«Es gibt einen Zusammenhang zwischen dem psychologischen Sicherheitsgefühl und der Prävention von Gewalt»

Für die Spitex ist ein vorausschauender Umgang mit Aggressionen und Gewalt am Arbeitsplatz eine wichtige Voraussetzung für die Sicherheit der Mitarbeitenden. Im Interview zeigen Rafaël Weissbrodt und Filipa Pereira von der Hochschule für Gesundheit Wallis (HES-SO), wie Arbeitgebende dieses Thema konkret angehen können.

Peer-Support-Gruppen unterstützen die Mitarbeitenden dabei, nach einem Vorfall ein Gefühl der Solidarität innerhalb des Teams zu entwickeln. Bild: Getty Images

Spitex-Mitarbeitende sind bei ihrer Arbeit zahlreichen Risiken ausgesetzt, so etwa verbalen oder körperlichen Angriffen. Diese können Auswirkungen auf die physische und psychische Gesundheit haben und intensive Gefühle wie Wut, Traurigkeit oder Schuldgefühle auslösen. Im schlimmsten Fall entwickeln sie sich zu einer posttraumatischen Belastungsstörung. Zudem wirken sich Gewaltvorfälle nicht nur auf die direkt angegriffenen Mitarbeitenden aus, sondern auch auf ihre Kolleginnen und Kollegen und mögliche weitere Anwesende. Für Spitex-Organisationen ist es daher zentral, dass sie vorausschauende Massnahmen zum Umgang mit und zur Prävention solcher Ereignisse treffen, halten Prof. Dr. Filipa Pereira, promovierte Pflegewissenschaftlerin, und Prof. Dr. Rafaël Weissbrodt, Arbeitspsychologe, promovierter Politologe und Fachmann für Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz, der Hochschule für Gesundheit Wallis (HES-SO) im Interview fest.

Spitex Magazin: Der Umgang mit Aggressionen rückte im Bereich Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz in den vergangenen 20 Jahren
immer mehr ins Zentrum. Wie wichtig ist das Thema im Gesundheitswesen?

RAFAËL WEISSBRODT (RW): Ich habe den Eindruck, dass die Prävention von Aggressionen, verglichen etwa mit der Prävention von Unfällen oder Rückenschmerzen, aktuell im Bereich Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz weniger sichtbar ist. Im Gesundheitswesen stellt Gewalt jedoch ein hohes Risiko dar – sowohl in Bezug auf die Häufigkeit als auch auf die potenzielle Schwere.

Die physische und psychische Gesundheit von Klientinnen und
Klienten beeinflusst die Wahrscheinlichkeit von Aggressionen erheblich.

PROF. DR. FILIPA PEREIRA

Hochschule für Gesundheit Wallis (HES-SO)

Welches sind die häufigsten Formen von Übergriffen auf das Spitex-Personal?
FILIPA PEREIRA (FP): Verschiedene Studien zeigen, dass verbaler Missbrauch am häufigsten vorkommt und in etwa 50 Prozent der Fälle gemeldet wird (Balkaran et al., 2024). Dazu gehören Anschreien, rassistische Beleidigungen und Drohungen. Der Anteil der Spitex-Mitarbeitenden, die von körperlichen Angriffen wie Spucken, Ohrfeigen oder Schlägen betroffen sind, variiert je nach Studie zwischen 2,5 und 44 Prozent (Balkaran et al., 2024; Phoo & Reid, 2022). Sexuelle Belästigung wird von 14 Prozent der Beschäftigten erwähnt, sie äussert sich in unerwünschten sexuellen Kommentaren oder Berührungen und sexuellen Übergriffen. Auch andere Formen von Aggression werden erwähnt, etwa Angriffe durch Haustiere.

