«Qualifizierte Spitex-Pflege schwer kranker Kinder zu finanzieren, ist effizient»

Seit dem 1. Oktober 2024 gilt für die Kinderspitex ein neuer IV-Tarif zur Verrechnung der Pflegeleistungen. Lucia Vogt und Regula Buder von der Kinderspitex Nordwestschweiz erläutern im Interview, welche Herausforderungen damit verbunden sind. Und sie sagen, warum es ambulante psychia­trische Pflege auch für Kinder braucht.

Die Kinderspitex Nordwestschweiz nimmt alle Neuanmeldungen an und stellt die Pflege innert 48 Stunden sicher. Bild: zvg

SUSANNE WENGER. In der Schweiz pflegen Kinderspitex-Organisationen rund 2900 meist schwer kranke Kinder zu Hause. Die Leistungen werden in der Regel durch die Invalidenversicherung (IV) finanziert. Nach langen und erfolgreichen Verhandlungen ei­nigten sich Spitex Schweiz, ASPS (Association Spitex Privée Suisse) und das Bundesamt für Sozialversicherungen 2024 auf einen neuen Tarif. Die Parteien beschlossen, die Tarife periodisch zu überprüfen und gegebenenfalls an veränderte Verhältnisse anzupassen, aufgrund eines begründeten Antrags einer Vertragspartei. Lucia Vogt ist seit 2024 Mitglied der Verhandlungsdelegation Spitex-Verbände. Als langjährige Geschäftsleiterin der Kinderspitex Nordwestschweiz kennt sie die Situation aus erster Hand. Zuvor war sie bei der 1997 gegründeten Organisation schon als Pflegefachfrau dabei. Regula Buder, Pflegeexpertin und Qualitätsverantwortliche, ist seit 17 Jahren für die Organisation tätig.

SPITEX MAGAZIN: Wie viele der von Ihnen gepflegten Kinder fallen unter den IV-Tarif?
LUCIA VOGT (LV): Bei rund 50 Prozent der Kinder trägt die IV die Pflegekosten, bei den anderen die Krankenversicherung. Die IV-Stunden machen jedoch 75 Prozent unserer insgesamt verrechneten Stunden aus.

REGULA BUDER (RB): Viele Kinder benötigen Langzeitüberwachung, zum Beispiel bei einer Beatmung über eine Trachealkanüle. Anfangs sind wir täglich viele Stunden vor Ort, später – wenn sich die Situation stabilisiert hat – nur noch für kurze Einsätze beim Wechseln der Kanüle. Ein anderes Beispiel ist ein Kind mit ­einer onkologischen Erkrankung, bei der sich der Tumor vorgeburtlich entwickelt hat. Da ist hochakute Pflege erforderlich, mit Kurzeinsätzen etwa für subkutane Injektionen. Auch leisten wir Palliativpflege für Kinder mit lebenslimitierenden Erkrankungen.

Sind Ihre Pflegesituationen komplexer geworden?
RB: Es ist eher so, dass sich die Komplexität verändert hat. Unter anderem dadurch, dass wir häufiger auf schwierige Familiensituationen treffen, etwa bei psychischen oder finanziellen Problemen der Eltern. Stark zugenommen hat der Zeitdruck. Wir sollten oft von einem Tag auf den anderen einsatzbereit sein, dies auch bei den medizinisch-pflegerisch ohnehin komplexen Fällen. 

Welche Erfahrungen machen Sie mit dem neu ausgehandelten IV-Tarif?
LV: Unsere Vollkosten sind – als Organisation mit Versorgungspflicht – nach wie vor nicht gedeckt. Für die Finanzierung der Versorgungspflicht sind wir auf die Restkostenfinanzierung durch Kantone und Gemeinden angewiesen. Eine Restkostenbeteiligung ist bei der IV gesetzlich nicht geregelt, anders als bei der Krankenversicherung. Dort legt das Krankenversicherungsgesetz KVG fest, dass die öffentliche Hand die Restkosten trägt. 

