Partnerschaft auf Augenhöhe

Auf den ersten Blick könnten die Positionen von Spitex und Krankenversicherern nicht unterschiedlicher sein. Und doch sind Kompromisse sowie ein partnerschaftliches Miteinander möglich. Was das Geheimnis einer ausgewogenen und konstruktiven Zusammenarbeit ist, zeigen Sigrid Rhyner von Spitex Zürich und Beat Zurfluh von der ÖKK.

Die Zusammenarbeit zwischen der Spitex und den Versicherern ist geprägt von einem Geben und Nehmen. Bild: Mike Niederhauser

EVA ZWAHLEN. Die gesetzliche Grundlage für die Zusammenarbeit zwischen Krankenversicherern und Leistungserbringern, also den Spitex-Organisationen, bilden das Krankenversicherungsgesetz (KVG) und insbesondere die Krankenleistungsverordnung (KLV; Art. 7 bis 9). Basierend darauf hat Spitex Schweiz mit den Krankenversicherer-Verbänden Administrativverträge (www.spitex.ch/Grundlagen/Vertraege) verhandelt, in denen die Prozesse zwischen Krankenversicherern und Spitex-Organisationen detailliert festgehalten werden. 1 Wie sieht der Alltag in diesem mitunter komplexen Feld aus? Mit welchen Herausforderungen sind die Spitex-Mitarbeitenden auf der einen und die Pflegecontrollerinnen und -controller auf der anderen Seite konfrontiert? Was ist das Geheimnis einer funktionierenden und konstruktiven Zusammenarbeit? Wir haben uns auf Spurensuche gemacht.

Zentrale Ansprechperson für alle Versicherungsfragen
Die Zahlen sind eindrücklich: Über 10 000 Klientinnen und Klienten betreut Spitex Zürich pro Jahr. Entsprechend aufwendig sind die korrekte Verrechnung der erbrachten Leistungen, die Verarbeitung der vielen Rechnungen und der Kontakt mit den zahlreichen involvierten Stellen. Bei Spitex Zürich laufen diese Fäden bei Sigrid Rhyner und ihren drei Teamkolleginnen zusammen. Seit 2007 arbeitet die medizinische Praxisassistentin (MPA) und diplomierte Pflegefachfrau HF bei der Spitex-Organisation, zuerst als Basismitarbeiterin und seit 2020 als Krankenkassenverantwortliche und Sozialversicherungsbeauftragte. In dieser Funktion ist Sigrid Rhyner, die über 20 Jahre Spitex-Erfahrung verfügt und auch viele Jahre in der Gemeindekrankenpflege des Kantons Glarus arbeitete, in einem regelmässigen und engen Austausch mit den Krankenversicherern. Welche Themen oder Anliegen beschäftigen sie dabei am häufigsten? «Die meisten Rückfragen entstehen im Zusammenhang mit unserer Zusammenarbeit mit pflegenden Angehörigen, der privaten Spitex oder einer stationären Institution», erläutert Sigrid Rhyner. Auch Nacht-Einsätze (vgl. Spitex Magazin 6/2024) oder die Kostenübernahme bei Leistungen, die durch zwei Mitarbeitende gleichzeitig erbracht werden, generieren regelmässig Nachfragen. 

Krankenversicherer und Leistungserbringer sollten Hand in Hand arbeiten. Wir sind Geschäfts- und Vertragspartner.

SIGRID RHYNER

Sozialversicherungsverantwortliche Spitex Zürich

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Sigrid Rhyner im Podcast «Spitex-Welten» zum Thema «Der Umgang mit Rückweisungen».