Nehmen diese Formen von Aggressionen zu oder ab?
FP: Studien zeigen, dass die Zahl der Veröffentlichungen zu Aggressionen gegenüber Spitex-Mitarbeitenden deutlich gestiegen ist, was darauf hindeuten kann, dass das entsprechende Bewusstsein zugenommen hat (Balkaran et al., 2024). Allerdings bedeutet die Zunahme nicht zwangsläufig, dass auch die Aggressionen selbst zugenommen haben. Grundsätzlich ist es so, dass das Umfeld für die Spitex-Mitarbeitenden heute komplexer ist als früher. Diese Entwicklungen führen zu schwierigeren Pflegesituationen und können das Risiko für Aggressionen erhöhen.

Ein Unternehmen, das den
Menschen in den Mittelpunkt stellt, ist meiner Meinung nach besser auf den Umgang mit Gewalt
vorbereitet.

PROF. dr. RAFAËL WEISSBRODT

Hochschule für Gesundheit Wallis (HES-SO)

Was sind die Hauptursachen für aggressives Verhalten gegenüber Spitex-Mitarbeitenden?
RW: Je mehr für den Klienten oder die Klientin auf dem Spiel steht, desto eher ist damit zu rechnen, dass sie oder er ihre respektive seine Interessen verteidigt – möglicherweise auf aggressive Weise. Je nachdem kann die Person selbst ihre Handlung als gerechtfertigte Reaktion auf die Gewalt verstehen, die sie ihrer Meinung nach von Seiten der Fachkräfte erfahren hat. Dies ist insbesondere dann der Fall, in denen das Personal zum Beispiel sehr bestimmt auftritt.

FP: Eine kürzlich erschienene systematische Übersicht identifiziert mehrere Schlüsseldeterminanten für Gewalt gegen Spitex-Mitarbeitende, die in drei Gruppen eingeteilt werden: klientenbezogene Faktoren, Faktoren in Bezug auf die Mitarbeitenden und solche, die sich auf die Pflegeorganisation beziehen (Phoo & Reid, 2022). Dabei spielen die klientenbezogenen Faktoren eine zentrale Rolle. Menschen mit neurokognitiven Störungen wie Alzheimer zeigen häufig Verhaltensweisen, die als aggressiv empfunden werden. Diese sind meist auf die Verschlechterung der kognitiven Funktionen und die Unfähigkeit, Bedürfnisse oder Frustrationen angemessen auszudrücken, zurückzuführen und erhöhen das Risiko einer Konfrontation. Die Verhaltensweisen sind jedoch häufig eher defensiv als aggressiv: Es handelt sich um Schutzmechanismen gegen Reize, die als bedrohlich empfunden werden – selbst wenn die Bedrohung nur eingebildet oder durch Verwirrung verzerrt ist. So kann etwa eine Person, die an Alzheimer erkrankt ist, in einem Zustand der Angst oder Verwirrung eine Mitarbeiterin oder einen Mitarbeiter abwehren oder sich zurückziehen, wenn sie eine Situation nicht versteht oder eine Bedrohung wahrnimmt. Dieses Verhalten ist ein ­Versuch, sich zu schützen und ist kein Zeichen von Böswilligkeit. Weiter erhöhen auch ein problematischer Substanzkonsum und eine eingeschränkte Mobilität das Risiko von Gewalt. Die physische und psychische Gesundheit der Klientinnen und Klienten beeinflusst also die Wahrscheinlichkeit von Aggres­sionen erheblich.

Sind bestimmte Mitarbeitende gefährdeter als andere?
RW: Es wäre zu einfach, einen Übergriff lediglich mit dem unangemessenen Verhalten des Opfers oder einem bestimmten Persönlichkeitsmerkmal erklären zu wollen, ohne dabei den Kontext zu berücksichtigen. Leider werden Gesundheitsprobleme am Arbeitsplatz allzu oft auf vermeintliche persönliche Schwachstellen zurückgeführt. Natürlich können individuelle Merkmale eine Rolle spielen: Bestimmte anspruchsvolle Arbeitssituationen setzen besondere Skills voraus, insbesondere ­soziale Fähigkeiten. Wenn man sich jedoch mit einer solchen Erklärung zufriedengibt, werden die tieferliegenden Gründe für Aggressionen ausser Acht gelassen: So tragen etwa die Arbeitsorganisation oder mangelnde Unterstützung durch die Vorgesetzten ebenfalls zur Entstehung von Aggressionen bei.

