Damit der Teppich nicht zur tödlichen Gefahr wird

Sturzunfälle verursachen viel persönliches Leid. In besonders schweren Fällen führen sie sogar zum Tod. Nicht selten liegt die Ursache in der unglücklichen Verkettung verschiedener Faktoren. Die gute Nachricht: Viele Spitex-Organisationen tragen bereits heute massgeblich dazu bei, dass das Leben ihrer Klientinnen und Klienten in den eigenen vier Wänden sicherer wird – und manchmal reichen bereits kleine Veränderungen im Alltag.

Silja von Känel (rechts) von den SPITEX-Diensten RUTU berät Maria Ruesch rund um Sturzgefahren. Bild: Michel Lüthti / www.bilderwerft.ch

EVA ZWAHLEN. Zum Tagesabschluss noch kurz die Nachrichten schauen. Das Schlafmittel und ein Glas Wasser stehen bereit. Die paar Schritte ins Schlafzimmer sind normalerweise kein Problem. Wäre da nicht die aufgerollte Teppichkante, die plötzlich zur Stolperfalle und anschliessenden Sturzgefahr wird. Ein bekanntes Szenario – mit unter Umständen schwerwiegenden Folgen für die Betroffenen und die öffentliche Gesundheit.

Diese Faktoren führen zu Stürzen
Jedes Jahr verletzen sich laut der Beratungsstelle für Unfallverhütung (BFU) rund 90 000 ältere Erwachsene bei Stürzen so schwer, dass sie ärztliche Behandlung benötigen oder ins Spital müssen. Und jährlich sterben sogar über 1600 Menschen über 65 Jahren an den Folgen eines Sturzunfalls. Nebst persönlichem Leid verursachen diese Sturzunfälle jährliche Kosten in Milliardenhöhe.1 Die Gründe, die zu diesen Stürzen führen, lassen sich laut Esther Bättig, Pflegefachfrau MScN und wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Spitex Schweiz, in die drei Kategorien körperliche Faktoren, Umgebungsfaktoren sowie psychische Faktoren einteilen. «Oft verstärken sie sich allerdings auch gegenseitig», führt sie weiter aus. «Alleine kocht man vielleicht nicht mehr so ausgewogen, es entstehen Mängel in der Ernährung, man wird schwächer. Mit zunehmendem Alter nimmt die Gefahr der Fragilität zu. Wenn dann jemand stürzt, so kann dies zu einschneidenden Konsequenzen führen.» Laut BFU sind lange Spitalaufenthalte, Einschränkungen in der Mobilität, Verlust der Selbstständigkeit oder ein frühzeitiger Eintritt in eine Pflegeeinrichtung Folgen dieser Stürze. 

Besonders gefährdet: chronisch kranke und multimorbide Menschen
Chronisch kranke, insbesondere multimorbide Menschen haben gemäss Gesundheitsförderung Schweiz (GFCH) ein erhöhtes Sturzrisiko.2 Aber auch jüngere Menschen könnten aufgrund der Verkettung verschiedener Umstände – etwa psychische Probleme mit sozialer Isolation und Rückzug – folgenschwer stürzen, betont Esther Bättig. Laut BFU sind 39 Prozent aller tödlichen Sturzverletzungen bei über 65-Jährigen Kopfverletzungen, bei den 65- bis 74-Jährigen führen in beinahe zwei von drei Fällen Kopfverletzungen zum Tod nach einem Sturz. 

Esther Bättig ergänzt: «Gefährlich ist auch das sogenannte ‹Liegetrauma›, wenn also jemand mehrere Stunden am Boden liegenbleibt. Die Immobilität auf dem harten Boden und die körperlichen Druckstellen, zum Beispiel in Kombination mit Blutverdünnern, können Einblutungen oder Organschäden zur Folge haben und so ebenfalls zum Tod führen», erklärt sie weiter.

Ein lebensweltlicher Zugang zu den Klientinnen und Klienten denkt immer sowohl die Verhaltens-
als auch die Verhältnis-prävention mit.

