
«Ein Todesfall darf nie eine Randnotiz sein»
Bei der Spitex gehört der Tod zum Beruf dazu, wie eine Umfrage zeigt (vgl. Infokästen am Ende des Interviews). Regula Buder, stellvertretende Geschäftsleiterin der Kinderspitex Nordwestschweiz, hat sich intensiv mit dem Umgang von Pflegenden mit dem Tod befasst – und berichtet im Interview, wie Spitex-Organisationen ihre Mitarbeitenden dabei unterstützen können.
INTERVIEW: KATHRIN MORF
SPITEX MAGAZIN: Frau Buder, Sie beschäftigen sich intensiv mit dem Tod (vgl. Infokasten «Über Regula Buder»). Was halten Sie vom Umgang unserer Gesellschaft mit diesem Thema?
REGULA BUDER: Zuerst einmal achte ich stets darauf, dass ich keine Begrifflichkeiten wie «er ist gegangen» oder «sie ist eingeschlafen» verwende. Denn solche verniedlichenden Formulierungen können die Tendenz verstärken, dass unsere Gesellschaft den Tod oft verdrängt, statt ihm als Tatsache entgegenzutreten.
Beobachten Sie das Verdrängen des Todes auch bei der Spitex?
Leider tue ich das häufig. Sogar in der Palliative Care spricht man viel öfters über das Sterben als über den Tod. Beim Umgang mit toten Menschen kommen wir Pflegenden in direkten Kontakt mit unserer Endlichkeit und können den Tod damit nicht mehr verdrängen. Das kann die psychische Gesundheit der Mitarbeitenden belasten. Eines meiner grossen Anliegen ist darum, dass wir bei der Spitex nicht nur die Fachkompetenz aller Mitarbeitenden im Umgang mit dem Sterben fördern, sondern auch im Umgang mit dem Tod.

Wir müssen nicht nur die Fachkompetenz der Spitex-
Mitarbeitenden im Umgang mit dem Sterben fördern, sondern auch im Umgang mit dem Tod.
Regula Buder
Pflegeexpertin Kinderspitex Nordwestschweiz
Für Sie hat der Tod durch diese Fachkompetenz das Belastende verloren?
Zumindest im beruflichen Kontext empfinde ich den Tod selten als belastend, weil ich keine Angst mehr vor ihm habe. Angst hat der Mensch dann, wenn er nicht darauf vertraut, dass er alles bewältigen kann, was eine Situation mit sich bringt. Ich habe hingegen das Vertrauen aufgebaut, dass ich mit sterbenden und toten Menschen genauso umgehen kann wie mit der Trauer der Angehörigen. Dies bedeutet aber keinesfalls, dass mich Todesfälle kalt lassen. Beispielsweise habe ich einmal einen Senior aufgefunden, der lange tot in seiner Wohnung gelegen hatte – nur wenige Meter von unserem Spitex-Stützpunkt entfernt. Die riesige Einsamkeit im Sterben mancher Menschen macht mich betroffen.
Andere Spitex-Mitarbeitende haben durchaus Angst vor dem Tod – zum Beispiel davor, eine Klientin oder einen Klienten tot aufzufinden. Was kann dagegen unternommen werden?
Der Gedanke daran, dass sie beim Sterben eines Klienten dabei sind oder ihn tot auffinden, ist für Spitex-Mitarbeitende besonders dann beängstigend, wenn sie erwarten, dass sie sich dabei hilflos fühlen werden. Spitex-Organisationen müssen darum mit Schulungen und Notfallplänen dafür sorgen, dass ihre Mitarbeitenden genau wissen, was sie bei solchen Konfrontationen mit dem Tod tun können. Die Mitarbeitenden der Kinderspitex Nordwestschweiz können zum Beispiel jederzeit jemanden anrufen, der sie in solchen Situationen berät oder ihnen zu Hilfe eilt. Solche Massnahmen sind für alle Mitarbeitenden wichtig, denn auch Mitarbeitende der Hauswirtschaft könnten jemanden tot auffinden und auch Mitarbeitende der Administration könnten mit verzweifelten Angehörigen konfrontiert werden.
