie mit Handy und Tablet oder Laptop, für ihre Sicherheit sorgt ein Tracker. Die Mitarbeitenden leisten pro Nacht rund 30 regulär geplante Einsätze.
Was kann eine Spitex-Organisation tun, um die gesundheitlichen und sozialen Belastungen der Nachtarbeit für die Mitarbeitenden zu minimieren?
TR: Ich möchte vorausschicken, dass alle Mitarbeitenden, die bei uns in der Nacht arbeiten, sich bewusst dafür entschieden haben – sei es, weil es in ihre Familienstruktur oder ihren Alltag passt. Gleichwohl nehmen wir unsere Verantwortung als Arbeitgeberin sehr ernst und auch wahr: Alle Mitarbeitenden des Nachtteams, die über 50 Jahre alt sind, haben jährlich (die unter 50-Jährigen zweijährlich) Anspruch auf eine medizinische Untersuchung sowie eine Zeitgutschrift von 10 Prozent auf die Arbeitszeit, die gemäss Gesetz durch bezahlte Freizeit kompensiert werden muss. Zudem bezahlen wir Zulagen für die Übernahme zusätzlicher Verantwortung und die Arbeit zwischen 20 Uhr und 6 Uhr. Die Mitarbeitenden haben Anrecht auf eine bezahlte Pause von mindestens 45 Minuten pro Nacht. Wir schützen und unterstützen unser Nachtteam weiter mit verschiedenen Sicherheitsmassnahmen, etwa einem Tracker, dessen Knopf sie im Notfall drücken können, sowie einer Schulung in Gefahrenprävention und Sicherheit. Zu guter Letzt arbeiten wir bei Bedarf mit der Polizei zusammen. Mir ist bewusst und ich schätze es sehr, dass unsere Mitarbeitenden sehr flexibel, verantwortungsvoll und selbstständiger unterwegs sind: Sie schauen sehr gut zu sich und auch zueinander, werden bei Fallbesprechungen und der Ausgestaltung des Dienstplanes miteinbezogen und können Zusatzaufgaben übernehmen, wenn sie dies möchten.
CK: Die Schilderungen von Tamara sind eindrücklich und zeigen, wie wichtig es ist, dass der Auf- und Ausbau eines Nachtdienstes gut begleitet wird. Ein Nachtteam muss im Betrieb sichtbar und integriert sein, die Entschädigung muss stimmen. Die Mitarbeitenden müssen sich sicher fühlen. Gerade bei der Spitex, wo man allein unterwegs ist, ist dies zentral, und in der Nacht muss diesem Aspekt noch mehr Beachtung geschenkt werden.
Es ist wichtig, dass der Auf- und Ausbau
eines Nachtdienstes gut begleitet wird.
Ein Nachtteam muss im Betrieb sichtbar
und integriert sein, die Entschädigung
muss stimmen.
Cornelis Kooijman
Co-Geschäftsführer Spitex Schweiz
Welche Vorzüge hat die Nachtarbeit?
CK: Für Mitarbeitende, die die Arbeit in der Nacht schätzen, gern noch selbstständiger unterwegs sind und mehr Verantwortung übernehmen wollen, kann der Nachtdienst besonders interessant und attraktiv sein.
TR: Ich sehe das genau wie Cornelis. Viele der Vorzüge und «Incentives» in unserer Spitex habe ich bereits erwähnt. Besonders hervorheben möchte ich zusätzlich die Abwechslung bei den Einsätzen – keine Nacht ist wie die andere. Da unsere Mitarbeitenden in der Nacht mit dem Auto unterwegs sind, stehen sie weniger im Stau und finden immer einen Parkplatz. Zudem ist die Stimmung über die Seebrücke bei Sonnenaufgang traumhaft! Und nicht zuletzt: Die Arbeit mit den Klientinnen und Klienten in der Nacht ist besonders persönlich, sie sind sehr dankbar und schätzen unseren Dienst sehr.
Alle Mitarbeitenden, die bei uns in der Nacht arbeiten, haben sich bewusst dafür entschieden – sei es, weil es in ihre Familienstruktur oder ihren Alltag passt.
Gleichwohl nehmen wir unsere Verantwortung
als Arbeitgeberin sehr ernst und auch wahr.
Tamara Renner
Co-Geschäftsleiterin Spitex Stadt Luzern
Zur Rechtslage
Spitex-Organisationen profitieren von der Sonderbestimmung, dass sie Nacht- und Sonntagsarbeit laut Bundesgesetz über die Arbeit in Industrie, Gewerbe und Handel (Arbeitsgesetz, ArG) nicht bewilligen lassen müssen: «Spitex-Betriebe können Nacht- und Sonntagsarbeit in vollem Umfang ohne behördliche Bewilligung anordnen, soweit diese notwendig sind, um ihre Dienstleistungen an hilfsbedürftigen Menschen zu Hause zu gewährleisten. Die übrigen arbeitsgesetzlichen Bestimmungen zur Nacht- und Sonntagsarbeit sind aber einzuhalten (ArGV2, Art. 17 Spitex-Betriebe).»
https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/1966/57_57_57/de
https://www.seco.admin.ch/seco/de/home.html