Der Tod ist ein Teil ihres Berufs – aber nie Routine

Vier Mitarbeitende der ambulanten Pflege aus vier Kantonen – von der Psychiatrie-Spitex genauso wie von der Palliative Care und von der somatischen Spitex genauso wie von einem Kinderhospiz – sprechen über ihre erste berufliche Konfrontation mit dem Tod, von ihrer persönlichen Verarbeitung von Todesfällen und von bleibenden Erinnerungen rund um den Tod im beruflichen Alltag.

TEXTE: KATHRIN MORF, FLORA GUÉRY UND EVA ZWAHLEN

1) Markus Bussinger, Pflegefachmann Psychiatrie
bei der Spitex Seeland (BE)
2) Martine Taccoz, Fachfrau Gesundheit (FaGe) bei der Spitex des Gesundheitsnetzes Saane
3) Anna Wagner, Pflegefachfrau im Palliativ- und Onko-Spitex-Team von SPITEX BASEL
4) Salome Ruckstuhl, Pflegeexpertin im Berner Kinderhospiz allani

Eine erlöschende Kerze ist ein Symbol für das Ende des Lebens – und Kerzen kommen während Abschiedsritualen der Spitex oft zum Einsatz. Themenbild: Michel Lüthi

Markus Bussinger, Pflegefachmann Psychiatrie bei der Spitex Seeland (BE), erzählt von frühen Konfrontationen mit dem Tod, von Suiziden und von seiner Trauer um einen langjährigen Klienten. 

Wir alle sollten unseren Schmerz über einen Todesfall beruflich und privat annehmen können –
und ihn auf unsere ganz persönliche Art und Weise verarbeiten, bis er weniger wird.

Markus Bussinger

Pflegefachmann Psychiatrie Spitex Seeland

An einem Morgen im November 2024 fand Spitex-Mitarbeiter Markus Bussinger einen Mann tot auf, den er zehn Jahre lang wegen verschiedener psychischer Erkrankungen gepflegt hatte. Als der alarmierte Arzt den Tod durch Herzinfarkt bestätigte, verliess der Pflegefachmann Psychiatrie die Wohnung – und weinte. «Trauer ist nicht unprofessionell, sie ist menschlich», sagt er. 

Frühe Begegnung mit dem Tod
«Dass der Tod zum Leben gehört, habe ich schon als Kind begriffen», sagt der 64-Jährige aus Langendorf (SO), der für das Psychiatrieteam der Spitex Seeland (BE) arbeitet. «Zum ersten Mal bin ich dem Tod früh in meiner Kindheit begegnet, als sich meine depressive Urgrossmutter das Leben nahm», erzählt er im Interview. Ihn habe damals gestört, wie abwertend manche Menschen über das Ereignis sprachen, denn bis heute liege ihm der Respekt vor allen Toten am Herzen. Was nach dem Tod komme, sei für ihn offen, fügt er dann nachdenklich an. «Ich spüre zwar, dass da irgendetwas ist, das über unser irdisches Leben hinausgeht. Aber ich kann aushalten, dass ich nicht weiss, was das ist.»

Seine Laufbahn startete Markus Bussinger in einer psychogeriatrischen Einrichtung und erlebte dort bald seinen ersten beruflichen Todesfall mit: Der Auszubildende hatte einen besonderen Draht zu einer Klientin, die ihre Pflegerinnen und Pfleger des Öfteren kratzte und anspuckte. «Als sie wegen einer schweren Grippe ihren letzten Atemzug tat, durfte ich ihre Hand halten. Dabei wirkte sie zum ersten Mal völlig entspannt», erzählt er. 

An seinem ersten Arbeitsplatz wurde Markus Bussinger häufig mit Suiziden konfrontiert. «Mir ist bewusst, dass ein assistierter Suizid für psychisch kranke Menschen ein rechtlich und ethisch äusserst heikles Thema ist. Ich wünsche mir hier aber endlich eine offene Diskussion», sagt er. «Denn meine Erfahrung zeigt: Wenn jemand wirklich sterben will, findet er trotz aller Zwangsmassnahmen einen Weg. Und oft ist dies ein Weg voller Leid für die Betroffenen und weitere Beteiligte.»

