Für mehr Sicherheit bei der Medikation interprofessionell zusammenarbeiten

Das gemeinsame Medikationsmanagement der Spitex und weiterer Leistungserbringer ist besonders fehleranfällig. Das Projekt «doMESTIC RedPIM», an dem auch die Spitex Bern mitwirkt, will darum die Medikationssicherheit durch eine strukturierte interprofessionelle Zusammenarbeit verbessern.

KATHRIN MORF. «Die Qualität des Medikationsmanagements, das von der Verordnung bis zur Einnahme rund 20 Schritte umfasst, muss im gesamten Gesundheitssystem besonders dringend verbessert werden», sagt Prof. Dr. Carla Meyer-Massetti. Die Fachapothekerin für Spitalpharmazie FPH ist Assistenzprofessorin für Klinische Pharmazie an der Universität Bern und bei der Spitex Stadt Luzern für das Fachgebiet Medikation zuständig. «Denn der komplexe Medikationsprozess ist anfällig für Medikationsfehler», ergänzt Anna Maria Peschak, Pflegefachfrau MNSc und Leiterin Qualitätsmanagement bei der Spitex Bern. So betreffen 80 bis 90 Prozent der Meldungen im CIRS-System der Spitex Stadt Luzern und der Spitex Bern die Medikation. Viele Klientinnen und Klienten sind wegen ihres Alters besonders gefährdet für Medikationsprobleme – und weil sie mehrere Medikamente einnehmen (Polypharmazie): Gemäss dem Helsana Arzneimittel-Report 2020 sind es durchschnittlich 16 Medikamente, und in rund 71 Prozent der Fälle ist ein potenziell inadäquates Medikament für geriatrische Patientinnen und Patienten darunter1. Laut der Stiftung Patientensicherheit Schweiz ist eine der zentralen Ursachen für Medikationsprobleme, die hohe Kosten und viel Leid verursachen, die mangelhafte Kommunikation zwischen den Leistungserbringern. Und an diesem Punkt setzt Carla Meyer Massettis Forschung an. Studiendesign: das Projekt doMESTIC RedPIM Das von Carla Meyer-Massetti geleitete Projekt «Reduktion von Polypharmazie und potenziell inadäquater Medikation durch interprofessionelle Zusammenarbeit im Home Care Setting», kurz «doMESTIC RedPIM», befindet sich derzeit im Abschluss. Es ist ein Folgeprojekt von «doMESTIC» und «doMESTIC Risk» und wird vom Fonds Interprofessionalität des Kollegiums für Hausarztmedizin (KHM) finanziert (vgl. «Spitex Magazin» 3/2019; 6/2021). Im Rahmen von doMESTIC RedPIM wird eine interprofessionelle strukturierte Zusammenarbeit getestet, um die Medikationssicherheit zu erhöhen. 14 Berner Apotheken sowie die Spitex Bern wurden hierfür rekrutiert. Die Berner Hausärzteschaft wurde zudem schriftlich gebeten, sich zu beteiligen. Genauer umfasst das Projekt eine Risiko-basierte Medikationsanalyse in folgenden Schritten:

1. Identifikation: Die Spitex oder eine Apotheke identifiziert gefährdete Spitex Klientinnen und -Klienten. In der Studie waren dies Personen ab 64 Jahre, die vier oder mehr verordnete Medikamente einnehmen.
2. Risikoanalyse: Nach der Einverständniserklärung der Klientinnen und Klienten füllen Spitex und Apotheke gemeinsam «doMESTIC RISK» aus, ein Assessmentinstrument für medikationsassoziierte Probleme. Die Spitex beantwortet dabei zum Beispiel Fragen zur Adhärenz/Compliance, also zur Einhaltung der Therapie.
3. Medikationsanalyse: Erreicht eine Klientin oder ein Klient einen Score von mindestens 5 Punkten, erfolgt eine Überprüfung ihrer beziehungsweise seiner Medikation durch eine Pharmazeutin oder einen Pharmazeuten mithilfe der «Checkliste Medikationsanalyse».
4. Priorisierung potenzieller Medikationsprobleme: Die Pharmazeutin oder der Pharmazeut nimmt eine Priorisierung der potenziellen Medikationsprobleme vor, bei Bedarf in Absprache mit der Spitex.
5. Interprofessionelle Kommunikation: Die Pharmazeutin oder der Pharmazeut übermittelt Fragen zu den priorisierten potenziellen Problemen samt Interventionsvorschlägen mit einem standardisierten digitalen Formular an die Hausärztin oder den Hausarzt. Diese(r) antwortet mit demselben Formular und sendet allenfalls eine neue Verordnung mit.
6. Validierte Medikationsliste: Allfällige Änderungen in der Medikation werden in der gemeinsamen Medikationsliste eingetragen und die Therapie wird angepasst.

