«In der Schweiz fehlt eine Definition von ‹Gesundheit›»

Prof. Dr. Milo Puhan kennt das Schweizer Gesundheitswesen wie kein anderer. Der Zürcher Epidemiologe und ehemalige Präsident des Nationalen Forschungsprogramms (NFP) 74 «Gesundheitsversorgung» spricht im Beitrag über gesellschaftliche Trends und deren Auswirkungen auf das Gesundheitswesen. Und darüber, wie die Gesundheitsversorgung zu Hause im Jahr 2040 aussehen könnte.

So stellt sich Illustrator Jonas Raeber «Care@Home 2040» vor. Illustration: Jonas Raeber

EVA ZWAHLEN. Welche Ursachen und Auswirkungen haben Gesundheit und Krankheit in verschiedenen Bevölkerungsgruppen? Wie funktionieren bestehende Versorgungssysteme? Diesen und vielen anderen Fragen widmet sich Prof. Dr. Milo Puhan, Direktor des Instituts für Epidemiologie, Biostatistik und Prävention der Universität Zürich, in seiner Forschung. Immer im Fokus: die öffentliche Gesundheit. Spitex Schweiz beschäftigt sich derzeit damit, wie die Gesundheitsversorgung zu Hause 2040 aussehen wird – und fragt Milo Puhan darum, welche gesellschaftlichen Makrotrends das Gesundheitswesen der Zukunft hauptsächlich prägen werden. Der 50-Jährige nennt den demografischen Wandel, die Migration, die Individualisierung, die Arbeitswelt, die Digitalisierung sowie die Nachhaltigkeit. Und ergänzt: «Wichtig scheint mir, dass wir diese Trends nicht in Isolation voneinander anschauen, sondern unseren Fokus auf die jeweiligen Schnittpunkte legen.»

Gesellschaftliche Trends akzentuieren sich
Nebst den Versorgungsstrukturen interessiert sich der Gesundheitsexperte auch für die Menschen, die im Gesundheitswesen tätig sind. Seine Feststellung: «Die gesellschaftlichen Trends akzentuieren sich, und bei allen Beteiligten macht sich Frustration breit.» Die Ursache dieser Frustration ortet er etwa im Umstand, dass das Gesundheitssystem in «Silos» organisiert ist: «Wir haben in der Schweiz verschiedene Versorgungsstränge, die gut funktionieren, insbesondere bei Akuterkrankungen. Bei chronischen Erkrankungen und Multimorbidität jedoch, die 80 Prozent des Aufwands und der Kosten generieren, sind diese Silos nicht ideal.» 

Dazu komme ein Ausscheiden von – vor allem jüngeren – Gesundheitsfachpersonen aus dem Beruf, «das beunruhigt mich». Ein weiterer Grund für die genannte Frustration und mögliche Ursache für den Verlust an Fachpersonen: die Zunahme der Bürokratie, und zwar in allen Settings: «Heute verbringt das Personal seine Zeit mehrheitlich mit Administration statt bei den Menschen. Dies trägt nicht unbedingt zur Motivation bei», sagt der Forscher. Die Ressourcen würden folglich knapp, ein Kampf darum sei die Folge. Milo Puhan weist weiter darauf hin, dass die Schweiz mit Blick auf die Prävention und Gesundheitsförderung gesetzlich nicht besonders gut aufgestellt sei und hält gleichzeitig fest: «Zum Glück setzt sich nun vermehrt die Überzeugung durch, dass es sich lohnen würde, hier mehr zu investieren, um den Druck auf die Versorgung zu verringern.»

Kulturwandel ist nötig
Als ehemaliger Präsident des Nationalen Forschungsprogramms (NFP) 74 «Gesundheitsversorgung» (englisch «Smarter Health Care»; vgl. Kasten) hat sich Milo Puhan während fünf Jahren intensiv mit anwendungsorientierter Versorgungsforschung und dem Schweizer Gesundheitswesen beschäftigt. Das NFP 74, aus dem das heutige Netzwerk «Smarter Health Care» 1 hervorging, identifizierte als zentrales Handlungsfeld die zahlreichen Schnittstellen, die sich insbesondere bei der Versorgung älterer Patientinnen und Patienten mit mehreren, chronischen Erkrankungen ergeben. Eine Empfehlung lautete, die Ressourcen «smarter» zu vernetzen. Laut Milo Puhan spielt der gesellschaftliche Megatrend «Digitalisierung» hierbei eine wichtige Rolle als «Facilitator» (Ermöglicher). Im Kern handle es sich allerdings um einen Kulturwandel: «Es geht darum, den Menschen mit seinen gesundheitlichen Bedürfnissen, Vorlieben und Lebensumständen in den Mittelpunkt zu stellen sowie die Gesundheitsfachpersonen um ebendiese Menschen besser zu vernetzen, um ihnen gerecht zu werden.» «Smart» bedeute in diesem Zusammenhang das Zusammenspiel aller Involvierten: «Wenn die Digitalisierung hier hilft und unterstützen kann, dann ist sie hochwillkommen.» 