Bei der Spitex ist der Tod seltener
Später arbeitete Markus Bussinger auf einer Notfallstation und erfuhr dort, dass viele Mitarbeitende sich nicht gerne um die Angehörigen von Verstorbenen kümmerten. «Der Tod gehört zum Leben und damit auch zum Gesundheitswesen. Ich schätze es sehr, dass ich bis heute vielen Angehörigen von Verstorbenen beistehen durfte», betont er.

Vor elf Jahren wechselte Markus Bussinger ins Psychiatrieteam der Spitex Seeland, wo er heute im 50-Prozent-Pensum rund 18 Klientinnen und Klienten pro Woche betreut. Bei der Spitex ist er so glücklich, dass er seine Pensionierung gegen hinten verschoben hat. Der Tod ist hier seltener als an seinen früheren Arbeits­orten. Im Gedächtnis geblieben seien ihm zum Beispiel die beiden Suizide, die er bei der Spitex miterlebt hat: Ein Klient nahm sich im Spital das Leben und eine Klientin fand er tot in deren Wohnung auf. «Bei beiden lag ein inniger, seit Langem gehegter Todeswunsch vor, der nicht mit einer vorübergehenden Lebenskrise oder dem Wunsch nach Aufmerksamkeit oder Veränderung erklärbar war. Das hat mir die Verarbeitung dieser Todesfälle erleichtert», sagt er.

Den Schmerz annehmen
Dann spricht der Pflegefachmann erneut über den Tod des herzkranken Mannes. Zwei Wochen zuvor war der Vater von Markus Bussinger verstorben, und der Tod des Klienten habe sich ebenfalls angefühlt, als wäre ein Familienmitglied gestorben, schliesslich habe er den Mann ein Jahrzehnt lang eng begleitet. Die Ersthelfer boten dem Spitex-Mitarbeiter damals die Betreuung durch ein Care-Team an, aber er lehnte ab und fuhr zu seinem nächsten Einsatz. «Später zündete ich am Grab des Mannes eine Kerze an. Professionelle Hilfe brauchte ich beim Trauern bisher nicht», berichtet er. «Und sollte sich dies einmal ändern, könnte ich jederzeit auf mein Spitex-Team zählen.» Besonders gut könne er mit einem Todesfall umgehen, wenn der Mensch nach seinen Wünschen sterben konnte. «Beispielsweise konnte ich mich erfolgreich dafür einsetzen, dass mein Vater die Hand meiner Mutter halten durfte, als sie nach langer Krankheit im Spital starb. So hatte sie es sich gewünscht.»

Durch jede seiner Erfahrungen hat Markus Bussinger mehr zum Umgang mit dem Tod gelernt. «In der Pflegeausbildung kann man für das Thema sensibilisieren. Aber der wichtigste Lehrmeister im Umgang mit dem Tod ist das Leben selbst», sagt er am Ende des Interviews. «Mein Wunsch ist, dass in der Pflege breit akzeptiert wird, dass Trauer erlaubt ist und ihre Zeit braucht. Wir alle sollten unseren Schmerz über einen Todesfall beruflich und privat annehmen können – und ihn auf unsere ganz persönliche Art und Weise verarbeiten, bis er weniger wird.»


Martine Taccoz, Fachfrau Gesundheit (FaGe) bei der Spitex des Gesundheitsnetzes Saane, über prägende Todesfälle, vergossene Tränen und die Bedeutung des Respekts vor individuellen Entscheidungen.

Wenn jemand zu Hause sterben will, tun wir alles, um dies zu ermöglichen.