FP: Untersuchungen zeigen, dass weniger erfahrene und jüngere Mitarbeitende möglicherweise anfälliger für Gewalt sind, da sie noch weniger Erfahrungen im Umgang mit schwierigen Situationen oder potenziellen Risiken haben, die mit bestimmten Klientinnen und Klienten verbunden sind (Phoo & Reid, 2022). Das Geschlecht der Pflegekräfte ist gemäss fünf unterschiedlichen Studien, in denen dessen Zusammenhang mit jeglicher Form von Gewalt untersucht wurde, statistisch nicht eindeutig (Phoo & Reid, 2022). Die Art der Beziehung zwischen den Mitarbeitenden und der Klientin, dem Klienten ist von entscheidender Bedeutung. Pflegende, die eine sehr enge oder sehr unpersönliche Beziehung zu ihren Klientinnen und Klienten haben, sind einem höheren Gewaltrisiko ausgesetzt: Eine zu geringe Vertrautheit kann zu Missverständnissen führen, während eine zu grosse Vertrautheit zu Abgrenzungsproblemen führen kann. Darüber hinaus scheint das Gewaltrisiko höher zu sein, wenn zwischen den Mitarbeitenden und den Klientinnen und Klienten Sprachbarrieren bestehen (Phoo & Reid, 2022).

Welche Massnahmen sollten Spitex-Organisa­tionen ergreifen, um die physische Sicherheit ihrer Mitarbeitenden zu gewährleisten?
RW: Es gibt drei Hauptkategorien von Präventionsmassnahmen: organisatorische, technische sowie Ausbildungs- und Informationsmassnahmen (Perriard & Weissbrodt, 2002). Organisatorische Massnahmen zielen beispielsweise darauf ab, die Arbeitsprozesse so zu gestalten, dass Unzufriedenheit der Klientinnen und Klienten vermieden wird. Weiter können solche Massnahmen dabei helfen, den Mitarbeitenden genügend Handlungsspielraum zu geben, um auf die Anliegen der Klientinnen und Klienten sowie auf Unvorhergesehenes reagieren zu können oder die (interprofessionellen) Kommunikationsprozesse zu verbessern. Zu den technischen Massnahmen gehören auch die Gestaltung der Arbeitsräume oder Warnsysteme für den Fall eines Übergriffs.

FP: Sinnvoll sind zudem Schulungsprogramme zur Erkennung und Bewältigung von potenziell gewalttätigen Situationen, Sicherheitsprotokolle für Einsätze, einschliesslich einer Risikobewertung für bestimmte Klienten und Klientinnen. Helfen können weiter Systeme, in denen die Mitarbeitenden Bedenken oder Gewaltvorfälle melden können, Hausbesuche zu zweit, insbesondere bei Klienten und Klientinnen, die für ihr aggressives Verhalten bekannt sind, oder schliesslich Notfallpläne, die beschreiben, welche Massnahmen das Personal ergreifen muss, wenn es sich bedroht fühlt (Phoo & Reid, 2022). Und abschliessend ist es wichtig, dass sich die Mitarbeitenden aus gefährlichen Situationen entfernen können und keine Angst haben müssen, ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Gleichzeitig müssen dann Massnahmen greifen, die dafür sorgen, dass die Pflegeeinsätze fortgesetzt werden (Hanson et al., 2015).