Eine Pharmazeutin analysiert die Medikation eines Kunden, hier mithilfe des eMediplans.
Bild: IG eMediplan

Ergebnisse: 120 potenzielle Probleme identifiziert
Das Projekt hat bisher zu folgenden Ergebnissen geführt:
• 264 von 436 Klientinnen und Klienten der Spitex Bern wären für eine Medikationsanalyse qualifiziert gewesen. Rekrutiert werden konnten 106.
• Die Spitex bearbeitete 106 Risikoabklärungen, die Apotheken deren 76. Die Gründe für die 40 nicht weiterverarbeiteten Analysen waren laut Carla Meyer-Massetti meist nachvollziehbar; zum Beispiel hätten den Apotheken oft notwendige Informationen wie eine Diagnoseliste gefehlt.
• 120 potenzielle medikationsassoziierte Probleme wurden entdeckt, wobei drohende Kontraindikationen mit 27 Fällen am häufigsten waren. «Dieses Ausmass habe ich erwartet», sagt Prof. Dr. Sven Streit. Er ist Hausarzt in Konolfingen BE, Leiter Interprofessionelle Grundversorgung am Berner Institut für Hausarztmedizin (BIHAM) und Mitglied der eidgenössischen Qualitätskommission (EQK). «Denn Informationen zu Medikamenten bleiben oft hängen. Zudem haben viele Medikamente Wechselwirkungen – oft zeigt sich im Rahmen der Analyse aber, dass es keine bessere Alternative gibt.»
• Die Apotheken formulierten 64 Interventionsvorschläge, am häufigsten eine Dosisreduktion (17-mal). 46 Vorschläge wurden an die Hausärzteschaft übermittelt, um diese nicht zu «überschwemmen». Je 2 Prozent der 46 Vorschläge waren mit hoher oder mittlerer Dringlichkeit ausgewiesen, 96 Prozent mit niedriger. «Die meist fehlende Dringlichkeit spricht wiederum für das bestehende System», sagt Sven Streit.
• Die Apotheken erhielten in 45 Prozent der Fälle eine Antwort. «Viele Hausärztinnen und Hausärzte haben kaum Ressourcen für Studien. 45 Prozent ist erfahrungsgemäss eine sehr gute Rücklaufquote», betont Sven Streit. «Es dürfte aber auch noch Ärztinnen und Ärzte geben, welche das Hinterfragen ihrer Arbeit ablehnen. Alle Ärztinnen und Ärzte sollten begreifen, dass sie für bestmögliche Medikationen auf ihre Patientinnen und Patienten genauso angewiesen sind wie auf ihre Partnerinnen und Partner im Gesundheitswesen.»
• Glücklicherweise sei ein Wandel zu einer Kultur des interprofessionellen Austausches in vollem Gang, fügt Sven Streit an. Dies zeige sich an der hohen Quote an akzeptierten Interventionsvorschlägen: 26 der 46 Vorschläge wurden von den Hausärztinnen und Hausärzten akzeptiert, also 57 Prozent. Besonders gut akzeptiert wurden generische Substitutionen (8) sowie Dosisreduktionen (7). 13 zusätzliche Interventionen konnten von den Apotheken selbstständig umgesetzt werden.

Glücklicherweise ist ein Wandel zu einer Kultur des inter-
professionellen Austausches in vollem Gang.