Martine Taccoz

FaGe Gesundheitsnetz Saane

 «Als Kind hatte ich grosse Angst vor dem Tod. Heute ist er Teil meines Lebens», sagt Martine Taccoz, Mutter von zwei Töchtern und Fachfrau Gesundheit (FaGe) aus Leidenschaft. Seit zehn Jahren arbeitet sie bei der Spitex des Gesundheitsnetzes Saane. An ihren ersten Todesfall erinnere sie sich noch gut. Die gut 80-jährige Klientin habe sie wie üblich beim Grundpflege-Einsatz begrüsst. «Sie wollte gerade ihre Zahlungen vorbereiten und sagte dabei zu mir: ‚Man kann nie wissen.‘» Die Klientin habe gelassen gewirkt, allerdings ein gewisses Unwohlsein signalisiert. Martine Taccoz mass den Blutdruck, schlug ihr vor, ihren Arzttermin vorzuverlegen und fragte schlussendlich, ob sie noch etwas brauche. Alles schien in Ordnung. Noch am selben Nachmittag entdeckte eine Arbeitskollegin die Klientin tot im Bett. «Diese Frau schien ihr Ende zu spüren. Und ich habe sie wohl in ihren letzten Momenten begleitet», erinnert sich Martine Taccoz. Obwohl es sich um einen natürlichen Tod handelte, meldete sich später die Polizei bei ihr, da sie die letzte Person gewesen war, welche die 80-Jährige lebend gesehen hatte. «Wir sind da, um zu pflegen und zu begleiten. Und plötzlich ist man verdächtig. Das verunsichert», erzählt sie.

«Wir arbeiten ohne Rüstung»
Die 41-Jährige aus Marly (FR) stelle sich den Gefühlen, die der Tod bei ihr auslöse. Und so komme es vor, dass sie Tränen vergiesse – manchmal vor den Angehörigen, manchmal allein in ihrem Auto. «Das ist kein Mangel an Professionalität, sondern menschlich. Wir arbeiten ohne Rüstung», erklärt sie. Nach jedem Todesfall sendet das Team eine Beileidskarte an die Familie – als Zeichen der Beziehungen, die Tag für Tag und zum Teil über Jahre hinweg geknüpft werden. «Wir kennen ihr Leben, sie kennen unseres», betont Martine Taccoz. 

Manche Todesfälle lösten bei ihr ein Gefühl der Ungerechtigkeit aus. So berichtet sie von einem Klienten, Vater eines sechsjährigen Kindes, der den Kampf gegen seine Krankheit an einem 20. Dezember verlor und bis dahin gehofft hatte, Weihnachten mit seiner Familie zu verbringen. «Er war im gleichen Alter wie ich. Man projiziert sich ein Stück weit selbst in die Situation hinein und denkt an seinen eigenen Tod», sagt Martine Taccoz sichtlich gerührt. Seither sei der Tod für sie kein Tabuthema mehr: «Ich weiss, was ich will, und habe dies bereits mit meinen Kindern und meinem Mann besprochen – sogar mit Arbeitskollegen.» Und dann gebe es auch besonders schlimme Situationen: Martine Taccoz erzählt von einer Kollegin, die einen Klienten nach einem Suizid entdeckte. «Ich stellte mir vor, wie es sich wohl anfühlte, an ihrer Stelle zu sein. Keine Ahnung, ob ich es geschafft hätte, so ruhig zu bleiben wie sie», räumt sie ein. Das Gesundheitsnetz Saane bietet eine Telefonnummer an, unter der man anonym psychologische Hilfe in Anspruch nehmen kann. Auch wenn Martine Taccoz diese noch nie genutzt hat, finde sie sie hilfreich, sagt sie. Ihr persönlich helfe der Austausch mit ihren Kolleginnen und Kollegen im Rahmen von Teamsitzungen. Manchmal sprächen sie auch über den Tod einer Klientin oder eines Klienten: «Heute gelingt es mir besser als früher, damit umzugehen», betont sie.

Entscheidungen bis zum Schluss respektieren 
Unlängst nahm Martine Taccoz an einer Schulung des mobilen Palliativteams Voltigo teil. Dabei habe sie unter anderem gelernt, Situationen am Lebensende besser vorauszusehen und die Vorboten des Todes zu erkennen: «So wird würdiges Sterben mit Respekt möglich.» Bevor Martine Taccoz zur Spitex kam, arbeitete sie neun Jahre lang in einem Alters- und Pflegeheim, wo es immer wieder mal zu Todesfällen kam: «Bei der Spitex werden die Menschen oft in ein Heim oder Spital verlegt, bevor sie  sterben. Todesfälle zu Hause sind selten», sagt sie. Versterbe doch jemand daheim, sei sie jedes Mal betroffen. Die Spitex-Mitarbeiterin betont weiter, wie wichtig es sei, individuelle Entscheidungen zu respektieren, wenn der grosse Abschied bevorstehe. Besonders bedeutsam sei es für sie gewesen, ihren Vater als Tochter und FaGe bis zum Schluss zu begleiten. Als ehemaliger Koch habe dieser jede künstliche Ernährung abgelehnt – eine Entscheidung, die sie gegenüber anderen Fachpersonen unbedingt  durchsetzen wollte. Diese und andere Erfahrungen im Rahmen ihrer FaGe-Arbeit hätten ihre Sicht auf den Tod grundlegend verändert. «Jeder Mensch sollte, wenn möglich, so gehen können, wie er es sich wünscht», sagt sie. Und mit einem gewissen Stolz in der Stimme: «Wenn jemand zu Hause sterben will, tun wir alles, um dies zu ermöglichen, und wenn diese Person dann in Frieden stirbt – das ist ein gutes Gefühl.»