Laut NFP 74 ist eine gestärkte Gesundheitskompetenz 2 eine wichtige Voraussetzung dafür, dass eine künftige Gesundheitsversorgung auf den gesamten Lebenskontext des Menschen und partizipativ ausgerichtet werden kann. Dies bedinge allerdings ein gemeinsames Verständnis darüber, was Gesundheit überhaupt sei, sagt Milo Puhan: «In der Schweiz fehlt heute eine Definition dessen und der Dialog darüber, was mit ‹Gesundheit› genau gemeint ist.» Mit dem Netzwerk ­«Smarter Health Care» soll besagter Dialog zwischen den Akteuren gefördert werden. Um seine Aussage zu verbildlichen, beschreibt er einen grossen Tanker, der zwar immer besser ausgestattet sei, von dem wir aber nicht genau wüssten, wohin er steuere 3. «Gesundheit bedeutet nicht bloss das Fehlen von Krankheit. Man kann sich durchaus gesund fühlen und die Anforderungen des Lebens erfüllen, auch wenn man eine chronische Krankheit hat 4. Dies erfordert jedoch eine gewisse Gesundheitskompetenz und Unterstützung, wo nötig, durch das Gesundheits- und Sozialwesen.» Erst wenn wir wüssten, welche Ziele unser Gesundheits- und Sozialwesen verfolgen sollte und wie die Kompetenzen zwischen Kantonen und Bund dementsprechend verteilt würden, könne man die Gesundheitskompetenz gezielter fördern, ist Milo Puhan überzeugt. «Schlussendlich geht es darum, besagte Ziele mit den bestehenden Mitteln effizient zu erreichen.» 

Wir brauchen einen Dialog darüber, wie wir die
Versorgung bedürfnis-
orientiert und effizient gestalten.

Prof. Dr. Milo Puhan

Direktor des Instituts für Epidemiologie, Biostatistik und Prävention der Universität Zürich

Ein Blick auf die Gesundheitsversorgung im Jahr 2040
In Zukunft möchten noch mehr Menschen trotz Krankheit oder Behinderung zu Hause wohnen bleiben. Mit der zunehmenden Ambulantisierung und dank verbesserter medizinischer und technologischer Möglichkeiten wird dieser Wunsch für immer mehr Menschen ­Realität. Oft wird in diesem Kontext von sogenannten «sorgenden Gemeinschaften» (caring communities) gesprochen. Sie können helfen, bestehende Lücken hinsichtlich einer ganzheitlichen Langzeitversorgung zu schliessen. Welches Potenzial haben diese Gemeinschaften in einem künftigen Gesundheitssystem und insbesondere in der Langzeitpflege zu Hause? Dazu Milo Puhan: «Das NFP-Projekt 31 5 zeigte auf, dass lokale Akteure mit einem sogenannten ‹bottom-up approach› für sich selbst bestimmen müssen, wie sie eine sorgende Gemeinschaft gestalten wollen. Für gewisse Gemeinden ist es vielleicht die Nachbarschaftshilfe, für andere wiederum steht die bessere Vernetzung von Gesundheitsfachpersonen und dem Sozialen im Zentrum. So und bedürfnisorientiert eingesetzt, sehe ich Potenzial für sorgende Gemeinschaften in der Langzeitpflege zu Hause.» 

Für eine gelingende Gesundheitsversorgung zu Hause im Jahr 2040 seien verschiedene Akteure wichtig, etwa die Spitex, die Spitäler, Hausärztinnen und -ärzte, Gesundheitsligen, die erwähnten sorgenden Gemeinschaften, Angehörige, aber auch technische Hilfsmittel wie Telemedizin oder -pflege. Zentral ist laut Milo Puhan, dass sich alle Leistungserbringenden auf lokaler und kommunaler Ebene gut koordinieren: «‹Die› geeignete Lösung gibt es nicht. Lokale Sozialpartner und die Bevölkerung müssen diese gemeinsam erarbeiten und dabei lokale Aspekte berücksichtigen. Die Versorgung muss den Bedürfnissen entsprechen.» Dies bedinge eine sinnvolle Finanzierung und Koordination. Und: «Wir brauchen einen Dialog darüber, wie wir die Versorgung bedürfnisorientiert und effizient gestalten. Es sollte gelingen, die bestehenden Grenzen zu überwinden.»

Das war das NFP 74 

Mit dem 2015 lancierten Nationalen Forschungsprogramm (NFP) 74 «Gesundheitsversorgung» wurden die Struktur und die Nutzung der Gesundheitsversorgung in der Schweiz untersucht. Im Zentrum der Forschung stand die Optimierung von Ressourcen durch Verminderung von Unter- oder Überbeanspruchung von Leistungen. Ein Schwerpunkt lag auf der Prävention sowie auf der Behandlung von Menschen mit chronischen Erkrankungen. Zusätzlich wurde untersucht, inwiefern die Qualität der Gesundheitsversorgung auf Basis von vergleichbaren und verknüpften Schweizer Gesundheitsdaten verbessert werden könnte. 

→ www.nfp74.ch/de

  1. Das Netzwerk www.smarterhealthcare.ch verbindet Forschende, Politikerinnen und Politiker sowie Praktikerinnen und Praktiker. Milo Puhan ist Vorsitzender der Steuergruppe. ↩︎
  2. Gesundheitskompetenz ist die Fähigkeit des Einzelnen, im täglichen Leben Entscheidungen zu treffen, die sich positiv auf
    die Gesundheit auswirken. Ihre Stärkung in der Bevölkerung ist ein Ziel der bundesrätlichen Strategie Gesundheit2030.
    ↩︎
  3. «SMARTe» Ziele für das Schweizer Gesundheitssystem jetzt bestimmen. Milo Puhan In: Die Schweiz 2030, Schweizerische Bundeskanzlei (Hrsg.) und NZZ LIBRO, ISBN 978-3-03810-360-8. ↩︎
  4. Bircher J. «Meikirch model: new definition of health as hypothesis to fundamentally improve healthcare delivery», Integrated Healthcare Journal 2020;2:e000046. doi:10.1136/ihj-2020-000046, https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/37441316 ↩︎
  5. «Aufbau von sorgenden Gemeinschaften für die häusliche Langzeitpflege», www.nfp74.ch/de/hgGHLOOS0gdPUsfk/projekt/projekt-kaspar ↩︎

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