
Von hektischen Rückführungen zur Intimität der Pflege zu Hause
Der diplomierte Pflegefachmann Allesandro Bongiorno leistete zahlreiche Einsätze bei medizinischen Repatriierungen aus dem Ausland nach Hause. Seit 2021 arbeitet der Spezialist für Intensiv- und Notfallpflege bei NOMAD, der Neuenburger Spitex. Für das «Spitex Magazin» berichtet er über seinen besonderen Werdegang.

FLORA GUÉRY. «Nach über zehn Jahren im Dauer-Adrenalinrausch hatte ich das Bedürfnis nach Entschleunigung.» Allesandro Bongiorno verbrachte zwölf Jahre im Trubel der Intensivstationen und Notaufnahmen von etlichen Spitälern. Parallel dazu leistete er zahlreiche Auslandseinsätze im Rahmen von medizinischen Repatriierungen, also Rückführungen ins Heimatland. Heute arbeitet der belgische Pflegefachmann mit italienischen Wurzeln bei NOMAD (Neuchâtel Organise le Maintien à Domicile), der Neuenburger Spitex. «Anders als ursprünglich geplant, hat mir die Stelle bei der Spitex eine neue Welt gezeigt, die ich nicht mehr missen möchte», erzählt der 37-Jährige mit Begeisterung für seinen Beruf.
Anfänge als «fliegender Pflegefachmann»
Das Gesundheitswesen hat Allesandro Bongiorno schon früh fasziniert. Sein Wunsch nach einem abwechslungsreichen Beruf, bei dem der Mensch im Mittelpunkt steht, führte ihn dann in die Pflege. Nach einer Spezialisierung im Bereich der Intensiv- und Notfallpflege begann er seine berufliche Laufbahn mit 22 Jahren im Centre Hospitalier Universitaire (CHU) in Lüttich (B). Bald darauf entstand die Idee des «fliegenden Pflegefachmanns». Das Ziel dieser neuen Funktion: der Einsatz auf unterschiedlichen Intensivstationen und bei Notfällen von Kindern und Erwachsenen. «Ich wollte die Fähigkeiten, die ich während meiner Ausbildung erworben hatte, in der Praxis beider Fachbereiche umsetzen», erklärt Allesandro Bongiorno.
Eine vielseitige Funktion, die einiges von jenen abverlangt, die sie bekleiden, wo jeder technische Handgriff sitzen muss und eine ausgeprägte Fähigkeit zur klinischen Analyse vorausgesetzt wird. Zu Allesandro Bongiornos Aufgaben gehörte es beispielsweise, eine ECMO1 bei schwerem akutem Herzversagen zu leiten oder einen Patienten mit gravierenden Verbrennungen zu intubieren, bevor er ihm in einem keimfreien Raum die Verbände wechselt. «Ich entwickelte meine Fähigkeiten in verschiedenen Teams ständig weiter. Und ich musste sehr effizient und in der Lage sein, mich um alle Arten von Pathologien und Akutversorgungen zu kümmern», sagt der 30-Jährige – und gesteht, dass die ersten beiden Jahre nicht einfach waren: «Ich musste mich in grossen Teams mit einer Vielzahl von Spezialistinnen und Spezialisten – Notärztinnen und -ärzten, Kardiologinnen und Kardiologen, Neurologinnen und Neurologen, Herz- und Gefässchirurginnen und -chirurgen – zurechtfinden. Aber ich habe viel gelernt und war schnell selbstständig.»

Nach jedem Hin- und Rückflug freute ich mich schon auf den nächsten Einsatz.