Was heisst es für Sie, mehrere Restfinanzierer zu koordinieren?
LV: Wir verhandeln mit jedem der drei Kantone, mit denen wir eine Leistungsvereinbarung abgeschlossen haben, über die Restkosten. Das ist zeitintensiv. Es sind unterschiedliche Verhandlungspartner und unterschiedliche Aufteilungen der Restkosten zwischen den Kantonen und den Gemeinden.

RB: In der täglichen Zusammenarbeit mit den IV-Stellen und den Krankenversicherern legen wir unseren Aufwand transparent dar, was Vertrauen schafft. Wir erhalten erfreulicherweise regelmässig Feedback, dass man sich auf unsere Angaben verlassen kann und dass sie aussagekräftig sind.

Sie sprachen die Versorgungspflicht an. Was bedeutet diese für Ihre Arbeit?
LV: Sie bedeutet, alle Neuanmeldungen anzunehmen und die Pflege innerhalb von 48 Stunden sicherzustellen, auch bei den sehr komplexen Fällen. Zudem leisten wir viele unrentable Kurzeinsätze. Das alles erfordert genügend qualifiziertes Personal.

RB: Bei IV-Kindern darf nur Pflegepersonal auf Tertiärstufe arbeiten. Die Fachpersonen müssen etwa eine Beatmungsmaschine bedienen oder eine Heimdialyse durchführen können. Und sie müssen jederzeit verfügbar sein, was eine aufwendige betriebliche Organisa­tion nötig macht.

Wir verhandeln mit jedem der drei Kantone, mit denen wir eine Leistungsvereinbarung
abgeschlossen haben, über die Restkosten. Das ist zeitintensiv.

LUCIA VOGT

Geschäftsleiterin Kinderspitex Nordwestschweiz

Das Bundesamt für Sozialversicherungen spricht von betriebswirtschaftlichen Tarifen. Könnten Sie denn effizienter sein?
LV: Unsere Kosten entstehen nicht durch mangelnde Effizienz, sondern durch die Pflegeinhalte und das breite Spektrum, das wir als Organisation mit Versorgungspflicht abdecken. Kurze Einsätze mit langen Wegzeiten und das Umstellen der Einsatzplanung, wenn ein Kind kurzfristig aus dem Spital austritt, verursachen nun einmal höheren Aufwand. Wir übernehmen jede Neuanmeldung, auch wenn die Einsätze nur wenige Tage nötig sind.

RB: Bei den knappen Ressourcen im Gesundheitswesen ist eine effiziente Mittelverwendung zweifellos wichtig. Eine qualifizierte Pflege schwer kranker Kinder zu Hause kostendeckend zu finanzieren, ist effizient, weil sie gesamtwirtschaftlich günstiger ist. Denn durch diese Pflege werden teure Spitalaufenthalte und Rehospitalisationen vermieden.

Mussten Sie schon Kinder ablehnen?
RB: Nein, wir lehnen kein Kind ab, bei dem der Bedarf ausgewiesen ist. Um Finanzlücken zu überbrücken, nutzen wir Spendengelder. Das heisst: Wir können als Organisation mit öffentlichem Auftrag und Versorgungspflicht die Grundversorgung derzeit nicht ohne Spendengelder abdecken. Das geht für mich gesundheitspolitisch nicht auf. Der Anspruch auf medizinische Massnahmen bei Geburtsgebrechen ist im Bundesgesetz über die Invalidenversicherung verankert. 

LV: Es ist unser Ziel, die Abgeltung der Versorgungspflicht bei den nächsten Verhandlungen zu klären. Aus meiner Sicht – und aus der Sicht anderer Kinderspitex-Organisationen – plädieren wir für eine Lösung, die regionale Unterschiede berücksichtigt, anstatt einen Einheitstarif für die ganze Schweiz anzuwenden. Die Löhne beispielsweise sind im Kanton Zürich nicht gleich wie im Kanton Jura. 