Sven Streit

Leiter Interprofessionelle Grundversorgung am Berner Institut für Hausarztmedizin

Stolpersteine für das Funktionieren des Systems
Carla Meyer-Massetti empfiehlt, mindestens alle zwölf Monate eine solche Medikationsanalyse durchzuführen. «Ich glaube, dass das getestete System gut ist. In der Studie hat es aber nicht optimal funktioniert», räumt sie ein. Ein Fehler der Forschenden selbst sei gewesen, dass sie nicht alle Beteiligten gleichermassen ins Boot holen konnten. Am Projekt liessen sich aber auch «exemplarisch einige Probleme aufzeigen, welche der interprofessionellen Zusammenarbeit im Gesundheitswesen generell im Weg stehen». Dazu gehörten:

• Fehlende Bereitschaft der Klientinnen und Klienten: «Viele unserer Klientinnen und Klienten willigten nicht in die Analyse ein, weil sie diese als unnötig empfanden», berichtet Anna Maria Peschak. «Wir müssen dafür sorgen, dass alle Menschen den Mehrwert einer Medikationsanalyse erkennen und auch auf das Fachwissen der Apotheken vertrauen», ergänzt Carla Meyer-Massetti.
• Keine einheitlichen Informationen: Für eine fundierte interprofessionelle Diskussion müssten alle Involvierten über eine vollständige Medikationsund Diagnoseliste verfügen – darin sind sich die drei Interviewten einig. «Im Projekt war dies aber vor allem aufseiten der Apotheken oft nicht der Fall», sagt Carla Meyer-Massetti. Die Interviewten hoffen, dass der interprofessionelle Informationsaustausch dereinst durch das elektronische Patientendossier (EPD) erleichtert wird. Bereits heute könne der eMediplan2 zumindest zu einer übersichtlichen und einheitlichen Medikationsliste beitragen.
• Inkompatible IT-Systeme: «Zwar wurden in den letzten Jahren grosse Fortschritte im digitalen Erfassen und Austausch von Gesundheitsdaten gemacht. Aber noch erschweren die inkompatiblen Systeme unsere Zusammenarbeit erheblich, zum Beispiel beim Einlesen des eMediplans», kritisiert Sven Streit, selbst Mitglied der IG eMediplan. Die Politik müsse dafür sorgen, dass die Systeme endlich kompatibel sind. «In der Regel werden Therapieverordnungen via HIN-Mail kommuniziert und müssen in die jeweilige Patientendokumentation übertragen oder zumindest hinterlegt werden. Das ist für alle Beteiligten aufwendig», bestätigt Anna Maria Peschak.
• Fehlende Ressourcen: «Wir haben oft gehört, dass unser System super sei – dass man aber die personellen beziehungsweise zeitlichen Ressourcen dafür nicht habe», berichtet Carla Meyer-Massetti. Die Covid-19-Pandemie habe diese Ausgangslage zusätzlich verschlimmert. Auch eine Umfrage der Forschenden bei der Spitex Bern zeigte: Viele Pflegefachpersonen würden das Risiko-Tool nur dann in ihrem Berufsalltag verwenden, wenn zusätzliche zeitliche Ressourcen dafür vorhanden wären.
• Fehlende Finanzierung: Im Rahmen von doMESTIC RedPIM erhielt die Spitex Bern zum Beispiel 30 Franken für jedes ausgefüllte Risikotool. Die drei Interviewten sind sich einig: Damit das System breit eingeführt werden kann, muss auch die angemessene Entschädigung der Zusatzaufwände für alle Leistungserbringer gesichert sein.
• Fehlende Verbindlichkeiten: «Würde eine regelmässige Medikationsanalyse zum Beispiel in die Qualitätsverträge verschiedener Leistungserbringer aufgenommen, könnte dies die teilweise mangelhafte Mitwirkung verbessern», sagt Carla Meyer-Massetti.
• Falsche Einstellung: «Für eine nachhaltige Qualitätsentwicklung reichen Vorgaben aber nicht aus», fügt die Wissenschaftlerin an. «Es braucht in jeder Organisation auch Fachpersonen, welche die integrierte Versorgung leben.» Mancherorts fehle hierfür aber die positive Einstellung in Bezug auf solche Kooperationen. «Noch finde der Austausch verschiedener Leistungserbringer auf Augenhöhe zu selten statt», bestätigt Anna Maria Peschak.

