8 min 19. Mai 2025

Die Pflege war ihr Leben – mit 105 Jahren wohnt sie noch daheim

Dank umfassender Unterstützung kann die 105-jährige Ida Scheidegger noch allein zuhause wohnen – und hat viel aus ihrem Leben zu erzählen. 1940 begann sie die damals nicht ungefährliche Ausbildung zur Krankenschwester im Berner Engeried-Spital und übte ihren Beruf bis zur Pensionierung aus.

MARTINA KLEINSORG. «Was sollte ich denn im Altersheim?», fragt sich Ida Scheidegger. «So fit wie du bist, gehörst du da wirklich nicht hin», bestätigen unisono ihre Grossnichte Christine Kläy und Barbara Wittwer, Fachfrau Gesundheit der Spitex Region Emmental. Mit 105 Jahren lebt Ida Scheidegger noch allein in ihrer Wohnung – möglich macht dies ein starkes Unterstützungsnetz aus Familie und Nachbarschaft, Mahlzeiten- und Betreuungsdienst, Rotkreuz-Notruf sowie dem Pflege- und Hauswirtschaftsteam der Spitex.
Ihre gemütliche Zweieinhalb-Zimmerwohnung in Langnau i. E. bezog die ehemalige Krankenschwester nach ihrer Pensionierung. Während ihrer 47 Berufsjahre lebte sie zumeist in Schwesternhäusern, und die Ferien verbrachte sie oft im Elternhaus im Nachbardorf – dort, wo ihre Geschichte begann.

Die 105-jährige Ida Scheidegger mit Barbara Wittwer, Fachfrau Gesundheit bei der Spitex Region Emmental. Fotos: Martina Kleinsorg

Die Familie hielt zusammen
Am 9. März 1920 als neuntes von elf Geschwistern geboren, wuchs sie im beschaulichen Trubschachen auf. Ihre Kindheit war geprägt vom frühen Verlust des Vaters – sie war zehn Jahre alt, als er bei einem Motorradunfall auf dem Arbeitsweg ums Leben kam. Die Familie hielt zusammen, die älteren Geschwister unterstützten die Mutter in dieser schweren Zeit.
Eine ihrer Schwestern war Hebamme und inspirierte Ida Scheidegger zur Pflege: «Sie erzählte mir, dass man nicht Diakonissin sein müsse, um Krankenschwester zu werden – das strenge Leben wäre nichts für mich gewesen.» Mit einem guten Zeugnis aus einem Welschlandjahr in Vevey trat sie 1940 zum Bewerbungsgespräch im Berner Privatspital Engeried an – als «scheues Landkind im bäuerlichen Jackett», wie sie sich schmunzelnd erinnert.

Der erste Tag ihrer Ausbildung ist ihr auch 85 Jahre später noch präsent: «Die Oberin überreichte uns die Schwesternhauben. Da sie ebenfalls Ida hiess, taufte sie mich kurzerhand in Irma um». Obwohl der jungen Frau der Name nicht gefallen habe, blieb er ihr während ihrer ganzen Berufsjahre erhalten: «Bis zum Schluss wurde ich von meinen Kolleginnen und an Ehemaligentreffen so genannt.»
Der Alltag der angehenden Krankenschwestern war streng: Aufstehen um 6 Uhr, Frühstück um 6.30, danach wurden sie auf die Stationen eingeteilt. Auch Putzen gehörte damals zum Dienst, freie Zeit war selten: Zwei halbe Tage gab es pro Woche, ganze Tage fast nie. Den Patienten und Patientinnen habe man damals viel Zeit zum Genesen gewährt: «Sie wurden nicht aktiviert wie heute, sondern lagen einfach krank im Bett. Man wartete, bis es ihnen besser ging und sie langsam wieder aufstehen konnten».

Ida Scheidegger (sitzend) und ihre Grossnichte Christine Kläy studieren die Stammtafel ihrer Familie, die für die Seniorin neben dem Beruf stets an erster Stelle stand.

Schutzengel standen zur Seite
Mit einem Kopfschütteln erinnert sie sich an die Risiken, denen sie ausgesetzt war: «Im zweiten Lehrjahr wurde ich im Tiefenau-Spital in der Tuberkulose-Abteilung eingesetzt, und Handschuhe trug man dort nur für die schlimmsten Arbeiten.» Leicht hätte sie sich bei der Pflege der Infizierten selbst anstecken können. «Statt uns zu schützen, wurden wir regelmässig auf körpereigene Abwehrstoffe getestet, und davon hatte ich zum Glück reichlich.»