Ein Todesfall kann Spitex-Mitarbeitende auch belasten, weil sie trauern: Studien1 zeigen, dass rund drei Viertel der Pflegenden Trauer empfinden, wenn Patientinnen und Patienten sterben. Ist dies erlaubt oder ein Beweis für fehlende Distanz?
Tränen nach einem Todesfall sind keinesfalls unprofessionell. Ich habe in der Psychiatriepflege versucht, mich strikte abzugrenzen – und habe daraufhin Jahre gebraucht, um Suizide von Patientinnen und Patienten zu verarbeiten. Eine komplette Abgrenzung verlangt von den Pflegenden viel Kraft und verhindert einen konstruktiven Umgang mit Emotionen. Ich plädiere stattdessen für ein «gestaltetes Eingehen von Nähe und Distanz»: Pflegende sollten sich als Dienstleistende und als Mensch in ihren Beruf einbringen. Werden die Grenzen ihrer Belastbarkeit erreicht, müssen sie sich als Mensch wieder aus der Situation «herausnehmen» können. Nur dann bleiben sie gesund.
Über Regula Buder
Regula Buder, 56, ist stellvertretende Geschäftsleiterin und Qualitätsverantwortliche der Kinderspitex Nordwestschweiz. Die Pflegeexpertin besitzt einen MAS in Palliative Care sowie Spiritual Care und absolviert derzeit einen MA in Spiritueller Theologie im interreligiösen Prozess. Zudem leitet sie Spitex-Kurse zum Umgang von Pflegenden mit dem Tod. Mehr
Informationen: r.buder@spitexkinder.ch

Wie kann eine Spitex-Organisation ihren Mitarbeitenden bei der Verarbeitung von Trauer helfen, etwa mit Abschiedsritualen (vgl. Infokasten «Spitex-Rituale für das Abschiednehmen»)?
Mitarbeitende müssen sich selbst Sorge tragen, um einen Todesfall zu verarbeiten – und ihre Vorgesetzten müssen sie dabei unterstützen und ihnen Zeit dafür freiräumen. Ein bewusstes Abschiednehmen durch Rituale hilft beim Verarbeiten belastender Emotionen. Welches Ritual ein Spitex-Team wählt, ist dabei nicht so wichtig. Von grosser Wichtigkeit ist hingegen, dass man als Organisation eine Kultur pflegt, in der kein Todesfall als Routine oder Randnotiz betrachtet wird.
Vorgesetzte der Spitex müssen ihre Mitarbeitenden
dabei unterstützen, einen Todesfall zu verarbeiten,
und ihnen Zeit dafür freiräumen.
REGULA BUDER
Pflegeexpertin Kinderspitex Nordwestschweiz
Beim Verarbeiten dürften auch Gespräche mit internen oder externen Fachpersonen helfen?
Ein solches Angebot ist unbedingt nötig. Und zwar explizit auch mit externen Fachpersonen wie Psychologinnen und Psychologen, die in besonders belastenden Fällen sofort beigezogen werden können.
Auszubildende haben in der Pflege besonders viele Ängste rund um den Tod2. Sie gilt es demnach besonders intensiv zu unterstützen?
Auszubildende sowie neue Mitglieder in einem Pflege-Team brauchen tatsächlich eine besonders gute Begleitung: Ihre Vorgesetzten müssen dafür sorgen, dass sich diese vulnerablen Mitarbeitenden befähigt fühlen, mit Konfrontationen mit dem Tod kompetent umzugehen. Und dass sie nach einer solchen Konfrontation eng betreut werden.
Sie haben einen Mastertitel in Spiritual Care. Wie hilft Spiritualität in der Pflege, mit dem Tod umzugehen?
Unter Spiritualität verstehe ich alles, was den Menschen befähigt, mit herausfordernden Lebenssituationen umzugehen. Dies kann zum Beispiel eine Religion sein, Meditation oder ein starker Bezug zur Natur. Auch Pflegende brauchen Bewältigungsstrategien für die Verarbeitung von Todesfällen, und Spiritualität trägt den Menschen in Situationen, in denen ihn ansonsten nichts mehr trägt.
Zur Spiritualität gehört auch die Frage nach einem «Leben nach dem Tod». Wie wichtig ist sie in der Pflege?
