Die grosse Unbekannte: Sexualität im Alter 

Reto Kneubühler ist Experte für eines unserer gesellschaftlichen Tabuthemen schlechthin: Sexualität im Alter. Der Sexualpädagoge bildet regelmässig Mitarbeitende in Spitex-Organisationen und Pflegeheimen weiter und erteilt Hilfestellung im Falle von sexuellen Übergriffen durch Klientinnen und Klienten. 

Im Alter spielt Zärtlichkeit eine wichtige Rolle. Bild: Getty Images

KARIN MEIER. «Menschen sind sexuelle Wesen. Dies beginnt im Mutterleib und endet erst mit dem Tod. Viele haben ihre schönsten sexuellen Erlebnisse sogar erst im Alter ab 65 Jahren, wenn der Druck durch die Arbeitswelt entfällt. Menschen haben ein Recht darauf, ihre Sexualität auszuleben – natürlich auf eine Weise, die niemandem schadet», sagt Reto Kneubühler. Zahlen und Fakten rund um das menschliche Sexualleben sind Teil seiner Weiterbildungen zum Thema Sexualität im Alter, die er in Spitex-Organisationen, Pflegeheimen und bei Pro Senectute durchführt. Zuweilen erfolgen seine Besuche kurzfristig: Manche Institutionen rufen ihn in Krisensituationen, weil ein Bewohner oder eine Klientin sexuelle Übergriffe gegenüber Mitarbeitenden verübt. 

Viele Gründe für Tabuisierung 
Bei seiner Arbeit stellt Reto Kneubühler immer wieder fest: «Das Thema Sexualität ist bei der Spitex und in Pflegeheimen omnipräsent – und wird dennoch häufig verdrängt. Zudem wird Sexualität häufig auf Geschlechtsverkehr reduziert. Im Alter spielt Zärtlichkeit jedoch eine mindestens ebenso wichtige Rolle.» Die Gründe für die Tabuisierung seien vielfältig und lägen einerseits in unserer Erziehung, Kultur und Religion, andererseits in unserem individuellen Erleben von Sexualität: Wer sich wenig aus ihr macht oder gar von sexueller Gewalt betroffen sei, hätte oft kaum Verständnis dafür, wie bedeutsam körperliche Nähe und das Ausleben von Intimität für andere sein können. In seinen Weiterbildungen fördert Reto Kneubühler deshalb nicht nur ein breiteres Verständnis für die Bedeutung von Intimsphäre und Sexualität, sondern macht auch auf die eigenen blinden Flecken aufmerksam. 

Vom Polizisten zum Sexualpädagogen 
Die Themen Sexualität und sexualisierte Gewalt beschäftigen den 51-Jährigen schon lange. Nach Jahren als Kondukteur und Chauffeur war Reto Kneubühler im Sicherheitsbereich tätig. 2003-2004 absolvierte er die Polizeischule in Neuenburg, ein Jahr danach schloss er bei der Kantonspolizei Aargau die Höhere Berufsprüfung (heute HBP) ab. Bis 2008 arbeitete er bei mehreren Polizeikorps als Polizist und Hundeführer. Nach knapp fünf Jahren hatte er genug: «Ich kam oft mit sexualisierter Gewalt in Berührung: Kindsmissbrauch und Vergewaltigungen, aber auch häusliche Gewalt. Mit der Zeit wurde dies zunehmend belastend für mich, vor allem, weil wir erst gerufen wurden, wenn die Tat bereits begangen war. Hinzu kam, dass sexualisierte Gewalt auch bei uns Polizisten häufig Fassungslosigkeit hinterliess.» 

In Reto Kneubühler wuchs der Wunsch, sich intensiv mit dem Thema sexualisierte Gewalt auseinanderzusetzen und dadurch präventiv wirken zu können. Er kündigte, um sich am Institut für Sexualpädagogik und Sexualtherapie (ISP) in Zürich zum Sexualpädagogen ausbilden zu lassen. Bis er das Studium antreten konnte, arbeitete er wieder als Chauffeur, unter anderem in Reisebussen und bei Transporten für Cerebral Schweiz. Dabei stellte er fest, dass Sexualität ein grosses Thema für ältere Menschen und Menschen mit Behinderung ist. Im Laufe des Studiums faszinierte ihn Sexualität im Alter immer mehr. Sein Studienleiter riet ihm deshalb, sich darauf zu konzentrieren. Bereits im Oktober 2021 beherzigte Reto Kneubühler diesen Rat und gründete sein Unternehmen Seima , kurz für «Sexualität im Alter» (seima.ch). Sein Homeoffice hat er in Alvaneu Dorf (GR), wo er mit seiner Frau und seiner Tochter lebt.

