
Dank Teilzeitarbeit können Spitex-Mitarbeitende Lebensträume verfolgen
Zwei Beispiele zeigen: Wer bei der Spitex Teilzeit arbeitet, hat genügend Freiraum für eine zweite Leidenschaft. Bestare Karasek, FaGe bei Spitex Zürich, war eine von nur zwei professionellen Mixed-Martial-Arts-Kämpferinnen der Schweiz. Und Aurel Spahni, Pflegefachmann HF bei der Spitex Biel-Bienne Regio, kümmert sich in Teilzeit um die Gesundheit von Menschen in Haft und im Vollzug.

Bild: Que JayTee
KARIN MEIER. Schlagen, Ringen, Treten: Bei Mixed Martial Arts werden unter anderem Techniken aus Boxen, Karate, Brazilian Jiu-Jitsu, Judo und Ringen eingesetzt. Wer sich für diese Sportart entscheidet, muss hart im Nehmen sein. Das ist Bestare Karasek. Ab und zu ein blaues Auge und Prellungen gehören mit dazu. Die 35-Jährige hat bereits mit acht Jahren mit Karate angefangen und wechselte dank ihres ausgeprägten Wettkampfgeists schnell von der Amateur- in die Profiklasse. Dann lebte Bestare Karasek, die damals noch Kicaj hiess, vorübergehend im Tessin, führte dort eine toxische Beziehung, hörte auf zu trainieren und fiel in eine Magersucht. Die Rückkehr nach Zürich und ins Training brachte die Wende: In ihrem Karate-Club wurde auch Mixed Martial Arts unterrichtet, Bestare Karasek probierte es aus, war begeistert – und stieg voll ein. Das war 2012.
«Was, Sie?»
Fortan gehörten zwei tägliche Trainingseinheiten à 90 Minuten zum Alltag von Bestare Karasek. Für sie war stets klar, dass ihre Arbeitszeiten dies ermöglichen mussten. Zunächst arbeitete die gelernte Fachfrau Gesundheit (FaGe) vorwiegend an den Wochenenden bei einem Sicherheitsdienst. Über eine Kollegin bei Spitex Zürich fand sie vor acht Jahren eine Temporärstelle in der Pflege zu Hause. «Bevor ich die Spitex kennenlernte, war ich der Meinung, das sei nichts für mich», erzählt sie. Der Betrieb erwies sich jedoch als anders als erwartet: «Ich wurde in einem selbstorganisierten Team eingesetzt. Dies bedeutet mehr Verantwortung, aber auch mehr Freiheit.» Die Organisationsform und die Arbeit sprachen sie derart an, dass sie in eine Festanstellung mit einem 80-Prozent-Pensum wechselte.
Ihre Klientinnen und Klienten wissen um ihre ungewöhnliche Freizeitbeschäftigung. Die häufigste erste Reaktion lautet «Was, Sie?!» und ist zu erklären mit dem Äusseren und dem Auftreten von Bestare Karasek: Sie ist zierlich, spricht mit sanfter Stimme, wirkt nicht im Mindesten aggressiv und entspricht damit so gar nicht dem Bild, das sich so mancher von einer Mixed-Martial-Arts-Kämpferin macht. «Viele Klientinnen und Klienten sagen mir, dank mir würden sie Mixed Martial Arts mit anderen Augen betrachten. Es freut mich sehr, dass ich zur Aufklärung über diese Sportart beitragen kann», sagt sie. Neue Klientinnen und Klienten besucht Bestare Karasek allerdings nicht, wenn sie sich mal wieder ein blaues Auge eingefangen hat. Sie fehlt aber auch nicht bei der Arbeit, wenn sie sich verletzt hat: Als sie sich im Training den Daumen brach, übernahm sie vorübergehend Büroarbeiten. Krankgeschrieben war sie in all den Jahren ein einziges Mal, wegen einer Knieverletzung. «Spitex Zürich hat meine Leidenschaft stets mitgetragen», lobt sie.