Esther Bättig

Wissenschaftliche Mitarbeiterin Spitex Schweiz

«StoppSturz» als Leuchtturmprojekt
Um die folgenschweren Sturzunfälle zu verhindern und die Sturzprävention für Personen über 65 Jahren systematisch in der Gesundheitsversorgung zu verankern, wurde von 2019 bis 2022 in den Pilotkantonen St. Gallen, Bern, Graubünden, Jura und Zürich das interprofessionelle Projekt «StoppSturz» durchgeführt.3 Esther Bättig nennt es ein «Leuchtturmprojekt»: «Sturz betrifft nie nur eine Profession. Zwar wurden im Rahmen von StoppSturz setting- und berufsspezifische Hilfsmittel entwickelt. Diese waren allerdings gut aufeinander abgestimmt. Zudem wurden bestehende Systeme bei der Spitex, beispielsweise das Bedarfsabklärungsinstrument interRAI HC, miteinbezogen.» 

Bei derart hohen Unfallzahlen sei es unverzichtbar, das Thema breit und fundiert anzupacken, ergänzt Ursula Meier Köhler, Beraterin Haus und Freizeit sowie Fachspezialistin für Sturzprävention bei der BFU. Die BFU hat StoppSturz nach der Projektphase von GFCH übernommen. «Ein Sturz im Alter hat Auswirkungen auf die Gesundheit, die Selbstständigkeit und die soziale Teilhabe. Da das Gesundheitssystem föderal organisiert ist, ist es überdies wichtig, dass ein nationales Projekt kantonale und regionale Unterschiede berücksichtigt», führt sie weiter aus. 

Prävention und Mobilitätstraining führen zu sichtbaren Veränderungen. Wir versuchen, diese wichtigen Aufgaben nachhaltig in die Spitex-Arbeit zu integrieren.

Monika Thüler

Geschäftsführerin SPITEX-Dienste RUTU (rechtes, unteres Thunerseeufer)

Finanzierung als wichtige Voraussetzung
Für Esther Bättig dient StoppSturz als idealtypische Vorlage dafür, wie ähnliche Präventionsvorhaben bei der Spitex – gemeinsam mit anderen Akteuren – durchgeführt werden könnten. «Ein gutes Beispiel, wie interprofessionelle Zusammenarbeit aussehen kann», ist sie überzeugt und sagt weiter: «Auch bei anderen Themen, etwa Einsamkeit, könnte so erfolgreich interprofessionell vorgegangen werden – unter der Voraussetzung, dass die Finanzierung garantiert ist.» Letztere wiederum ist beim Thema Sturzprävention sichergestellt: Die Krankenpflege-Leistungsverordnung (KLV) erlaubt – eine gute Pflegeplanung vorausgesetzt – die Abrechnung von sturzpräventiven Massnahmen. Wichtig sei allerdings, so Esther Bättig, dass Fortschritte und der Verlauf gut dokumentiert würden und die Wirksamkeit gegeben sei. 

Befähigen – nicht drohen
Dank Früherkennung und mit gezielten Präventionsmassnahmen gegen Stürze kann die Spitex älteren und chronisch kranken Menschen ermöglichen, länger selbstständig im eigenen Zuhause zu leben. Damit diese Massnahmen Erfolg haben, müssen laut Esther Bättig verschiedene Voraussetzungen erfüllt sein. Im Zentrum stehe die sogenannte «informierte Entscheidung» der Klientinnen und Klienten, sagt die Pflegeexpertin, und illustriert es an einem Beispiel: «Ich schaue mir immer zuerst die Rahmenbedingungen in der Wohnung an. Muss beispielsweise eine Glühbirne für eine bessere Beleuchtung ausgetauscht werden, so kläre ich auf, dass schlechte Lichtverhältnisse eine Sturzgefahr bedeuten.» Letzten Endes würden allerdings die Klientin oder der Klient und deren Angehörige entscheiden, ob sie für bessere Lichtverhältnisse sorgen wollen «und diese Entscheidung gilt es zu akzeptieren». Ein lebensweltlicher Zugang zu den Klientinnen und Klienten denke immer sowohl die Verhaltens- als auch die Verhältnisprävention mit.4 Eine weitere zentrale Grundlage für wirksame Prävention seien der Beziehungsaufbau und die Kommunikation: «Beides sind wichtige Aufgaben der fallführenden Pflegefachperson. Wir wollen die Menschen befähigen und nicht drohen», erläutert Esther Bättig die Herangehensweise. 

Ein Sturz im Alter hat Auswirkungen auf die Gesundheit, die Selbstständigkeit und die soziale Teilhabe.