Die 48-jährige Pflegefachfrau Anna Wagner arbeitet im Palliativ- und Onko-Spitex-Team von SPITEX BASEL. Für sie gehört der Tod wie die Geburt zum Leben dazu.

Jede Kultur, Religion und jeder Mensch ist einzigartig,
entsprechend sind es auch die
Reaktionen auf den Tod.

Anna Wagner

Pflegefachfrau SPITEX BASEL

Bei der Arbeit täglich mit dem Tod konfrontiert zu werden, ist für die meisten von uns keine angenehme Vorstellung. Und doch sind Leben und Tod manchmal näher beieinander, als wir denken. Anna Wagner arbeitet als diplomierte Pflegefachfrau und Spezialistin Palliative Care im Palliativ- und Onko-­Spitex-Team von SPITEX BASEL. Sie sagt, für sie sei es erfüllend, Menschen in emotionalen Ausnahmezuständen zu begleiten und ihnen die Angst vor dem Unbekannten zu nehmen. Und ergänzt: «Es geht bei meiner Arbeit nicht um den Tod, sondern um das Leben». 

Zum Sterben in einen Nebenraum
Anna Wagners erste Begegnung mit dem Tod sei lange her: «Während meiner Ausbildung zur Pflegefachfrau in Dresden wurden die Menschen noch zum Sterben in einen Nebenraum und – nachdem sie gestorben waren – in den Keller gebracht.» Das Thema ‹Tod› sei während der Ausbildung nicht gross behandelt worden, schildert sie rückblickend. Und fügt an: «Ich denke, in erster Linie muss man mit seiner eigenen Endlichkeit zurechtkommen.» Nach Abschluss der Ausbildung arbeitete Anna Wagner, die aktuell ein MAS-Studium in Pallia­tive Care in Salzburg (A) absolviert, einige Jahre in einem Hospiz in Bietheim-Bisingen bei Stuttgart (D). An ihre erste Sterbebegleitung könne sie sich noch gut erinnern: «Ein älterer Mann kam bereits sterbend und nicht mehr ansprechbar im Hospiz an. Mit seinem Sohn war er lange Jahre zerstritten, und erst seit Kurzem hatten sie wieder Kontakt.» Der Mann habe drei Tage lang in sterbendem Zustand auf seinen Sohn gewartet und sei dann nach dessen Ankunft eingeschlafen.

Abschlussgespräch ist spendenfinanziert
Die Spitex betreut Menschen unterschiedlicher Herkunft. Welche aussergewöhnlichen Erlebnisse nach einem Todesfall gab es im Arbeitsalltag von Anna Wagner? «Jede Kultur, Religion und jeder Mensch ist einzigartig, entsprechend sind es auch die Reaktionen auf den Tod.» So würde das Team es immer wieder mal erleben, dass bei Menschen Reanimationsversuche gestartet oder die Rettungsdienste gerufen würden – obwohl diese bereits verstorben seien. Das sei manchmal schwer nachvollziehbar, könne aber für Angehörige wichtig sein, damit sie das Gefühl hätten, alles Mögliche unternommen zu haben. Den Angehörigen nach dem Tod begleitend zur Seite zu stehen, sei grundsätzlich möglich. Allerdings nur in beschränktem Masse: «Wenn es gewünscht ist, können wir ein Abschlussgespräch mit ihnen führen, das spendenfinanziert ist.» Anna Wagner, die seit über sieben Jahren bei SPITEX BASEL arbeitet, fügt an, dass das Team gern eine längere Begleitung anbieten würde. Dies scheitere aktuell an der Finanzierung. Wenn eine Klientin oder ein Klient versterbe, seien die Spitex-Mitarbeitenden in der Regel aber durchaus in einem engen Austausch mit den Angehörigen. Zudem informiere die Spitex, falls dies von den Angehörigen gewünscht sei, das involvierte Netzwerk, führt Anna Wagner weiter aus.