Im zweiten Lehrjahr wurde ich in der Tuberkulose-Abteilung eingesetzt, und Handschuhe trug man dort nur für die schlimmsten Arbeiten.

Ida Scheidegger

Pensionierte Krankenschwester

Auch fachliche Überforderung war Realität: «Eines Tages sagte die Oberschwester zu mir, ich müsse nun auch die Narkose übernehmen. Das wäre nach heutigen Begriffen undenkbar.»  Man betäubte damals noch mit Äther und die Tiefe der Narkose wurde mit Blick auf die Pupillen ermittelt. Die mit der Narkose aufgebürdete Verantwortung habe sie sehr belastet, erinnert sich Ida Scheidegger. «Nach der Operation eines achtmonatigen Kindes brach ich in Tränen aus, so erleichtert war ich, dass der kleine Patient die Strapazen überlebt hatte – uns haben wohl beiden ein paar Schutzengel zur Seite gestanden.»
Während ihrer Ausbildung tobte der Zweite Weltkrieg, von dem sie allerdings wenig mitbekam – in den Schwesternzimmern, die man sich zu Zweit oder Dritt teilte, gab es kein Radio. «Nur die Fenster mussten wir nachts verdunkeln.» Damals gab es eine schrullige Nachtwache, erinnert sich Ida Scheidegger:  «Während eines Fliegeralarms stürmte sie herein, rief ‹Dr Hitler chunnt, dr Hitler chunnt›, und zerrte an den schwarzen Vorhängen. Wir Lernschwestern haben uns über dieses Schauspiel köstlich amüsiert.»

Keine Zeit zum Heiraten
Die Pflege wurde für Ida Scheidegger zur Lebensaufgabe, die sie mit Herzblut erfüllte. «Heiraten habe ich nie gewollt und dafür auch keine Zeit gehabt», sagt sie. Eine Romanze erlebte sie als junge Frau in den Ferien: «Ein schmucker Bündner hatte sich in mich verliebt. Während eines Spazierganges erzählte er mir von der Natur, Blumen und Bergen, was grossen Eindruck auf mich machte. Doch schon auf der Heimfahrt überlegte ich, dass der Beruf, die grosse Scheidegger-Familie und die Verwandtschaft für mich an erster Stelle stehen.»
Der bescheidene Lohn liess keine grossen Sprünge zu. «Doch wenn wir unsere dunkelblaue Sonntagstracht trugen, gewährte die Bahn Krankenschwestern das Privileg, zum halben Preis zu fahren.» So besuchte sie als junge Frau auch ihre Schwester und deren Kinder in Lausanne und blieb damit nachhaltig in Erinnerung: Noch heute schreibe ihr ein Neffe zum Geburtstag: «Liebes blaues Tantli.» Auch mit dem Velo war sie viel unterwegs. Lebendig erinnert sie sich an eine ebenso schöne wie anstrengende viertägige «Tour de Suisse» mit zwei Schwestern und einer Freundin im Sommer 1947, einem der heissesten des letzten Jahrhunderts, übernachtet wurde in Jugendherbergen.

Dass ihr der Beruf zugleich Berufung war, blieb nicht unbeachtet: Die Privatärzte schätzten ihre Kompetenz. «Aber einen von ihnen zu duzen, wäre mir nie in den Sinn gekommen», betont Ida Scheidegger. Doch trotz klarer Hierarchie erlebte sie eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe. «Ich fühlte mich immer verstanden.» Die Krankenpflege lag damals fest in Frauenhand: «Eine männliche Pflegekraft ist mir nie begegnet.»
Um über das Rentenalter hinaus in ihrem geliebten Beruf arbeiten zu können, wechselte Ida Scheidegger vom Akutspital in das angeschlossene Altersheim Engeried. «Als Oberschwester durfte ich dort eine hochgeschätzte Oberin aus meiner Lehrzeit nun als Patientin betreuen, das bedeutete mir viel.»

«Goldfädeli in meinem Lebensteppich»
1987, mit 67 Jahren, ging Ida Scheidegger in Pension. Sie zog nach Langnau, wo auch Grossnichte Christine Kläy wohnt. Diese brachte im selben Jahr Tochter Claudia zur Welt. Gerne übernahm die Rentnerin die erfüllende Aufgabe, ihre Urgrossnichte regelmässig zu hüten. Daraus sei eine ganz besondere Beziehung erwachsen. «Sie ist das ‹Goldfädeli› in meinem Lebensteppich», sagt Ida Scheidegger liebevoll. Ihre Rolle als Krankenschwester legte sie auch im Ruhestand nicht ab: Als Claudia mit dem Fahrrad stürzte, versorgte sie nicht nur die Wunden, sondern schrieb gleich ein Pflegeprotokoll zur Nachsorge.

