
«Wer hat’s erfunden?»: Vom konfessionellen Krankenpflegeverein zur Spitex-Organisation
Anlässlich des 30-Jahr-Jubiläums von Spitex Schweiz berichtet Gastautor Simon Hofstetter , dass viele Spitex-Organisationen ab dem Ende des 19. Jahrhunderts als kirchliche Krankenpflegevereine gegründet wurden. Der Weg von diesen christlich-konfessionellen Vereinen zu den heutigen Spitex-Organisationen zeigt eindrücklich, wie sich gesellschaftliche, politische und kirchliche Rahmenbedingungen veränderten: Was einst als Ausdruck gelebter Nächstenliebe und kirchlicher Diakonie begann, ist heute Teil einer staatlich geregelten, professionell organisierten und marktnah geführten Grundversorgung.

Schwester Dori Schürch unterwegs für die Pflege und Betreuung zu Hause im Jahr 1964.
Bild: Archiv diaconis / Diakonissenhaus Bern
SIMON HOFSTETTER 1. Der Kräuterbonbonhersteller «Ricola» führte vor einiger Zeit mit dem Komiker Erich Vock eine sehr erfolgreiche internationale Werbekampagne durch unter dem Titel «Wer hat’s erfunden?». Die Werbekampagne führte humorvoll vor Augen, dass das Kräuterbonbon in der Schweiz entwickelt wurde. Dieselbe Frage «Wer hat’s erfunden?» können wir uns auch bei den Spitex-Organisationen stellen. Es ist kaum mehr bekannt, dass die heutigen gemeinnützigen Spitex-Organisationen vorwiegend auf kirchliche Gründungen zurückgehen: Sie wurden zumeist ab dem Ende des 19. Jahrhunderts gegründet und sollten die soziale Not abfedern, die im Zuge von Industrialisierung und rasantem Bevölkerungswachstum vielerorts spürbar war. Armut, Krankheit und prekäre Lebensbedingungen erforderten neue Formen der Solidarität. Es waren insbesondere Kirchgemeinden – entweder evangelisch-reformierte oder römisch-katholische – und deren Pfarrpersonen, welche die Vereine gründeten und in der Anfangszeit auch leiteten.
Diakonissen auf evangelisch-reformierter Seite beziehungsweise Ordensschwestern auf römisch-katholischer Seite leisteten die eigentliche Pflegearbeit. Da die «Leibespflege» als eng verwoben mit der «Seelenpflege» verstanden wurde, achteten die Schwestern strikte darauf, dass sie ausschliesslich die Angehörigen der eigenen Konfession pflegten. Krankenpflege galt in dieser Phase als eine diakonische Arbeit der Kirchgemeinden und als selbstverständlicher Teil kirchlicher Verantwortung für die Nächsten.
Erste Bedeutungsverschiebungen
Mit dem gesellschaftlichen Aufbruch nach dem Zweiten Weltkrieg begann sich das Bild zu wandeln. Die Nachkriegszeit war von starkem Wirtschaftswachstum, wachsender Bevölkerung und dem Ausbau des Sozialstaates geprägt. In dieser Phase – von den 1940er- bis in die 1960er-Jahre – traten die kirchlichen Bindungen der Krankenpflegevereine zunehmend in den Hintergrund. Pfarrpersonen blieben zwar noch in den Vorständen vertreten, doch ihre leitende Rolle verlor an Selbstverständlichkeit. Auch die Präsenz von Diakonissen nahm ab.
Obwohl die Krankenpflegevereine Wert auf Eigenständigkeit legten, waren sie zunehmend auf öffentliche Gelder der Gemeinden angewiesen. So entwickelte sich langsam ein Verständnis der Vereine weg von der religiös begründeten Nächstenliebe hin zu einer professionell organisierten, gemeinnützigen Krankenpflege. Damit setzte ein schrittweiser Verlust kirchlicher Prägung ein – ein Prozess, der sich in den folgenden Jahrzehnten beschleunigte.