https://spitex-welten.podigee.io/

Die beste Rückweisung ist die, die nicht stattfindet
Die Aufgaben der 59-Jährigen sind vielfältig: So steht sie ihren Arbeitskolleginnen und -kollegen, aber auch den Klientinnen und Klienten, Sozialversicherungsämtern oder den IV-Stellen bei Beschwerden oder Fragen rund um Kranken- oder Sozialversicherungen zur Verfügung. Zudem bearbeitet sie Kostengutsprachen, füllt Hilflosenentschädigungen aus, stellt Wiedererwägungsgesuche oder klärt Kostenübernahmen. Zu den Hauptaufgaben von Sigrid Rhyner gehört die Bearbeitung von Rechnungs- und Leistungsrückweisungen: «Ein häufiger Grund für eine Rückweisung ist das Fehlen der ärztlichen Verordnung. Oft geht es auch um Überschreitungen von Quantifizierungen. Wenn beispielsweise eine Leistung täglich um fünf Minuten überschritten wird, so resultiert daraus ein Mehrbedarf von über zwei Stunden pro Monat.» Sigrid Rhyner weist weiter auf die Wichtigkeit aussagekräftiger Verlaufsberichte hin, etwa, wenn ein Sturz vorangegangen ist, bei unvorhergesehener Wundversorgung oder zusätzlichen Leistungen im Medikamentenmanagement. Knifflig wird die Arbeit der Sozialversicherungsbeauftragten, wenn nur Teile von Rechnungen von den Versicherern bezahlt oder diese gar nicht beglichen werden. Um Rückweisungen entgegenzuwirken, empfiehlt sie den fallführenden Mitarbeitenden deshalb unter anderem, jeweils Mitte und Ende Monat zu prüfen, wie viel Zeit eingesetzt wurde und wie viel noch übrig ist für den Rest der Laufzeit der ärztlichen Verordnung. Zudem sollten nach Ansicht von Sigrid Rhyner alle Spitex-Mitarbeitenden zu den Inhalten des Leistungskatalogs, dem Erstellen von Verlaufsberichten sowie über Verrechnungsgrundsätze geschult sein. Wer regelmässige Kontrollen durchführe bei der Zeit- und Leistungserfassung, könne frühzeitig reagieren. Denn: «Die beste Rückweisung ist die, die nicht stattfindet», davon ist Sigrid Rhyner überzeugt.

Sigrid Rhyners praktische Tipps für die Zusammenarbeit
mit den Krankenversicherern

  • Proaktiv arbeiten
  • Bedarfsgerecht quantifizieren und pflegen
  • Alle Mitarbeitenden bezüglich Leistungs­katalog, Art der Leistungen und deren Verrechnung und Verlaufsberichten schulen 
  • Musterbriefe und Vorlagen für Wiedererwägungen bei Kostengutsprachen erstellen
  • Gute Gesprächsvorbereitung, bei komplexen Situationen digitalen Austausch nutzen (Teams-Besprechungen statt Telefonate)
  • Genügend Zeit einplanen, Protokoll führen
  • In der Organisation eine geschulte Person als Ansprechpartnerin mit diesen Aufgaben beauftragen 
  • Hemmschwellen zu Krankenversicherern abbauen und bei Fachfragen Kontakt aufnehmen
  • Besuche im Einsatz vor Ort organisieren (mit Einverständnis der Klient:innen)

Es hat sich bewährt, aktiv den Kontakt zu suchen, statt zu warten und zu reagieren.