Beim Verarbeiten hilft der Glaube
Auch Spitex-Mitarbeitende trauern beim Tod von Klientinnen und Klienten. Die 48-jährige Pflegefachfrau und Mutter einer 17-jährigen Tochter beschreibt es so: «Grundsätzlich kann ich mit einer gewissen Distanz arbeiten. Dies bedeutet aber nicht, dass ich nicht auch mit den Kundinnen und Kunden und ihren Angehörigen emotional mitschwinge.» Allerdings gebe es schon auch Todesfälle, die ihr besonders nah gingen: «Wenn ich erlebe, dass Menschen sehr einsam waren und darunter litten – das ist schwierig.» Beim Verarbeiten von Todesfällen helfe Anna Wagner in erster Linie der christliche Glaube. Zudem sei für sie auch der administrative Austritt zu einem Abschiedsritual geworden. Für die Spitex-Mitarbeiterin gehöre der Tod wie die Geburt zum Leben dazu – und dies bereits seit der Kindheit: «Als Kind habe ich mir als ‹Kreuzträgerin› auf dem Friedhof mein Taschengeld aufgebessert. Als ich 14 war, starb meine Schwester mit 22 Jahren. Seitdem begleitet der Tod mich mehr oder weniger.» Für sie gehe das Leben nach dem Tod weiter: «Er bedeutet nur einen Übergang in das nächste Leben. Und dieses sieht bestimmt anders aus, als wir uns das vorstellen.»


Salome Ruckstuhl ist Pflegeexpertin im Berner ­Kinderhospiz allani. Sie erzählt von einprägsamen Erfahrungen mit Todesfällen im Beruf, von ihrer Unterstützung der Familie und von der Wichtigkeit von Abschiedsritualen.

Eine Mama hat mir einmal
gesagt, dass man nie näher dran ist an der Liebe wie beim ersten und letzten Atemzug des eigenen Kindes.

Salome Ruckstuhl

Pflegeexpertin Kinderhospiz allani

«Das Vergehen gehört zum Leben dazu. Aber wenn Kinder sterben, entspricht das irgendwie nicht einem natürlichen Zyklus, sagt Salome Ruckstuhl, Pflegeexpertin im Berner Kinderhospiz allani. «Ich sage mir darum, dass diese Kinder ihren ganz eigenen kleinen Kreislauf haben – und auf diesem möchte ich sie bestmöglich begleiten.» 

Erster Todesfall in der ersten Nacht
Bereits in der ersten Nachtwachte ihrer Pflegeausbildung fand Salome Ruckstuhl eine betagte Patientin tot auf. Erst sei sie etwas überfordert gewesen, habe dann aber auf ihre Intuition vertraut. «Ich wusch die Verstorbene und berührte dabei erstmals einen toten Menschen, was ungewohnt war», erzählt die 35-Jährige. «Diese Skills lernt man erst im beruflichen Alltag. Und ich wünsche jeder unerfahrenen Pflegefachperson, dass sie dabei kompetent begleitet wird.»

Später arbeitete sie auf der Kinderonkologie und musste in einem Spätdienst zwischen zwei Zimmern hin- und herwechseln: In einem Zimmer war gerade ein Kind gestorben, und im anderen hatte ein Kind soeben die Diagnose Leukämie erhalten. «Dieser Spagat hat mich fast zerrissen. Und ich dachte mir, dass es würdevoller wäre, ein Kind woanders als in einem Akutsetting auf seiner letzten Reise zu begleiten», sagt sie. «Mit dem allani habe ich einen solchen Ort gefunden.»