Am Projekt lassen sich exemplarisch einige Probleme aufzeigen, welche der interprofessionellen Zusammenarbeit generell im Weg stehen.

CARLA MEYER-MASSETTI

Fachapothekerin Spitex Stadt Luzern

Weitere Bereiche: Informationsfluss bei der Zuweisung und Medikamente richten
Das Projekt doMESTIC RedPIM fokussiert auf einen Teil des Medikationsprozesses. «Dieser Prozess müsste aber insgesamt verbessert werden», stellt Anna Maria Peschak klar. An dieser Stelle soll in Kürze auf zwei weitere Bereiche eingegangen werden, welche die Spitex spezifisch herausfordern: «Das 4-Augen-Prinzip beim Richten von Medikamenten wird als nötige Massnahme zur Qualitätssicherung betrachtet. Diese Kontrolle durch zwei Pflegefachpersonen müsste darum immer verrechnet werden dürfen», umreisst Anna Maria Peschak den ersten Bereich. «Zudem könnten die Apotheken viele Medikamente für die Spitex professionell und effizient verblistern, wenn die Spitex dies möchte. Und wenn die Finanzierung dieser Dienstleistung durch eine Änderung des Tarifierungssystems gesichert wird», fügt Carla Meyer-Massetti an.

Der Medikationsprozess müsste insgesamt verbessert werden.

ANNA MARIA PESCHAK

Leiterin Qualitätsmanagement Spitex Bern

Der zweite Bereich ist der Informationsfluss zwischen den Zuweisern und der Spitex. «Beginnt die Spitex (wieder) mit der Versorgung einer Klientin oder eines Klienten, müssen ihr Verordnungen rechtzeitig und vollständig vorliegen», sagt Anna Maria Peschak. Dies, um die lückenlose Fortsetzung der medikamentösen Therapie garantieren zu können – und manchmal auch, um für die Verfügbarkeit der Medikamente zu sorgen. «Unsere Klientinnen und Klienten können die verordneten Medikamente nicht immer selbst organisieren», erklärt sie. Eine Untersuchung von Carla Meyer-Massetti in Luzern zeigte 2018, dass in rund 17 Prozent der ersten Spitex-Einsätze nach einem Spitalaustritt nicht alle Medikamente vorhanden waren. Und in 39 Prozent war die Medikation zumindest teilweise unklar. «Die Spitex klärt diese Probleme. Aber eigentlich wird sie nicht dafür bezahlt, Medikationslisten und Medikamenten hinterherzurennen», betont die Forscherin. «Ideal wäre darum, wenn die Spitäler, die Hausärzteschaft und die Apotheken sicherstellten, dass die Spitex die nötigen Medikationslisten erhält. Und wenn Leistungserbringer, die Medikamente verordnen, auch die Verfügbarkeit dieser Medikamente für ihre Patientinnen und Patienten sicherstellten.»

Abschliessend fügt Carla Meyer-Massetti an, dass es nie eine einheitliche Patentlösung für ein gelungenes Medikationsmanagement geben dürfte: «Die Leistungserbringer müssen die regionalen Gegebenheiten und Vorgaben betrachten, um jeweils zu eruieren, welche Lösung für sie Sinn macht», sagt sie.

Die Hilfsmittel, die im Rahmen der doMESTIC-Projekte erarbeitet wurden, werden derzeit optimiert und daraufhin kostenlos online zur Verfügung gestellt. Bereits jetzt erteilt Carla Meyer-Massetti Interessierten gerne Auskunft: carla.meyer-massetti@biham.unibe.ch.

1 Potenziell inadäquate Medikamente für geriatrische Patientinnen und Patienten können gemäss Beers und/oder der Priscus-Liste identifiziert werden.

2 Der eMediplan listet alle Medikamente auf, die ein Patient oder eine Patientin einnimmt. Auch Fotos der Medikamente sowie Informationen zur Dosierung, Einnahme, zum zuständigen Arzt oder auch zu Allergien und Niereninsuffizienzen sind enthalten
(vgl. www.eMediplan.ch, «Spitex Magazin» 3/2022).

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