
«Ich brauche Wörter wie ein Fisch das Wasser»
Schriftstellerin Eveline Hasler, 91, spricht über ihr neuestes Buch «Der andere Mozart», Malerei, Aussenseiter – und die Bedeutung von Menschlichkeit am Lebensende.

SPITEX MAGAZIN: Frau Hasler, auch mit 91 Jahren scheinen Sie der Schriftstellerei nicht überdrüssig: Ihr neuestes Werk «Der andere Mozart» erscheint Mitte Oktober 2024. Was reizt Sie seit Jahrzehnten daran, insbesondere die Geschichten von Aussenseiterinnen und Aussenseitern zu erzählen?
EVELINE HASLER: Ich brauche Wörter wie ein Fisch das Wasser. Der Umgang mit Wörtern ist für mich längst zu einem Element geworden, das mir viel Energie und Freude gibt, mich über ungute Zeiten hinwegtröstet und mir Zufriedenheit zu empfinden hilft gegenüber dem, was ist. Die Gründe zu recherchieren, wieso manche Menschen zu Aussenseiterinnen und Aussenseitern wurden, reizt mich besonders. Denn aus dem Aufbereiten der Vergangenheit können wir viel lernen. Mozart wurde beispielsweise zum Aussenseiter, weil er ein Wunderkind und seiner Zeit voraus war: Viele Menschen hinterfragten sein Talent und missbilligten seine Kühnheit in Bezug auf die neuartige Kombination von Tönen. Mozarts Begabung führte zu einer gewaltigen Eifersucht, die ihn sein ganzes kurzes Leben lang begleitete.
Sie waren Sekundarlehrerin und sind Schriftstellerin. Gab oder gibt es auch einen anderen Beruf, von dem Sie träumten oder träumen?
Ich male bereits mein Leben lang, vor allem Aquarelle von Menschen, und habe meine Bilder auch schon ausgestellt. Der Beruf der Malerin wäre darum ebenfalls infrage gekommen. Zu meiner Leidenschaft für das historische Recherchieren hätte zudem der Beruf der Historikerin gepasst. Das Schreiben hatte mich aber schon früh so stark im Griff, dass andere Berufe keine Chance hatten.
Verraten Sie uns eine Ihrer Macken und Talente, die bisher eher unbekannt sind?
Ein wenig bekanntes Talent ist das Malen. Eine Macke ist, dass ich gern mit allen Menschen spreche. Ich will nicht zu neugierig sein, aber ich freue mich über jedes Kennenlernen und höre gerne zu, wenn jemand von sich erzählt. Hier im Tessin schätzen glücklicherweise viele Menschen diese Macke, weil sie sich über jede neue Bekanntschaft freuen.
Gibt es eine bekannte Person, welche Sie gern einmal treffen würden?
Ich hoffe, ich darf auch verstorbene Personen nennen: Mozart nicht nur durch seine Musik, sondern in Fleisch und Blut kennenzulernen, wäre schön. Ich würde ihn gern fragen, wie es war, mit einer Sonderbegabung in einer Zeit zu leben, die nicht bereit dafür war. Gerne kennenlernen würde ich auch verschiedene Frauen und Männer, die in unserer Welt für Frieden gesorgt haben. Mit ihnen würde ich darüber sprechen, wie man den Frieden nicht nur in sich selbst findet, sondern auch andere Personen dazu bringt, dass sie ihre Mitmenschen in ihrem Anderssein akzeptieren. Denn so schön wie Diversität in einer Blumenwiese ist, so schön ist sie unter uns Menschen.
So schön wie Diversität in einer Blumenwiese ist, so schön ist sie unter uns Menschen.Eveline Hasler
Schriftstellerin
Und zum Schluss: Was sind Ihre persönlichen Gedanken zur Spitex?
Als mein Mann noch lebte, hat eine Spitex-Mitarbeiterin alle drei Tage seinen Blutdruck gemessen. Weitergehende Erfahrungen mit der Spitex habe ich bisher nicht gemacht, ich kann aber etwas über die Pflege und Betreuung am Lebensende sagen: Weil mein Haus in Ronco sopra Ascona im August 2023 durch ein Unwetter beschädigt wurde, lebe ich derzeit in einem kleinen Appartement in einem Wohn- und Pflegeheim in Locarno. Hier habe ich beobachtet, dass Menschen in ihren letzten Tagen oft sehr allein sind. Es fehlt ihnen an Personen, die einfach nur bei ihnen sind, ihnen Zuwendung schenken und regelmässig für einen Händedruck und liebe Worte sorgen. Es nützt nichts, wenn wir Menschen immer verrücktere technische Erfindungen machen, wenn wir dabei das Menschliche vergessen. Wir alle sollten wie früher in unserem Zuhause sterben dürfen, umgeben von anderen Personen, welche uns als Menschen und nicht als Fälle betrachten. Macht die Spitex dies möglich, halte ich dies für wunderbar.
Interview: Kathrin Morf
Zur Person
Eveline Hasler wurde am 22. März 1933 in Glarus geboren. Sie studierte Psychologie und Geschichte in Freiburg und Paris und war danach als Sekundarlehrerin tätig. Ab den 60er-Jahren verfasste sie Bücher für Kinder und Jugendliche, unter anderem «Komm wieder, Peppino». 1979 erschien mit «Novemberinsel» ihr erstes Werk für Erwachsene. Seither hat sie zahlreiche Romane verfasst, die in zwölf Sprachen übersetzt wurden und sich oft der Schweizer Geschichte widmen – wie ihr Beststeller «Anna Göldin. Letzte Hexe» (1982). Auch Gedichtbände hat sie publiziert. Für ihre Werke wurde die «Grande Dame der historischen Literatur» oft ausgezeichnet, zuletzt 2023 mit dem Glarner Kulturpreis.
Heute lebt die 91-jährige verwitwete Mutter dreier Kinder im Tessin, wo sie gern Spaziergänge unternimmt. Ihre zuletzt erschienenen Werke sind Neuauflagen der Kinderbücher «Im Traum kann ich fliegen» (2020) und «Die Nacht im Zauberwald» (2021), jeweils erschienen im NordSüd Verlag. Mitte Oktober 2024 erscheint im Verlag Nagel und Kimche ihre neue Novelle «Der andere Mozart». Eveline Hasler beleuchtet darin die bekannten und unbekannten Seiten von Wolfgang Amadeus Mozart – und zeigt auf, was der Musiker mit dem Glarner Riesen Melchior Thut gemeinsam hat.