Vom allani und vom Respekt für den Tod
Salome Ruckstuhl war am Aufbau des ersten Kinderhospizes der Schweiz beteiligt, das im August 2024 eröffnete und seit April 2025 Mitglied von Spitex Schweiz ist. 24,2 Vollzeitstellen zählt das allani, das Platz für sechs kranke Kinder und deren Familien bietet – für Kurzzeitpflege (eine bis vier Wochen jährlich), Überbrückungspflege nach einem Spitalaufenthalt oder die Begleitung während der letzten Lebensphase. Heute arbeitet ­Salome Ruckstuhl im allani zu 70 Stellenprozent in der Schichtleitung sowie im Qualitätsmanagement.

Sie habe Respekt vor dem Tod, «diesem grossen ­finalen Übergang, der für mich ein Mysterium bleibt», sagt sie und fährt fort: «Der Tod eines Kindes verlangt von sämtlichen Beteiligten alles ab, lässt sie aber auch eine unvergleichbare Tiefe und Verbundenheit spüren. Eine Mama hat mir mal gesagt, dass man nie näher dran ist an der Liebe wie beim ersten und letzten Atemzug des eigenen Kindes. Das hat mich sehr bewegt.» 

Im Kinderhospiz allani wird jeweils eine Kerze in diesem Menschenkreis entzündet, wenn ein Kind stirbt. Bild: zvg

Ein Tod mit Blick auf die Sterne
Beim ersten von bisher vier Todesfällen im allani war Salome Ruckstuhl vor Ort. «Die Situation war unfassbar traurig, aber auch berührend: Das Zimmer des vierjährigen Mädchens war liebevoll dekoriert mit Weihnachtsschmuck, persönlichen Gegenständen sowie einem Betthimmel, und das Dachfenster erlaubte den Blick auf die Sterne.» Das Mädchen habe – so weit beurteilbar – schmerzfrei und würdevoll gehen dürfen, während die Eltern neben ihm lagen und ihre Hände beim letzten Ausatmen auf ihren Brustkorb legten. 

«Nach dem Tod eines Kindes steht die Welt einen Moment lang still», sagt die Pflegeexpertin, die jeweils ein Fenster öffnet, «um die Seele fliegen zu lassen». Ihr Fokus liegt dann auf den Bedürfnissen und Wünschen der Eltern und Geschwister. «Kurz nach dem Tod der Vierjährigen war ihre kleine Schwester zum Beispiel sehr hungrig. Solche Anliegen sind eben auch wichtig.»

In den meisten Fällen waschen zwei Mitarbeitende das verstorbene Kind. Es habe aber auch bereits ein islamischer Priester diese Waschung übernommen. «Die individuelle religiöse oder spirituelle Ausrichtung der Familie wird im allani berücksichtigt», berichtet Salome Ruckstuhl. Bis der Bestattungsdienst das Kind abholt, sorgen die Pflegefachpersonen jeweils für eine geschützte Atmosphäre für die Angehörigen. Zudem gestalten sie Trauerrituale mit und bieten der Familie ihre eigene sowie externe Unterstützung bei der Trauerarbeit an. Salome Ruckstuhl wünscht sich, dass die Betreuung betroffener Familien künftig länger verrechenbar ist. «Im allani finanzieren wir zum Beispiel drei Sitzungen Trauerbegleitung mit», erklärt sie.

Die Wichtigkeit von Ritualen
Bewusst Abschied zu nehmen, sei auch für Pflegende wichtig, betont sie. «In unserem Kinderhospiz gibt es darum Gefässe wie Nachbesprechungen im Team sowie Einzelgespräche mit internen und externen Fachpersonen. Und ich bin ein Fan von Abschiedsritualen wie dem Anzünden von Kerzen und dem Teilen von Erinnerungen im engen Kreis. Beerdigungen mag ich weniger, weil mich die Dichte an Trauernden überfordert.» 

Die ersten schweren Gefühle nach einem Todesfall macht Salome Ruckstuhl meistens mit sich selbst aus, etwa im Wald oder beim Yoga, und es fliessen auch Tränen. Später helfen ihr Gespräche mit Mitmenschen. «Ich kann mich einer beruflichen Situation rund um den Tod zwar voll hingeben – das Erlebte dann aber auch wieder loslassen», sagt sie abschliessend. «Das heisst jedoch keinesfalls, dass ich die verstorbenen Kinder vergesse: Die Erinnerungen an sie haben irgendwo tief in mir ein Plätzchen, wo sie friedlich bleiben dürfen.»

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