Heute kümmert sich ihre Familie liebevoll um die Seniorin. «Christine zahlt meine Schulden», umschreibt Ida Scheidegger augenzwinkernd die Regelung ihrer finanziellen Angelegenheiten. Urgrossnichte Claudia liest ihr regelmässig vor – die Auswahl an Lektüre ist vielfältig, wie ein Blick ins Bücherregal verrät. Ein Ur-Urgrossneffe kommt zum Schachspielen vorbei – eine Leidenschaft, die Ida auch mit ihrer Nachbarin und Freundin Frieda Utiger teilt. Die 83-jährige sei eine enge Bezugsperson und auch ihr erster Notfall-Kontakt. «Wir sind beide froh umeinander, aber wenn sie mal nicht da ist, schauen auch die anderen Nachbarn auf mich».
Seit mehr als fünf Jahren bekommt Ida Scheidegger täglich Besuch vom Spitex-Pflegeteam, dass die Medikamente bereitstellt und die Vitalfunktonen prüft. «Immer ist es jemand anderes», sagt sie, doch die Abwechslung gefalle ihr. «Ich bin jedoch mindestens einmal pro Woche bei ihr und alle 14 Tage zum Baden», betont Barbara Wittwer. Sie habe grosse Freude an ihrer «pflegeleichten» Klientin: «Ich gehe jedes Mal mit einem guten Gefühl, auch weil ich weiss, dass sie gut umsorgt wird.»

Noch einmal am früheren Arbeitsplatz
Barbara Wittwer scheut indes auch persönlichen Einsatz nicht, der über den Pflegedienst hinaus geht: «Als Ida mir beim ersten Baden von ihrem Wunsch erzählte, noch einmal ihre frühere Wirkungsstätte zu besuchen, habe ich dies mit meiner Vorgesetzten abgeklärt und sie gemeinsam mit Frieda zum Engeried-Spital gefahren – es war ein ganz besonderes Erlebnis.» Die langjährige Erfahrung ihrer Klientin sei heute noch spürbar, bestätigt die Fachfrau Gesundheit, gerne tausche man sich darüber aus: «Doch damals waren es andere Zeiten – sie vertraut uns und lässt uns unsere Arbeit tun.» Im Wohnzimmer liegt Ida Scheideggers Agenda – ein A5-Heft, in dem sie sorgfältig die Geschehnisse des Tages notiert und bei Bedarf nachschlagen kann. «Das gibt auch für uns eine gute Kontrolle über ihre Aktivitäten und zeigt, ob alles rund läuft», bestätigt Barbara Wittwer.

Die langjährige Erfahrung von Ida Scheidegger in der Pflege ist heute noch spürbar, gerne tauschen wir uns darüber aus.

Barbara Wittwer

Fachfrau Gesundheit, Spitex Region Emmental

Wie man 105 Jahre wird, dafür hat auch Ida Scheidegger kein Geheimrezept: «Viel kann man dafür wohl gar nicht tun.» Allerdings habe sie Alkohol nur zum Anstossen getrunken, nie geraucht, und stets auf genügend Bewegung geachtet. Noch heute kommt sie in der Wohnung ohne Gehhilfe aus, nur unterwegs benötigt sie einen Rollator. Bei Regenwetter drehe sie damit ihre Runden auf dem langen überdachten Balkon, «so bleibe ich immer im Training.» Das aktuelle Weltgeschehen verfolgt sie mit regem Interesse, «nur bei Trump schalte ich manchmal das Radio ab».
Beim Abschied der aus Zürich angereisten Journalistin zwitschert fröhlich ein Vogel hinter dem Haus. «Er singt jeden Abend», freut sich Ida Scheidegger über das kleine Konzert und fügt an:  «Ich bin sehr froh, dass ich dank meinen Helferinnen und Helfern trotz meiner 105 Jahre hier in meinem Zuhause wohnen darf.»

Sie haben das «Spitex Magazin» im Emmental willkommen geheissen: Barbara Wittwer (von links), Christine Kläy und Ida Scheidegger.

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