SIGRID RHYNER

Sozialversicherungsverantwortliche Spitex Zürich

Agieren statt reagieren
Es liegt in der Natur der Sache, dass Spitex und Krankenversicherer nicht immer derselben Meinung sind, was die Abrechnung von Leistungen anbelangt. Typische Beispiele aus dem Leistungskatalog, die zu wiederkehrenden Diskussionen führen können, sind laut Sigrid Rhyner Hilfe beim Essen, Trinken und Gehen oder Bewegungsübungen. Was gilt es ihrer Ansicht nach bei der Beziehungspflege mit den Krankenversicherern zu beachten? Für die Sozialversicherungsbeauftragte ist klar: «Bei der Sache bleiben, respektvoll diskutieren, zuhören. Sehr wichtig ist es, dass man die gesetzlichen Grundlagen kennt, über ein solides Fachwissen verfügt und gemeinsam realistische Lösungen findet.» Für Sigrid Rhyner hat es sich auch bewährt, aktiv den Kontakt zu suchen, statt zu warten und zu reagieren. Gerade bei sich verändernden Pflegesituationen mit erhöhtem Bedarf, etwa bei demenziellen Entwicklungen, End-of-life-Situationen oder bei Stürzen mit kurzzeitiger Überschreitung der Quantifizierung, müssten die Krankenversicherer vorausschauend informiert werden. Schliesslich seien die Spitex-Organisationen laut Administrativ-Vertrag zur Information verpflichtet: «Indem man diese Verantwortung wahrnimmt, kann man Vertrauen schaffen», weiss die Sozialversicherungsbeauftragte aus Erfahrung. Um die Beziehung zwischen den Akteuren zu pflegen, führt Spitex Zürich einmal jährlich ein Krankenversicherer-Treffen zu aktuellen und wiederkehrenden Themen durch, im Anschluss daran findet ein Apéro statt. Sigrid Rhyner ist überzeugt davon, dass der beste Austausch beim persönlichen Gespräch stattfindet. Schlussendlich sei die Krankenversicherung eine Sozialversicherung mit solidarischem Prinzip, und die Klientinnen und Klienten, deren Pflege, Behandlung und Betreuung, stünden im Vordergrund: «Um dies zu erreichen, sollten Krankenversicherer und Leistungserbringer Hand in Hand arbeiten. Wir sind Geschäfts- und Vertragspartner.»

Ich bin der Ansicht, dass sich alle unterschiedlichen Ansichten mit etwas Kompromissbereitschaft lösen lassen.

BEAT ZURFLUH

Pflegecontroller ÖKK

Sich persönlich zu kennen, hilft beim gegenseitigen Verständnis
Dass es sich lohnt, gemeinsame Lösungen und Kompromisse zu suchen sowie den offenen Dialog zu pflegen, davon ist auch Beat Zurfluh überzeugt. Der 63-jährige diplomierte Pflegefachmann HF und Rettungssanitäter HF arbeitet seit 2015 als Pflegecontroller bei der ÖKK in Landquart (GR). Gemeinsam mit seinem Team prüft er unter anderem Verordnungen im ambulanten Pflegebereich und stichprobenweise auch die Rechnungsstellungen der Leistungserbringer, ihre Zulassungen oder die Qualifikationen der Mitarbeitenden. Überdies ist Beat Zurfluh sowohl interner Ansprechpartner, etwa für den vertrauensärztlichen Dienst, die Regress- und Rechtsabteilung oder Agenturmitarbeitende, als auch Anlaufstelle für Externe, wie die Spitex, Pflegeheime, Versicherte oder Sozialversicherungen. Danach gefragt, welche Themen und Anliegen ihn im Kontakt mit den Spitex-Organisationen des Kantons Graubünden am häufigsten beschäftigten, antwortet er: «Eine Frage, die regelmässig auftaucht, ist die, wie etwas verrechnet werden kann, wie eine Codierung zu interpretieren ist oder welche gesetzliche Vorgabe nun gilt. All dies besprechen wir regelmässig zusammen, entweder mit den einzelnen Spitex-­Organisationen oder alle zusammen an einem gemeinsamen Treffen.» Da sich die rechtlichen Grundlagen immer wieder änderten oder neue Trends aufkämen, sei dieser Austausch enorm wichtig, so der Pflegecontroller. Es gehe aber auch darum, sich persönlich kennenzulernen und einen Einblick in die ­jeweiligen Aufgaben zu erhalten, um sich gegenseitig besser zu verstehen. Dabei hilft Beat Zurfluh seine langjährige Berufserfahrung als Pflegefachmann: Bevor er zur ÖKK kam, arbeitete er unter anderem auf der Traumatologie und auf dem interdisziplinären Notfall am Kantonsspital Baden sowie bei der Flughafensanität in Zürich, zudem war er als Co-Pflegedienstleiter in einem Pflegeheim tätig.

Es lohnt sich, gemeinsame Lösungen zu suchen sowie den offenen Dialog zu pflegen.