Welche Rolle kommt der Führung bei der Bewältigung von Übergriffen zu?
RW: Die Führung sollte der Person, die einen Übergriff erlebt hat, ihre Anteilnahme zeigen. Bereits im Vorfeld sollten entsprechende Prozesse zur Unterstützung und Bewältigung eingerichtet werden, damit bei einem Vorfall keine Zeit verloren geht. Wichtig ist zudem, dass die Geschäftsleitung klar zum Vorfall und der Gewalt am Arbeitsplatz Stellung bezieht. Oft wird über die betroffene Person auch das Unternehmen angegriffen, und es ist daher in erster Linie dessen Aufgabe, zu reagieren. Die Unterstützung durch das Team ist ebenfalls enorm zentral: Die Kolleginnen und Kollegen sollten der angegriffenen Person das Gefühl vermitteln, dass sie nichts falsch gemacht hat, sondern dass es sich um ein Berufsrisiko handelt, dem alle ausgesetzt sind.

FP: Organisationen sollten klare Richtlinien für den Umgang mit Übergriffen einführen, dazu gehören Protokolle für die Meldung von Übergriffen und Folgemassnahmen. Es ist enorm wichtig, sofort psychologische Unterstützung mit Zugang zu psychologischen Fachkräften anzubieten mit der Möglichkeit, nach dem Vorfall an einem konstruktiven, nicht wertenden Debriefing teilzunehmen. Dieses hilft dabei, das Geschehene besser zu verstehen, daraus zu lernen und Präventivmassnahmen einzuschätzen. Weiterbildungen zu Gewaltprävention, Stressbewältigung und Deeskalationstechniken sind ebenfalls entscheidend. Die Einrichtung von Peer-Support-Gruppen ermöglicht es den Mitarbeitenden, ihre Erfahrungen auszutauschen, Feedback zu ihrem Verhalten zu erhalten und ein Gefühl der Solidarität innerhalb des Teams zu entwickeln. Darüber hinaus ist Unterstützung bei der administrativen und rechtlichen Nachbearbeitung hilfreich. Weiter kann es sinnvoll sein, eine Risikobeurteilung vorzunehmen und Massnahmen anzupassen, um weitere gewalttätige Situationen zu vermeiden.

Eine Frage zum Schluss: Inwiefern spielt die Unternehmenskultur eine Rolle bei der Prävention von Aggressionen?
RW: Die Unternehmenskultur spielt eine wichtige Rolle. Ein Betriebsklima, in dem sich alle trauen, sich mitzuteilen, eigene Sorgen zu kommunizieren und Vorschläge zur Verbesserung der Arbeit zu machen, kann Aggressionen vorbeugen. Ich bin der Meinung, dass zwischen dem psychologischen Sicherheitsgefühl und der Gewaltprävention ein Zusammenhang besteht. Ein Unternehmen, das den Menschen ins Zentrum stellt, seien es die Klientinnen und Klienten oder die Mitarbeitenden, ist meiner Meinung nach besser auf den Umgang mit Gewalt vorbereitet und wahrscheinlich auch weniger gefährdet.

INTERVIEW: FLORA GUÉRY

Literatur
Balkaran, K., Linton, J., Doupe, M., Roger, K., & Kelly, C. (2024). Research on Abuse in Home Care: A Scoping Review.
Trauma, Violence & Abuse, 25(2), 885–897.
https://doi.org/10.1177/15248380231165922

Hanson, G. C., Perrin, N. A., Moss, H., Laharnar, N., & Glass,
N. (2015). Workplace violence against homecare workers and its relationship with workers health outcomes: A cross-sectional study. BMC Public Health, 15(1), 11.
https://doi.org/10.1186/s12889-014-1340-7

Perriard, J., & Weissbrodt, R. (2002). La violence au travail. OCIRT

Phoo, N. N. N., & Reid, A. (2022). Determinants of violence towards care workers working in the home setting: A systematic review. American Journal of Industrial Medicine, 65(6), 447–467. https://doi.org/10.1002/ajim.23351

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