Anwachsen des staatlichen Einflusses
Ab den 1960er-Jahren griff der Staat zunehmend regulierend in das Feld der ambulanten Pflege ein. Sozialstaatlicher Ausbau und ökonomische Krisenphasen führten dazu, dass die Finanzierung, Steuerung und Organisation der Pflegeleistungen stärker gesetzlich geregelt wurden. Für die Krankenpflegevereine bedeutete dies: Wenn sie finanziell überleben wollten, so mussten sie sich an neue Normen anpassen, Qualitätsstandards einhalten und Finanzierungsauflagen erfüllen.
Diese Entwicklungen führten in vielen Fällen zu tiefgreifenden strukturellen Veränderungen. Manche Vereine fusionierten oder gaben ihre Eigenständigkeit zugunsten grösserer regionaler Organisationen auf. Die ehemals kirchlichen Wurzeln gerieten dabei mehr und mehr in Vergessenheit. In dieser Phase verschob sich das Gewicht von einem kirchlich-diakonisch geprägten Engagement hin zu einer vom Staat gesteuerten Daseinsvorsorge.
Zwischen Markt, Staat und Zivilgesellschaft
Seit den 1990er-Jahren erlebten die Krankenpflegevereine – erstmals unter dem Titel der «Spitex» – eine nochmals neue Situation: Die Vereine waren verstärkt einem marktförmigen Wettbewerb ausgesetzt, zudem wurde die Pflegefinanzierung neu auf nationaler Ebene geregelt. Daraus ergab sich auch die Notwendigkeit, sich als Gegenüber der Bundesbehörden zu organisieren, um auf nationaler Ebene die eigenen Interessen vertreten zu können – und so wurde vor 30 Jahren der nationale «Spitex Verband Schweiz» gegründet (vgl. Infokasten).
Heute bewegen sich die Spitex-Betriebe in einem Spannungsfeld zwischen unterschiedlichen Anforderungen: Die Organisationen müssen gleichzeitig wirtschaftlich tragfähig sein, staatliche Vorgaben erfüllen und sich als dem Gemeinwohl verpflichtete Akteure positionieren.
Von den 1940er- bis in die 1960er-Jahre traten die kirchlichen Bindungen der Krankenpflegevereine
zunehmend in den Hintergrund.
Simon Hofstetter
Autor und Theologe
Von kirchlicher zu zivilgesellschaftlicher Trägerschaft
Die Transformation von den kirchlich geprägten Vereinen zu den heutigen Spitex-Organisationen ist auch Ausdruck eines grundlegenden Wandels im Schweizer Wohlfahrtssystem. Was im 19. Jahrhundert als kirchlich motivierte Selbsthilfe begann, entwickelte sich über viele Jahrzehnte zu einem standardisierten öffentlichen Angebot der Grundversorgung. Im Sozialstaat der Schweiz rückten die Kirchen nach und nach in den Hintergrund. Die Spitex ist damit ein Spiegel des Wandels in der schweizerischen Gesellschaft: von der lokalen Selbsthilfe zur zivilgesellschaftlich getragenen und staatlich regulierten Institution.
Interessant ist, dass sich neuerdings wieder vermehrt Kirchenvertreterinnen und -vertreter in Spitex-Organisationen engagieren – sei es durch Projektkooperationen oder aber in den Vereinsvorständen. Wenn wir sie fragen würden «Wer hat die Spitex erfunden?» – so wüssten sie wohl kaum, dass es ihre Vorgänger waren.

Spitex Schweiz feiert den 30. «Geburtstag»
Vor 30 Jahren nahm der nationale Dachverband der Spitex seine Arbeit auf – ein Blick zurück auf die Gründungsversammlung, Meilensteine der Verbandsgeschichte und die Logo-Wahl.