Der Glaube an ein «Danach» kann allen Beteiligten helfen, mit dem Tod umzugehen. Ich bin persönlich überzeugt, dass der Tod eine Transformation in einen anderen Zustand ist. Ich bin aber zurückhaltend damit, diesen Zustand genauer zu erklären. Zudem möchte ich meine Ansichten in der Pflege niemandem aufdrängen. Stattdessen halte ich mich an das, was die kranken Menschen und ihre Angehörigen glauben. Das gilt auch für den Umgang mit dem Tod in unterschiedlichen Religionen und Kulturen: Ich habe zum Beispiel miterlebt, dass nach dem Tod eines muslimischen Klienten sehr viele Angehörige zu einem bunten, langen Abschiedsfest erschienen sind. Spitex-Mitarbeitende müssen offen sein gegenüber einem Umgang mit dem Tod, der nicht ihren Gewohnheiten oder Überzeugungen entspricht.
Versicherungsbeiträge stoppen gemäss Gesetz mit dem Tod eines Versicherten. Bedeutet dies, dass die Spitex nach einem Todesfall nur
noch vorgeschriebene Aufgaben wie das Erfüllen der Meldepflicht übernehmen sollte?
Nein. Ich plädiere dafür, dass Spitex-Mitarbeitende so lange im Einsatz bleiben dürfen, bis sie die Verstorbenen und ihre Angehörigen mit einem guten Gefühl verlassen können. Damit können die Pflegenden eine Pflegesituation respektvoll und befriedigend abschliessen, was die Wahrnehmung der Sinnhaftigkeit in ihrem Beruf fördert – und das ist die beste Burnout-Prophylaxe. Leider kommen die Versicherer und auch die Restfinanzierer trotzdem selten für Aufgaben wie das Waschen der Toten und die Betreuung der Angehörigen auf, weswegen die Spitex auf Spendengelder angewiesen ist. Dank Spenden dürfen Mitarbeitende unserer Kinderspitex auch während der Arbeitszeit die Beerdigung einer Klientin oder eines Klienten besuchen, wenn sie dies möchten. Damit senden wir das Signal, dass das Abschiednehmen zur Arbeit der Pflegenden gehört und nicht zu ihrer Freizeit.
Besonders herausfordernd dürfte für Spitex-Mitarbeitende ein Tod durch Suizid und auch den immer häufigeren assistierten Suizid3 sein?
Zu Beginn meiner Laufbahn stellte ich mir nach einem Suizid von Klientinnen und Klienten oft die Frage, ob ich versagt habe. Seither habe ich aber auszuhalten gelernt, dass diese Menschen sehr krank sind und dass ihre Würde und damit auch ihre Entscheidungsfreiheit über allem steht. Was mir hingegen heute noch Sorge bereitet, ist die zunehmende Zahl an suizidalen Jugendlichen. Für sie brauchen wir in der Schweiz ein grösseres, rund um die Uhr zur Verfügung stehendes jugendpsychiatrisches Angebot, um künftig hoffentlich mehr Verzweiflungstaten von jungen Menschen verhindern zu können.
Ich wünsche mir einen offenen und würdigen Umgang mit dem Tod.
Regula Buder
Pflegeexpertin Kinderspitex Nordwestschweiz
Die «Limmattaler Zeitung» titelte 2018, Sie hätten «den scheinbar schwersten Job der Welt». Sind auch Todesfälle von Kindern besonders schwer auszuhalten?
Kinder und Jugendliche in den Tod zu begleiten, ist eine grosse Herausforderung, die mir aber auch viel zurückgibt. Ich habe zum Beispiel viel gelernt von den Kindern, die sehr offen und ohne Tabus mit dem Tod umgehen. Und ich empfinde viel Sinnhaftigkeit, wenn ich den Sterbenden und ihren Angehörigen beistehen kann. Eine von mir betreute Jugendliche wollte zum Beispiel nicht ohne den Beistand eines buddhistischen Mönches sterben. Ich habe einen solchen Mönch in der Schweiz
ausfindig gemacht – und es stellte sich heraus, dass er im selben Wohnort wie das Mädchen lebte und innert 15 Minuten an ihrer Seite sein konnte. Dass sie deswegen friedlich sterben konnte, war ein grosses Geschenk.