Ursula Meier Köhler

Fachspezialistin für Sturzprävention, Beratungsstelle für Unfallverhütung (BFU)

Nachhaltige Verankerung
Damit sturzpräventive Massnahmen im Rahmen von StoppSturz ihre Wirkung entfalten können, ist es wichtig, diese bei der Spitex nachhaltig zu verankern. ­BFU-Beraterin Ursula Meier Köhler schätzt diese Nachhaltigkeit – trotz Herausforderungen, wie Ressourcenknappheit – als zukunftsorientiert ein: «Dank der Zusammenarbeit mit der BFU, den Fachverbänden der Gesundheitsversorgung und mit Gesundheitsförderung Schweiz konnten bereits viele Spitex-Betriebe das strukturierte Vorgehen von StoppSturz übernehmen und fest in ihren Prozessen etablieren.» 

Verschiedene Elemente unterstützten die Organisationen, so Ursula Meier Köhler: So stehe die Website www.bfu.ch/stoppsturz allen Fachpersonen der Gesundheitsversorgung in drei Sprachen zur Verfügung. Zudem sei eine systematische Schulung der Mitarbeitenden, etwa über das E-Learning-Tool, einfach umsetzbar. Und schliesslich entwickle die BFU auch weitere Produkte zur Sturzprävention: «Mit der digitalen Checkliste ‹Wohnraumabklärung› 5 wollen wir die praktische Arbeit erleichtern und gleichzeitig einem hohen fachlichen Standard gerecht werden», sagt die BFU-Beraterin.

Die Sturzprävention als Teil der Bedarfsabklärung der SPITEX-Dienste RUTU
Dass Präventionsmassnahmen mess- und sichtbare Veränderungen bringen, davon ist auch Monika Thüler, Geschäftsführerin der SPITEX-Dienste RUTU (rechtes, unteres Thunerseeufer; BE), überzeugt. Die Organisation verfügt über ein auf die Spitex adaptiertes Mobilitätskonzept, in dem Massnahmen zur Bewegungsunterstützung – und damit zur Sturzprävention – enthalten sind. Um deren Wirksamkeit zu gewährleisten, bestehen Standards zur Erfassung und Überprüfung. «Der Bedarf für sturzpräventive Massnahmen wird im Rahmen der Bedarfsabklärung situativ abgeklärt und ist integraler Bestandteil der Pflegeplanung», erklärt Monika Thüler.

Für sie ist klar: «Sensibilisierung, Beratung und ein individuelles, regelmässiges Training führen zu sichtbaren Veränderungen. Wir versuchen nach Möglichkeit, diese wichtigen Aufgaben zielführend und nachhaltig in die Spitex-Arbeit zu integrieren.» Das Mobilitätstraining verbessere nachweislich die Sicher­heit und die Kraft. Werde es nicht wiederholt, so sei dies mess- und sichtbar – etwa in der Beweglichkeit oder beim Gangbild. Wie Esther Bättig betont auch die Spitex-Geschäftsführerin die Wichtigkeit des Beziehungsaufbaus: «Dieser fördert die Motivation bei den Klientinnen und Klienten.»

  1. Die materiellen Kosten betragen rund CHF 1,6 Mia. Dazu gehören unter anderem Spitalkosten, Pflegekosten und übrige Heilungskosten sowie indirekte Kosten für Leistungsausfälle, Administration (www.bfu.ch/stoppsturz/ueber-das-portal). ↩︎
  2. gesundheitsfoerderung.ch/praevention-in-der-gesundheitsversorgung/projektfoerderung/gefoerderte-projekte/projekt-stopp-sturz ↩︎
  3. Finanziert wurde das Projekt durch die Projektfinanzierung «Prävention in der Gesundheitsversorgung (PGV)» von Gesundheitsförderung Schweiz und durch Eigenleistungen von Träger- und Partnerorganisationen. ↩︎
  4. Verhaltensprävention beeinflusst das Verhalten von Menschen. Verhältnisprävention zielt auf deren Umfeld ab, zum Beispiel auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen. ↩︎
  5. Auf einer spezifischen Website der bfu sind alle notwendigen Dokumente und Tipps für die Praxis aufgeschaltet (www.bfu.ch/stoppsturz respektive https://check.bfu.ch/de/). ↩︎

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