BEAT ZURFLUH

Pflegecontroller ÖKK

Eine tragfähige und ausgewogene Zusammenarbeit
Als erfahrener Pflegefachmann und -controller kennt Beat Zurfluh auch die heiklen Momente in der Zusammenarbeit mit den Spitex-Organisationen. Potenzial für Konflikte entstünde seiner Erfahrung nach dort, wo es keine klare gesetzliche Regelung gebe oder etwas «schwammig» formuliert werde: «Das kommt im Rahmen der Pflegefinanzierung leider sehr häufig vor. Meistens sind es unterschiedliche Interpretationen von gesetzlichen Texten», so der Pflegecontroller. Ein «Klassiker» sei zudem die Unterscheidung zwischen Pflege- und ­Betreuungsleistungen.  Besonders im Rahmen der psychiatrischen Pflege komme es immer wieder zu Diskussionen, da die entsprechenden Artikel in der Krankenleistungsverordnung (KLV) ungenau formuliert seien. Gleichwohl sagt Beat Zurfluh: «Ich bin der Ansicht, dass sich alle unterschiedlichen Ansichten mit etwas Kompromissbereitschaft lösen lassen.» Gibt es nebst dem beruflichen auch einen persönlichen oder familiären Bezug zur Spitex bei Beat Zurfluh? Der Spitex sei er in seinem Leben dreimal begegnet: «Mein Vater war mehrere Jahre Präsident der Spitex in meinem Wohnkanton. Sein Engagement hat mich als Jugendlicher beeindruckt. Ein zweites Mal begegnete ich der Spitex während meiner Ausbildung zum Krankenpfleger AKP. Ich konnte im zweiten Lehrjahr ein Wunschpraktikum machen und wählte ein Spitex-Praktikum aus.» Ein drittes Mal begegnete Beat Zurfluh der Spitex dann 1992: «Ich war gerade zurück aus Australien, da hat mich die Spitex in meinem Wohnkanton angefragt, ob ich nicht für fünf Monate bei ihnen arbeiten könnte. Und so war ich fünf Monate lang ein Spitex-Mitarbeiter, was mir sehr gut gefallen hat.» 

Der Blick in den Arbeitsalltag von Sigrid Rhyner und Beat Zurfluh zeigt, dass am Ende des Tages die Gemeinsamkeiten, der persönliche Kontakt und das gegenseitige Verständnis helfen, eine tragfähige und ausgewogene Zusammenarbeit zu gestalten sowie Konflikte konstruktiv zu lösen.

ÖKK – Krankenversicherer mit einer langen Tradition
Der Krankenversicherer ÖKK mit Sitz in Landquart GR hat
192 700 Privatkunden und 12 800 Un­ternehmenskunden. Die Wurzeln der ÖKK reichen bis ins Jahr 1836 zurück. Die eigentliche Gründung der Stiftung ÖKK Graubünden geht auf das Jahr 1993 zurück, und nur ein Jahr später schlossen sich 42 kleine Bündner Krankenkassen zu ÖKK zusammen. Bei ÖKK arbeiten rund 460 Personen. Rund 50 Prozent der Bündner Bevölkerung sind bei ÖKK versichert, entsprechend befinden sich darunter viele Spitex-Klientinnen und -Klienten. 

→ www.oekk.ch

  1. Zuständig für die Verhandlungen ist die Verhandlungsdelegation «Administrativverträge», die aus Vertretenden der Spitex-
    Organisationen und -Kantonalverbände besteht und von Spitex
    Schweiz geleitet wird. Die Administrativverträge werden
    regelmässig angepasst, wenn sich die gesetzlichen Rahmenbe-
    dingungen ändern. Spitex Schweiz ist auch in Kontakt mit
    den Verhandlungsdelegationen von tarifsuisse, HSK und CSS, wenn grundsätzliche oder übergeordnete Fragen zu klären sind.
    Weiter unterstützt Spitex Schweiz einzelne Spitex-Organisationen, wenn es zu grösseren Problemen in der Zusammenarbeit mit
    den Versicherern kommt.
    ↩︎

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