Viele Klientinnen und Klienten
sagen mir, dank mir würden sie
Mixed Martial Arts mit anderen Augen betrachten.
BESTARE KARASEK
FaGe bei Spitex Zürich
Zwei Stellen mit fixen Arbeitstagen
Gut 100 Kilometer westlich von Zürich ist die Spitex Biel-Bienne Regio AG tätig. In ihren Reihen findet sich ebenfalls ein Teilzeitmitarbeitender, der zwei berufliche Leidenschaften gleichzeitig verfolgt: Einen Tag pro Woche arbeitet Aurel Spahni als Pflegefachmann HF bei der Spitex, zwei Tage ist er im Regionalgefängnis Biel tätig. Dort ist er Teil eines dreiköpfigen Pflegeteams, das den Gesundheitsdienst für die rund 40 Personen in U-Haft und im Vollzug stellt. Zu seinen Aufgaben gehören die Gesundheitserfassung beim Eintritt samt Abklärung von Medikamenten und Suizidalität, die Selektionierung der Anfragen für die Besuche des Hausarztes und der Psychiaterin und die Abgabe von Medikamenten. «Die Inhaftierten befinden sich in einer Ausnahmesituation. Die Mehrheit benötigt Beruhigungs- und Schlafmedikamente sowie Psychopharmaka», sagt er. Die Frauen im offenen Vollzug, die Geldbeträge absitzen, sind zudem vielfach drogenabhängig. Für sie müssen ärztlich verschriebene Substitutionen gefunden werden.

Die Mitglieder des Gesundheitsdienstes sind weiter dafür verantwortlich, dass alle notwendigen Behandlungen gemacht werden – aber keine nicht dringenden. «Viele Menschen möchten die Zeit im Regionalgefängnis zur Aufbesserung ihrer Gesundheit nutzen und verlangen Zahnrekonstruktionen und Operationen», sagt Aurel Spahni. Es sei deshalb wichtig – und zuweilen herausfordernd – dass man die nötige Distanz zu den Inhaftierten bewahre und sich nicht manipulieren lasse. Um sich bei der Arbeit nicht zu gefährden, trägt der Pflegefachmann immer einen Pager mit einem Notfallknopf auf sich. Gedrückt hat er ihn erst einmal: Als ein Insasse mit einer Selbstverletzung drohte, forderte Aurel Spahni zur Sicherheit Verstärkung an.
Zur Stelle im Regionalgefängnis Biel ist Aurel Spahni über die Spitex Biel-Bienne Regio AG gekommen. Er hatte sich dort vor drei Jahren für eine 80-Prozent-Stelle beworben, die auch den Gesundheitsdienst im Regionalgefängnis abdeckte. Als die walk-in-lyss ag diese Aufgabe von der Spitex übernahm, wollte sie Aurel Spahni «behalten». Dieser konnte sein Pensum bei der Spitex Biel-Bienne Regio AG auf 40 Prozent reduzieren und sagte zu. «Zu Beginn hatte ich Bedenken, ob ich die beiden Stellen würde miteinander vereinbaren können. Denn ich bin nicht gerade ein Profi im Vorausplanen», räumt er ein. Die Sorgen erwiesen sich jedoch als unbegründet: Weil die Einsätze im Gefängnis lange im Voraus geplant werden, kann er der Spitex früh mitteilen, an welchen Daten er zur Verfügung steht. So lassen sich die beiden Anstellungen reibungslos vereinbaren.