Allesandro Bongiorno
Pflegefachmann bei NOMAD
Einsätze in der ganzen Welt
Neben seiner Teilzeitstelle am CHU nahm Allesandro Bongiorno eine Stelle bei Sud Assistance an. Das belgische Unternehmen ist auf medizinische Repatriierungen spezialisiert. Fünf Jahre lang führte er zahlreiche Einsätze in der ganzen Welt durch. «Während des gesamten Fluges war ich oft die einzige Fachperson, welche die Patientin oder den Patienten bis nach Belgien oder in benachbarte Länder begleitete. Von dort an wurde ich dann im Krankenwagen jeweils von meinen Kolleginnen und Kollegen unterstützt», sagt er. Jede Repatriierung sei eine Herausforderung gewesen: Es galt, den Zustand des Patienten zu beurteilen, mit den örtlichen Teams zusammenzuarbeiten und zu beurteilen, ob ein Transport möglich war. Zu den bedeutsamsten Fällen gehörten etwa ein Patient in kritischem Zustand in Südafrika, ein Ehepaar, das in Australien einen Motorradunfall erlitten hatte und ein polytraumatisierter Fussgänger in Thailand.
Während einem der vielen Einsätze in Polen hatte der Pflegefachmann mit einem Patienten zu tun, der grosse Hämatome aufwies und weder eine klare Diagnose noch einen aktuellen Bluttest hatte. Die medizinischen Anforderungen für einen Flug sind gross, und die alleinige Verantwortung für den Flug ohne eine neue hämatologische Untersuchung und die Überprüfung einer Reihe von Vitalparametern konnte der Pflegefachmann nicht übernehmen. Um sicherzugehen, dass der Patient wirklich «fit to fly» ist, habe er beim medizinischen Personal auf den notwendigen Untersuchungen bestanden. «Es war eine Gratwanderung: Hätte der Patient zu diesem Zeitpunkt nicht nach Hause gebracht werden können, so hätte sich sein Zustand verschlechtert und er wäre möglicherweise nicht mehr transportfähig gewesen», erinnert er sich. «Gleichwohl konnte ich das Risiko einer Komplikation während des Flugs nicht eingehen.» Nach seiner Rückkehr nach Belgien sei der Patient sehr dankbar gewesen: «Er sagte zu mir: ‹Wenn Sie nicht gekämpft hätten, hätte ich vielleicht nicht zurückfliegen können›.»
Allesandro Bongiorno beschreibt einen weiteren bedeutsamen Einsatz – in Bali: Seine Patientin, eine Frau in den Fünfzigern, die für einen Familienurlaub angereist war, litt an chirurgischen Komplikationen nach einer Behandlung in einer Region der Insel, wo es an spezialisierter Versorgung mangelte. Ein Langstreckenflug stand an. Die Frau sei zwar stabil gewesen, habe dabei aber zerbrechlich gewirkt und eine enge Überwachung, starke Schmerzmittel und emotionalen Zuspruch benötigt. «Von den ersten Minuten an spürte ich diese vertraute Mischung aus Anspannung und intensiver mentaler Präsenz», sagt er. Zwischen dem lärmigen Chaos des örtlichen Krankenwagens, der schummrigen Beleuchtung des Flugzeugs und der spärlichen Ausrüstung sei Wachsamkeit unerlässlich gewesen: «Ich war dafür verantwortlich, dass diese Patientin ohne Komplikationen zu ihrer Familie zurückkehrt.» Ab und an habe den Pflegefachmann ein leises Gefühl der Ohnmacht überkommen, insbesondere beim verlorenen Blick der Frau, die weit weg von zu Hause und völlig entkräftet war. «Gleichzeitig war ich stolz darauf, dass es mir gelang, diese Situation und die Unannehmlichkeiten für jemanden, der es nötig hatte, auszuhalten.» Nach mehr als 30 Stunden voller Flüge, Transfers und Zwischenstopps war die Reise dann zu Ende: «Endlich konnte ich aufatmen. Ich war erleichtert, müde – aber vor allem hatte ich das gute Gefühl, gebraucht worden zu sein.»
