10 min 17. Mai 2023

Zürich nimmt die Finanzierung der Betreuung in Angriff

Der Kanton Zürich will nicht auf eine nationale Lösung für die Finanzierung von Betreuungsleistungen im Alter warten – und hat eine kantonale Vorlage zum Thema in die Vernehmlassung geschickt. Der Spitex Verband Kanton Zürich begrüsst das Pionierprojekt.

KATHRIN MORF. Alle Menschen, die auf Ergänzungsleistungen (EL) zur AHV angewiesen sind, sollen durch staatlich finanzierte Betreuungsleistungen selbstbestimmt und eigenständig in den eigenen vier Wänden leben können. Dafür möchte das Kantonale Sozialamt Zürich sorgen und entwarf die Vorlage «Änderung der Zusatzleistungsverordnung (ZLV) – Stärkung der Betreuung im Alter ausserhalb von Heimen für Personen mit Ergänzungsleistungen zur AHV». Der Name erklärt sich dadurch, dass EL im Kanton Zürich «Zusatzleistungen» (ZL) heissen. Die kantonale Sicherheitsdirektion, welcher das Sozialamt angehört, schickte die Vorlage von Ende Februar bis Ende April 2023 in die Vernehmlassung. Wie im zugehörigen BASS-Bericht[1] erklärt wird, sollen künftig die ambulanten Betreuungsleistungen für alle ZL-Berechtigten ausserhalb von Heimen finanziert werden – und nicht nur für Bewohnende eines «betreuten Wohnens». Damit beginnt der Kanton Zürich umzusetzen, was Spitex Schweiz und andere Leistungserbringerverbände seit Jahren fordern: Dass die öffentliche Hand für die Deckung des Betreuungsbedarfs im Alter sorgt, insbesondere in der ambulanten Versorgung und unabhängig von der Wohnform (vgl. Spitex Magazin 6/2020, 1/2022). Damit soll wachsenden Problemen wie der Einsamkeit im Alter und frühzeitigen Heimeintritten entgegengewirkt werden.

Der Kanton Zürich erweitert die Finanzierung von Betreuungsleistungen wie hier die Begleitung auf einem Spaziergang. Themenfoto: Pia Neuenschwander

In den Erläuterungen der Sicherheitsdirektion zur Verordnungsrevision ist festgehalten, dass das neue Instrument für die Betreuungsfinanzierung auch geschaffen wird, um für das neue nationale Gesetz zum betreuten Wohnen bereit zu sein. Gemeint ist damit die Motion 18.3716, welche die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates (SGK-NR) 2018 einreichte. Die von National- und Ständerat angenommene Motion verlangt die Sicherstellung der Finanzierung des betreuten Wohnens über die EL. Im Februar 2022 erklärte das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV), dass die Vernehmlassung für eine neue Gesetzesvorlage im Sommer 2022 beginnen könnte (vgl. Spitex Magazin 1/2022). «Das Thema ist komplex und die Arbeit am Gesetz konnte nicht im gewünschten Tempo voranschreiten. Das Projekt musste deshalb immer wieder verschoben werden», erklärt das BSV auf Anfrage. «Die Vorlage soll aber demnächst in die Vernehmlassung geschickt werden.» Die Frage, ob dabei Betreuungsleistungen unabhängig von der Wohnform berücksichtigt werden, könne das BSV noch nicht beantworten.

Was die Vorlage beinhaltet und was die Spitex dazu sagt
Der Zürcher Revisionsentwurf umfasst einerseits die Erweiterung der Hilfsmittelliste. Zum Beispiel werden für ZL-Berechtigte neu Notrufsysteme finanziert. Andererseits soll die Zusatzleistungsverordnung (ZLV) angepasst werden – genauer die Krankheits- und Behinderungskosten, weil diese in der Kompetenz des Kantons liegen.  Auch der Spitex Verband Kanton Zürich hat sich im Rahmen der Vernehmlassung zu dieser ZLV-Änderung geäussert. «Da wir uns über die Plattform Beekeeper verbandsintern vernetzt haben, konnten sich die Mitgliedsorganisationen auch zur Vorlage äussern. Ihre Inputs liessen wir in unsere Vernehmlassungsantwort einfliessen», erklärt Geschäftsleiterin Claudia Schade-Meier. Diese Antwort hält zuerst einmal fest, dass die Spitex das Vorgehen des Kantons begrüsst. «Damit setzt der Kanton Zürich als erster in der Schweiz flächendeckend um, was Fachpersonen schon länger empfehlen und eine ideale Ergänzung zu den pflegerischen Leistungen darstellt», schreibt der Spitex Verband Kanton Zürich. Daraufhin nimmt er Stellung zu den einzelnen Massnahmen, welche die ZLV-Änderung umfasst:

  • Der Katalog der zu vergütenden Betreuungsleistungen wird erweitert: Bisher hielten im Kanton Zürich das Pflegegesetz und die Verordnung zur Pflegeversorgung fest, welche nicht-pflegerischen Leistungen durch die Spitex finanziert werden – sofern die Betroffenen und ihr soziales Umfeld sie nicht selbst übernehmen können. Zu diesen Leistungen der Alltagsbewältigung gehörten zum Beispiel das Aufbereiten von Mahlzeiten sowie der Wochenkehr. Die Vorlage des Sozialamts erweitert diesen Katalog: Die ZLV soll neu den Grundsatz festhalten, dass die «Hilfe und Betreuung zu Hause»[2] für Bezüger von Zusatzleistungen zur AHV finanziert wird. Genauer sind dies:
    • Kosten für Unterstützung bei der Haushaltsführung, psychosoziale Betreuung und Begleitung zu Hause oder zur Wahrnehmung von Terminen sowie auf Spaziergängen ausser Haus zur Erhaltung der Mobilität, zum Kontakt mit der Aussenwelt und zur Prävention von Immobilität, sozialer Isolation und psychischen Krisen
    • Kosten für Entlastungsdienste
    • Mehrkosten für Mahlzeitendienste und Mehrkosten für die Verpflegung an Mittagstischen
    • Kosten für die Beratung, Leistungsabklärung und -koordination
    • Kosten für Transporte zu Einrichtungen, die Hilfe, Pflege und Betreuung in einem Tages- oder Nachtheim, Tagesspital oder Ambulatorium anbieten.
      Der Spitex Verband Kanton Zürich ist mit diesem neuen Leistungskatalog einverstanden und schlägt darum nur kleine Optimierungen vor – zum Beispiel, dass die finanzierten Leistungen der Entlastungsdienste klarer definiert werden.
  • Der Kreis der Leistungsanbieter wird erweitert: Die Gemeinden müssen künftig Organisationen bezeichnen, die einen höheren Stundenansatz für Betreuungsleistungen verrechnen dürfen, zum Beispiel gemeinnützige Organisationen der Altershilfe. Dies trage zur Qualitätsmitgestaltung der Gemeinden bei, schreibt die Sicherheitsdirektion. Der Spitex Verband Kanton Zürich begrüsst diese Erweiterung, fordert aber Qualitätsstandards für alle Anbieter. «Werden Leistungen mit Steuergeldern bezahlt, müssen alle Erbringer eine gewisse Aus- und Weiterbildung oder Erfahrung mitbringen. Und ihre Leistungen müssen gewisse Qualitätsvorgaben erfüllen», fordert Claudia Schade-Meier.
  • Die Stundenansätze werden erhöht: Mitarbeitende von Spitex-Organisation oder Einzelpersonen mit Spitex-Bewilligung erhalten für Betreuungsleistungen wie bisher 50 Franken pro Stunde. Von Gemeinden bezeichnete Organisationen erhalten 40 statt wie bisher 25 Franken. Privatpersonen, die nicht im selben Haushalt leben, oder Mitarbeitende einer nicht von der Gemeinde bezeichneten Organisation erhalten neu 34 statt 25 Franken. Der Spitex Verband Kanton Zürich kritisiert, dass private Spitex-Organisationen laut der neuen Verordnung automatisch denselben Kostensatz erhalten wie Spitex-Organisationen mit Leistungsvereinbarung. «Von den Gemeinden beauftragte Spitex-Organisationen müssen verschiedene Vorhalteleistungen und Mindeststandards einhalten», gibt Claudia Schade-Meier zu bedenken. Daher sei zu prüfen, ob private Spitex-Organisationen ihre tatsächlichen Kosten für die Erbringung von Betreuungsleistungen nachweisen müssen – und auf dieser Basis einen Kostensatz erhalten, der höchstens bei 50 Franken liegt.
  • Die Gemeinden sorgen für Information und Bedarfsabklärung: Die Gemeinden müssen künftig dafür sorgen, dass ihre Einwohnerinnen und Einwohner mit Anrecht auf die neuen Betreuungsleistungen gut informiert und beraten werden. Zudem müssen die Gemeinden sicherstellen, dass der Betreuungsbedarf ermittelt wird. Dass die Betreuungsleistungen also in Art und Umfang nach den Prinzipien der Notwendigkeit, Zweckmässigkeit und Verhältnismässigkeit ausgeführt werden. Denn würde stattdessen auf die Betreuungsbedürfnisse eingegangen, würden die staatlichen Betreuungskosten explodieren. Der Kanton geht davon aus, dass die Gemeinden für die Bedarfsabklärung verschiedene, an ihre jeweilige Ausgangslage angepasste Lösungsansätze entwickeln. Die Abklärung soll laut BASS-Bericht idealerweise durch eine neutrale Stelle erfolgen und nicht durch einen Anbieter von Betreuungsleistungen – auch wenn die Gemeinden mit Ausnahme der Stadt Zürich derzeit nicht über Stellen und Instrumente für diese Abklärung verfügten.