Menschen haben ein Recht darauf, ihre Sexualität auszuleben –
natürlich auf eine Weise, die niemandem schadet.

RETO KNEUBÜHLER

Polizist und Sexualpädagoge

Institutionelle Anlaufstelle schaffen
In seinen Weiterbildungen wie auch in seiner Funktion als «Krisenmanager» gibt Reto Kneubühler Mitarbeitenden und Organisationen praktische Hilfestellungen im Umgang mit den sexuellen Bedürfnissen von älteren Menschen. Spitex-Organisationen wie Pflegeheimen empfiehlt er, eine Ansprechperson für alle ­Fragen rund um Sexualität zu definieren, die bei ­übergriffigem Verhalten einschreitet (s. Kasten). «Die Ansprechperson darf keine Pflegefachperson sein, die bei der übergriffigen Person auch pflegerische Handlungen vornimmt», sagt Reto Kneubühler. «Denn es ist undankbar bis unmöglich, jemanden auf sein Verhalten anzusprechen und danach zum Beispiel mit der Intimpflege fortfahren zu müssen.» Weiter rät er dazu, sexuelle Übergriffe in keiner Weise zu dulden – auch keine subtilen, wie sie von Frauen ausgehen könnten, indem sie bei der Intimpflege etwa «mehr Druck» wünschten. 

Reto Kneubühler betont, dass sich sexuelle Übergriffe oft von langer Hand ankündigten und vielfach auf ungelebte sexuelle Bedürfnisse zurückzuführen seien. Das blosse Unterbinden von Übergriffen löse die Probleme deshalb nicht. Seine Empfehlung: «Stellt man fest, dass ein Bewohner oder eine Klientin unbefriedigte sexuelle Bedürfnisse hat, sollte die institutionelle Ansprechperson ihn oder sie darauf ansprechen. Gemeinsam können die beiden nach Möglichkeiten zu suchen, wie diese Bedürfnisse befriedigt werden können. Dies kann zum Beispiel durch die Abgabe von Vibratoren oder den Besuch von Sexualassistentinnen (sogenannte ‹Berührerinnen›) erfolgen.»  

5 Tipps für Spitex-Organisationen und -Mitarbeitende 

1. Manche Menschen verspüren auch im hohen Alter sexuelle Bedürfnisse, die sie ausleben möchten. Sprechen Sie dies bei der Klientin bzw. dem Klienten an. Empfehlen Sie pflegenden Partnerinnen und Partnern, die Intimpflege in solchen Fällen so rasch als möglich abzugeben, damit das Sexualleben des Paares keinen Schaden nimmt. 

2. Richten Sie in Ihrer Organisation eine Anlaufstelle für alle Fragen rund um Sexualität ein. Besetzen Sie diese Stelle durch eine interne, in Sexualpädagogik geschulte Fach­person, die keine pflegerischen Handlungen bei den Klientinnen und Klienten vornimmt. Falls sich keine solche ­Person findet, beauftragen Sie eine externe Fachperson mit dieser Aufgabe. 

3. Kommunizieren Sie im Moment eines sexuellen Übergriffs klar mit Sätzen wie «Stopp!», «Schluss jetzt!», «Hören Sie mit diesen Witzen auf!» Haben Sie keine Angst, Nein zu sagen. Fangen Sie nicht an, mit dem Klienten oder der Klientin zu diskutieren. 

4. Dulden Sie keine sexuellen Übergriffe in Ihrer Organi­sation. Weisen Sie Ihre Mitarbeitenden an, alle Übergriffe unverzüglich zu melden. Protokollieren Sie diese und ­schicken Sie die Person Ihrer Anlaufstelle so rasch als möglich zum übergriffigen Klienten, zur übergriffigen Klientin. Diese Person wird klare Grenzen setzen und mit dem Klientin oder der Klientin auch schauen, dass die ­sexuellen Bedürfnisse so ausgelebt werden können, dass niemand dabei belästigt wird. 

5. Nehmen Sie das Thema Sexualität als verbindliche Weiterbildung auf.

Umdenken sei erforderlich
Damit dies geschehe, sei jedoch Offenheit seitens der Leitungspersonen wie auch der Angehörigen nötig – eine Offenheit, die nicht immer vorhanden sei. «Viele Pflegeheime haben leider ein konservatives Verständnis von Sexualität. Mit dem Eintritt der Hippie-Generationen wird ein Umdenken stattfinden müssen.» Reto Kneubühler erhofft sich denn auch, dass er mit seiner Arbeit zu einem offeneren und entspannteren Umgang mit Sexualität im Alter beitragen kann. 

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