Die intensiven Momente des Lebens suchen
Bestare Karasek baute ihre Fertigkeiten in Mixed Martial Arts rasch aus. Wieder dauerte es nicht lange, bis sie – als eine von schweizweit nur zwei Frauen – in der Profiklasse mitwirkte. In ihrer Karriere hat sie sieben Kämpfe ausgetragen, was sie bis nach Japan und in die USA führte. Für die Teilnahme am Kampf in Japan erhielt sie trotz Niederlage ihre grösste Prämie: 12 000 Franken. «Im Leben kann man sich nur an die intensiven
Momente erinnern. Kämpfe gehören dazu. Das Adrenalin ist derart hoch, dass man keinen Schmerz verspürt», sagt Bestare Karasek, die Europameisterin im Brazilian Jiu Jitsu und zweimal europaweiter Naga-Champion war. Kämpfe, Siege und Titel sind jedoch nicht alles, was sie antreibt: Im Kampfsport findet sie den nötigen Ausgleich und kann ihre mentale Stärke trainieren. Dies half ihr auch, ihre Magersucht zu überwinden. «Mixed Martial Arts gibt mir Kraft und Halt», sagt sie. Ihre Erfahrungen unterstützen sie auch bei der Arbeit mit ihren Klientinnen und Klienten. Denn beim Erhalt oder dem Wiedererlangen der Mobilität gehe es ebenfalls darum, Ziele zu verfolgen, dran zu bleiben und sich von Rückschlägen nicht entmutigen zu lassen.
Familienfreundlicher Betrieb
Aurel Spahni liebt sein zweites Standbein ebenfalls. «Anders, als man sich das vielleicht vorstellt, ist das Regionalgefängnis nicht nur eine düstere Welt. Oft geht es auch lustig und lebhaft zu und her, denn die meisten Insassen sind jung», berichtet er. Der 31-Jährige schätzt ausserdem, dass er weitgehend sein eigener Chef ist. «Ich regle meinen ganzen Tagesablauf selbst, habe ein eigenes Büro, ein eigenes Telefon und arbeite extrem selbstständig.» Grosse Selbstständigkeit bietet ihm auch die Arbeit bei der Spitex Biel-Bienne Regio AG. Dank seiner Tertiärausbildung kann er zahlreiche Evaluationen und Abklärungen vornehmen und Behandlungen optimieren. Zudem dürfen die Pflegefachpersonen im Wechsel die Dienstpläne selbst erstellen. Ein weiterer wichtiger Punkt für den sportlichen Aurel Spahni: Er kann mit dem Fahrrad zu den Klientinnen und Klienten radeln, sodass er viel an der frischen Luft ist.
Als Aurel Spahni Vater einer Tochter wurde, reduzierte er sein Pensumbei der Spitex auf 20 Prozent. Dass dies möglich war und ihn seine Vorgesetzten stets unterstützt haben, schätzt er sehr: «Die Spitex Biel-Bienne Regio AG kann sich gross auf die Fahne schreiben, dass sie ein familienfreundlicher Betrieb ist.» Bei beiden Arbeitgebern möchte er noch lange bleiben, weil sie ihm eine Stellen-Kombination bieten, die sich anderswo nicht leicht finden würde: «Bei der Spitex betreue ich vor allem ältere Menschen, im Regionalgefängnis sind es junge Personen aus ganz anderen sozialen Schichten. Dieser Mix hält mich fachlich fit.»
Anders, als man sich das vielleicht vorstellt, ist das Regionalgefängnis nicht nur eine düstere Welt.
AUREL SPAHNI
Pflegefachmann Spitex Biel-Bienne Regio / Regionalgefängnis Biel
Die aktive Zeit ist noch nicht zu Ende
Bestare Karaseks Familienverhältnisse haben sich ebenfalls verändert. Sie hat den ehemaligen Spitzen-Schwimmer David Karasek geheiratet und ist kürzlich Mutter einer Tochter geworden. Bei Spitex Zürich arbeitet sie seither in einem Pensum von 10 Prozent, später möchte sie auf 60 Prozent erhöhen. Zudem unterrichtet sie die nächste Generation in Boxen und Thai-Boxen, coacht Frauen in Selbstverteidigung und gibt Rückbildungskurse für Mütter. Nach der Mutterschaftspause will sie ihr Pensum in diesem Bereich auf 40 Prozent erhöhen. Die aktive Zeit als Profi-Kampfsportlerin hat sie indes noch nicht beendet: «Wahrscheinlich werde ich noch zu einem Kampf antreten, als Abschluss», sagt sie.