    Zur Bedarfsabklärung nimmt der Spitex Verband Kanton Zürich ausführlich Stellung. Claudia Schade-Meier widerspricht der Aussage, dass die Spitex nicht eine neutrale Bedarfsabklärerin und Leistungsanbieterin sein kann. «Spitex-Organisationen mit Leistungsauftrag haben für ihre Gemeinden immer die Wirtschaftlichkeit aller Leistungen im Blick. Das haben sie in ihrer bisherigen Bedarfsabklärung bewiesen. Zum Beispiel beauftragen sie sich nicht selbst, wenn eine freiwillige Organisation eine Betreuungsleistung genauso gut ausführen kann», erklärt sie. Eine zusätzliche Stelle für die Abklärung des Betreuungsbedarfs würde zudem zu einem unnötigen administrativen Aufwand führen – und eine zusätzliche Hürde für Betroffene und ihre Angehörigen darstellen. «Weiter können die Abklärungsinstrumente der Spitex ohne viel Aufwand um die neuen Betreuungsleistungen erweitert werden. Die Spitex könnte damit dafür sorgen, dass der Betreuungsbedarf im ganzen Kanton nach einheitlichen, möglichst objektiven Kriterien abgeklärt wird. So wie es die Rechtsgleichheit verlangt», fügt die Geschäftsleiterin an. Aus all diesen Gründen plädiert der Spitex Verband Kanton Zürich dafür, dass die erfahrenen Spitex-Organisationen mit Leistungsauftrag die Bedarfsabklärung und das Case Management auch für die neuen Betreuungsleistungen übernehmen.

Die Spitex könnte dafür sorgen, dass der Betreuungsbedarf im ganzen Kanton nach einheitlichen, möglichst objektiven Kriterien
abgeklärt wird.

Claudia Schade-Meier

Geschäftsleiterin Spitex Verband Kanton Zürich

Die Kosten und die kostendämpfende Wirkung
Der Kanton Zürich leistet den Gemeinden einen Kostenanteil von 70 Prozent an den anrechenbaren Teil der Zusatzleistungen. Gemeinden und Kanton tragen also die Folgekosten der Vorlage. Der BASS-Bericht geht von rund 5200 Personen aus, welche künftig eine Mitfinanzierung von Betreuungsleistungen über die Krankheits- und Behinderungskosten beanspruchen könnten. Dies habe Mehrkosten zwischen 2 und 11.8 Millionen Franken jährlich zur Folge – je nach Inanspruchnahme des neuen Angebots und je nach Ausschöpfung der Maximalbeträge. Die Gemeinden und der Kanton profitieren aber auch von den erwarteten Einsparungen durch die neue Regelung. Denn laut Kanton können die «kostenintensiven und volkswirtschaftlich nicht sinnvollen vermeidbaren Heimeintritte» durch eine Verbesserung der Unterstützung zu Hause reduziert werden. Der BASS-Bericht rechnet mit einem Einsparpotential zwischen 3.7 und 34.8 Millionen Franken pro Jahr – je nachdem, wie viele Heimeintritte bei einer Pflegestufe von 0 bis 3 vermieden werden können.