KATHRIN MORF. Am Donnerstag, 1. Dezember 1994, um 14.30 Uhr, fanden sich über 70 Personen im Restaurant Sternen in Muri bei Bern ein. Darunter befanden sich Vertreterinnen und Vertreter von 21 Spitex-Kantonalverbänden (es fehlten noch Luzern, Obwalden, St. Gallen und Uri). Aber auch Mitglieder der Schweizerischen Vereinigung der Gemeindekranken- und Gesundheitspflegeorganisationen (SVGO) sowie der Schweizerischen Vereinigung der Hauspflegeorganisationen (SVHO) waren anwesend: 105 Minuten brauchten die Stimmberechtigten, um den SVGO und den SVHO aufzulösen und die Gründung des Spitex Verbandes Schweiz (SVS) zu beschliessen. Der Begriff «Spitex» existierte damals bereits seit Längerem: Die Abkürzung für Spital-externe Hilfe und Pflege war 1974 vom Schweizerischen Roten Kreuz lanciert worden. Am 1. Januar 1995 nahm der SVS seine Arbeit offiziell auf. Bis zu seiner Gründung war jahrelange Vorarbeit nötig gewesen – unter anderem, damit sich die beiden bisherigen Organisationen annäherten.
Viele Meilensteine und ein Logo
Der Vorstand des neuen Verbands musste sich nach der Gründung 1994 sofort mit einer grossen Aufgabe beschäftigen: Am 4. Dezember 1994 wurde die Vorlage zum Bundesgesetz über die Krankenversicherung (KVG) vom Stimmvolk angenommen. Es galt also, die Umsetzung des neuen Gesetzes mitzugestalten. Weitere Meilensteine in 30 Jahren waren beispielsweise die Veröffentlichung von Qualitätsmanual (2000) und Finanzmanual (2002), die Einführung des Bedarfsabklärungsinstruments RAI-HomeCare (ab 2004), die Aushandlung von Administrativverträgen mit den Versicherern (ab 2010), die Einführung der Neuen Pflegefinanzierung (2011), die Lancierung des «Spitex Magazins» (2014) und des Datenpools HomeCareData (2015), die Bewältigung der Covid-19-Pandemie (ab 2020) und viele mehr.
Und was ist mit dem blau-grünen Logo der Spitex? Dieses hat die Zürcher Werbeagentur Frank Joss für den Spitex Verband Schweiz entwickelt: Das Blau wurde vor 30 Jahren gewählt, um die SVGO zu repräsentieren, und das Grün stand für die SVHO. Das weisse «S» zwischen den beiden nierenähnlichen Formen wurde als Anfangsbuchstabe von «Spitex» gewählt und weil es den Weg der Spitex-Mitarbeitenden zum Zuhause ihrer Klientinnen und Klienten repräsentiert. Das Logo hatte sich gegen verschiedene weitere Vorschläge durchgesetzt (vgl. Abbildungen in Schwarzweiss über dem Infokasten). 2005 und 2016 wurde es jeweils leicht überarbeitet. 2016 erhielt der nationale Verband zudem den neuen Namen «Spitex Schweiz» –und das Motto, das bis heute für das Angebot der Spitex im ganzen Land gilt: «Überall für alle».
Der Vorstand und die Geschäftsleitung von Spitex Schweiz danken allen, welche in den vergangenen drei Jahrzehnten zur rasanten Entwicklung von Spitex Schweiz beigetragen haben – und versichern, dass sich der nationale Dachverband auch in den kommenden Jahrzehnten für die Interessen der Spitex auf nationaler Ebene stark machen wird.
- Simon Hofstetter, PD Dr. theol., ist Privatdozent für Diakoniewissenschaft an der Universität Bern. Anfang September 2025 ist sein Buch «Vom reformierten Krankenpflegeverein zur Spitex AG. Zur neueren Diakoniegeschichte der Deutschschweiz» im Theologischen Verlag Zürich (TVZ) erschienen. ISBN 978-3-290-18730-9 ↩︎