All diese Erfahrungen haben Allesandro Bongiorno beruflich und menschlich bereichert, wie er sagt. Seine Beobachtungsgabe und Anpassungsfähigkeit, seine interkulturellen Kompetenzen und sein Risikomanagement seien gestärkt worden: «Wenn man in einem ungewohnten Umfeld arbeitet, erweitert man sein Blickfeld. Ich habe so gelernt, dass ich Dinge verschieden angehen kann.» An die Zeit der Rückführungen hat er nur gute Erinnerungen – dies nicht zuletzt aufgrund seiner Fähigkeit, konstruktiv mit Stress umzugehen. «Nach jedem Hin- und Rückflug freute ich mich schon auf den nächsten Einsatz.»

Eintauchen in die Spitex-Welt
Einen Wendepunkt gab es in seiner beruflichen Laufbahn, als die COVID-19-Pandemie ausbrach – eine Zeit, die er als «tragisch» beschreibt, weil so viele Menschen an der Krankheit starben: «Ich habe die Krise an vorderster Front erlebt. Die Intensiv- und Notfallstationen waren am Rande des Zusammenbruchs, es war zermürbend», fasst er zusammen. In jener Zeit entstand der Wunsch nach einem neuen beruflichen Umfeld. Angesichts der weltweiten Gesundheitssituation beschloss er, der Schweiz und nicht dem Ende der Welt den Vorzug zu geben. 2021 trat er bei NOMAD seine Stelle als Pflegefachmann an. Die im ganzen Kanton Neuenburg tätige Spitex-Organisation zählt rund 500 Mitarbeitende sowie gut 5000 Klientinnen und Klienten.
Bei seiner Arbeit für die Spitex entdeckte der aus Lüttich stammende Pflegefachmann eine Welt, die sich grundlegend vom Spital unterscheidet: «Zu Hause ist man allein in der Intimsphäre der Klientin oder des Klienten. Gleichzeitig muss man aufmerksam sein und auf Unvorhergesehenes achten. Das ist eine andere Art von Komplexität.» Im Arbeitsalltag teilt er seine Erfahrungen mit seinen Kolleginnen und Kollegen, etwa beim Legen von Kathetern oder bei der Pflege von Tracheostomien. Die ganzheitliche Betreuung und die Breite der Fälle entsprächen ihm sehr, Monotonie komme selten auf. «Ich hatte mich etwas vor der Routine gefürchtet, aber bei NOMAD habe ich sie nie gespürt», betont er.
Entwicklung von Mikroteams
Seit Januar 2023 ist Allesandro Bongiorno bei NOMAD für die Unterstützung und Entwicklung von sogenannten «Mikroteams» zuständig. Diese kleinen Teams aus zehn bis fünfzehn Personen arbeiten selbstständig nach dem NOMAD-Modell der verteilten Führung. Allesandro Bongiorno kümmert sich insbesondere um die Themenbereiche «Zusammenarbeit» und «Kompetenzen». «Ich tausche mich mit den Mitarbeitenden sowohl in Gruppen- als auch in Einzelgesprächen aus», erklärt er. Dabei coacht er die Mitarbeitenden, etwa in Bezug auf das Finden eigener Lösungen für konkrete Fragestellungen: «Ich begleite den Lebenszyklus von Mikroteams, stärke das Know-how durch den Austausch von Best Practices und entwickle sowohl individuelle als auch kollektive Kompetenzen, um die Autonomie der Teams zu fördern.»
Allesandro Bongiorno möchte junge Pflegefachkräfte dazu inspirieren, ihren eigenen Weg zu gehen, indem er über seinen Werdegang berichtet. «Im Leben ist es wichtig, an sich selbst zu glauben und seinen Wünschen zu folgen», sagt er mit Überzeugung. Diese Philosophie wendet er auch in seinem Privatleben an, in welchem er seine Batterien durch Sport, Fotografie, Reisen und gesellige Momente bei einem guten Essen mit Freunden auflädt. Seine Botschaft ist klar: «Der Pflege-Beruf öffnet viele Türen. Und seine Komfortzone zu verlassen, kann enorm bereichernd sein.»
- Die sogenannte Extrakorporale Membranoxygenierung (kurz ECMO) entspricht technisch einer Herz-Lungen-Maschine und kann sowohl die Funktion der Lunge als auch diejenige des Herzens übernehmen. ↩︎