Claudia Schade-Meier weist darauf hin, dass die neue Regelung auch für verschiedene Mehraufwände bei den Leistungserbringern sorgen wird. «All diese Mehraufwände müssen angemessen finanziert werden», fordert sie. Heute müsse die Spitex zum Beispiel noch oft um die Finanzierung von Koordinationsleistungen kämpfen.

Eine allfällige Erweiterung und ein schnelle Umsetzung
Der Kanton Zürich betont in seinen Erläuterungen, dass die Betreuungsfinanzierung für ZL-Berechtigte im ambulanten Bereich besonders dringend verbessert werden muss. Die Paul Schiller Stiftung erklärt in ihrer Stellungnahme dennoch, dass sie eine breitere Lösung bevorzugen würde (www.gutaltern.ch). Denn eine optimale Betreuungsfinanzierung sollte zum Beispiel auch Menschen ohne Berechtigung für ZL beziehungsweise EL einschliessen. «Es wäre fair, wenn künftig auch für Menschen ohne Berechtigung für Zusatzleistungen zur AHV zumindest ein Teil der Betreuungsleistungen staatlich finanziert würde», bekräftigt Claudia Schade-Meier.

Da die Stellungnahmen zur Vorlage derzeit ausgewertet werden, kann die Zürcher Sicherheitsdirektion dazu keine Fragen beantworten. Geplant sei, dass der Vernehmlassungsbericht sowie der Regierungsratsbeschluss im Sommer 2023 vorliegen. Bisher hat der Kanton die Umsetzung der Vorlage auf 1. Januar 2024 angekündigt. «Der Zeitplan ist ambitioniert und die Spitex sowie die Gemeinden hoffen darum, dass wir schnellstmöglich mehr Informationen zur Umsetzung erhalten», sagt Claudia Schade-Meier. Auch wegen der knappen Zeit wäre es aus ihrer Sicht von Vorteil, wenn die Spitex die Abklärung des gesamten Betreuungsbedarfs übernähme. Abschliessend erklärt die Geschäftsleiterin, dass sie auf eine Signalwirkung des Zürcher Vorstosses hoffe. «Einerseits hilft es dem Bund vielleicht für seine nationale Gesetzesvorlage, wenn er bald schauen kann, wie die Betreuungsfinanzierung im Kanton Zürich funktioniert», sagt sie. «Andererseits wäre es schön, wenn andere Kantone nicht eine allfällige nationale Lösung abwarten und dem Beispiel Zürich bald folgen. Denn ob sich ältere Menschen eine bedarfsgerechte Betreuung leisten können, sollte nicht davon abhängen, in welchem Kanton sie leben.»

Update am 21.06.2023: Der Bundesrat hat an seiner Sitzung vom 21. Juni 2023 die Vernehmlassung zur Änderung des Bundesgesetzes über Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung (ELG) eröffnet. Sie dauert bis am 23. Oktober 2023. Mehr Informationen gibt es hier: Anerkennung des betreuten Wohnens in den EL zur AHV (admin.ch)

Die Unterlagen zur Zürcher Verordnungsrevision sind einsehbar unter www.zh.ch/de/politik-staat/gesetze-beschluesse/vernehmlassungen.html («Zusatzleistungsverordnung» in die Suchmaschine eingeben). Das «Spitex Magazin» wird über die weitere Entwicklung berichten.


[1] BASS-Bericht «Finanzierung von Betreuungsleistungen ausserhalb von Heimen für betagte Menschen mit ZL-Anspruch»; Schlussbericht im Auftrag des Kantonalen Sozialamts Zürich; 16. Dezember 2021

[2] In der revidierten ZLV wird die Leistungsvergütung der Hilfe und Betreuung auch in Tagesheimen und  Tagesspitälern, Ambulatorien und neu Nachtheimen geregelt. An dieser Stelle wird aber auf die Betreuung zu Hause eingegangen.

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