Wie sehr spürt Ihre Kinderspitex den Fachkräftemangel?
RB: Er betrifft uns, aber bisher können wir zum Glück die meisten Stellen besetzen. Die Arbeitszeiten sind eine Herausforderung. Hochqualifiziertes Personal muss bereit sein, ein Teilzeitpensum auf fünf Tage zu verteilen und manchmal sehr kurzfristig in Einsatz zu treten. Das ist nicht leicht mit dem Familienleben zu vereinbaren. Deshalb gestalten wir die Teilzeitstellen attraktiv, unter anderem indem wir mit den Mitarbeitenden nach Lösungen suchen und indem wir Weiterbildungen oder ein aufbauendes Studium finanzieren. Bei uns steht die Berufsbiografie jeder Mitarbeiterin, jedes Mitarbeiters im Fokus.

Seit 2012 führen wir ein aufsuchendes Angebot für Kinder mit psychischen Erkrankungen. Wir leisten Kurzeinsätze zur
Alltagsbewältigung, Deeskalation oder Suizidprävention.

REGULA BUDER

Pflegeexpertin und Qualitätsverantwortliche

Zu Ihrem Angebot gehört auch Psychiatriepflege. Wie entwickelt sie sich?
RB: Wir führen seit 2012 ein aufsuchendes Angebot für Kinder mit psychischen Erkrankungen. Dass es so etwas als Ergänzung zu den bestehenden therapeutischen Angeboten braucht, haben wir bei unserer Arbeit in den Familien früh festgestellt. Heute ist die Problematik breit erkannt, und sie ist akut: Es fehlt an Klinikplätzen und Anschlussprogrammen. Letztes Jahr begleiteten wir über hundert Kinder und Jugendliche zwischen vier und 18 Jahren, unter anderem mit Angststörungen, Depressionen oder einer Borderline-Thematik. Wir leisten Kurzeinsätze zur Alltagsbewältigung, Deeskalation oder Suizidprävention.

Sie sind beide schon länger in der Kinderspitex tätig. Was hält Sie im Fachgebiet? 
LV: Ich habe den Aufbau der Kinderspitex in der Schweiz in den 1990er-Jahren miterlebt. Bis heute motivieren mich die sinnvolle Aufgabe und die Zusammenarbeit im Team. Ernüchternd finde ich, dass wir immer noch für kostendeckende Tarife kämpfen müssen. Wir bedienen nicht einfach einen Markt, sondern tragen einen wichtigen Teil zur Grundversorgung bei!

RB: Mich überzeugt die Wirksamkeit der ambulanten Pflege. Wir erleben immer wieder, wie wir Familien befähigen können, eigene Schritte zu machen. Die Arbeit mit den Kindern, den Familien und auch deren Geschichten sind so interessant und berührend – da kann keine Netflix-Serie mithalten.

Kinderspitex Nordwestschweiz
Die Kinderspitex Nordwestschweiz pflegt Kinder ab Geburt bis ins frühe Erwachsenenalter (bis 20 bei IV-Fällen, bis 18 bei KVG-Fällen) bei Krankheit, Unfall, körperlichen Einschränkungen, psychiatrischen Erkrankungen und in palliativen Situationen. Den Eltern und weiteren Angehörigen steht sie begleitend und anleitend zur Seite. Die Organisation beschäftigt 85 Mitarbeitende und nimmt Leistungsaufträge der Kantone Aargau, Basel-Landschaft und Solothurn wahr. Letztes Jahr pflegte sie 439 Kinder, darunter 318 Neuanmeldungen. Täglich leistete sie 112 Pflegestunden und 63 Einsätze. Bei anerkannten Geburtsgebrechen – festgelegt in einer Verordnung des Eidgenössischen Departements des Inneren – übernimmt die IV die Kosten der medizi­nischen Massnahmen. Bis vor Kurzem betrug der Tarif 114.96 Franken pro Stunde. Seit Oktober 2024 gilt der neue Tarif von 128.04 Franken. Für die Grundpflege kommt die Kran­kenkasse auf.

→ www.spitexkinder.ch

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