Was wünschen Sie sich abschliessend in Bezug auf den Umgang mit dem Tod?
Ich wünsche mir, dass die Spitex den Tod häufiger thematisiert und die Verletzlichkeit von Mitarbeitenden nach einem Todesfall als Stärke statt als Schwäche betrachtet. Und ich wünsche mir, dass unsere Gesellschaft ihren Umgang mit dem Tod überdenkt. Passend dazu möchte ich von einer mutigen Mutter erzählen: Sie wollte, dass ihr verstorbenes Kind sein Zuhause nicht im Verborgenen verlässt, sondern mit einem Abschied voller Herz. 150 Bekannte standen darum mit Ballonen Spalier, als die Mutter mit ihrem toten Kind auf dem Arm aus dem Haus trat. Zudem fuhren fünf Feuerwehrautos sowie Ambulanzfahrzeuge vor, von denen das Kind begeistert gewesen war, und liessen ihre Sirenen aufheulen sowie ihre Blaulichter leuchten. Das war eine berührende Prozession, die für einen offenen und würdigen Umgang mit dem Tod steht, den ich mir häufiger wünsche.
Spitex-Rituale für das Abschiednehmen
13 Spitex-Teams haben dem «Spitex Magazin» Fragen zum Umgang mit dem Tod von Klientinnen und Klienten beantwortet – und berichtet, dass sie unter anderem folgende
Abschiedsrituale praktizieren:
Erinnerungen teilen: Das Palliativ- und das Onkologie-Team von SPITEX BASEL nehmen sich während ihrer Rapporte jeweils Zeit, um über verstorbene Klientinnen und Klienten zu sprechen. So oder ähnlich handhaben das die meisten befragten Teams.
Gärtchen, Fenster und Bücher: Stirbt jemand, steckt das Palliative-Care-Team der Spitex Kanton Zug ein Namenskärtchen unter einen Baum in einem Trauergärtchen. Der Brückendienst der Spitex Stadt Luzern heftet die Namen der Verstorbenen an ein Trauerfenster. Und der MPD Bern (Mobiler Onkologie- & Palliativdienst) gestaltet ein Trauerbuch.
Kerzen: Das Anzünden einer Kerze ist ein häufiges Abschiedsritual. Bei der Spitex Region Brugg (AG) starb vor einigen Jahren ein Mitglied des Psychiatrie-Teams. Daraufhin wurde ein kleiner Traueraltar eingerichtet mit Foto, Kerzen und persönlichen Briefen.
Angehörige: Fast alle Befragten geben an, dass Gespräche mit Angehörigen sowie das Schreiben von Beileidskarten zur Verarbeitung eines Todesfalls gehören. Manchmal gibt es auch ein Geschenk für die Angehörigen, bei der Kinderspitex
Zentralschweiz etwa ein Erinnerungsherz aus Holz.
Trauerkarten: Viele Teams haben einen Ort, an dem Trauerkarten für alle sichtbar präsentiert werden. Bei der Spitex Region Landquart (GR) ist es eine Schieferplatte mit Kerze.
Beerdigungen: Für Mitarbeitende des sozialmedizinischen Zentrums (SMZ) der Region Siders (VS) wird der Einsatzplan angepasst, wenn sie Beerdigungen von Klientinnen und Klienten besuchen wollen. Wichtig sei wie bei allen Ritualen, dass dies freiwillig ist – aus Respekt vor den Gewohnheiten und Überzeugungen aller Mitarbeitenden.
Weitere Massnahmen für den Umgang mit dem Tod
Neben Ritualen (vgl. Infokasten «Spitex-Rituale für das Abschiednehmen») kennen die vom «Spitex Magazin» befragten 13 Spitex-Teams viele weitere Angebote, damit ihre Mitarbeitenden Todesfälle verarbeiten können:
Teamkultur: Zentral für die Verarbeitung von Todesfällen ist laut der Spitex Region Brugg (AG) eine Teamkultur, in der offene Gespräche fest dazu gehören und das Wohlbefinden aller Mitarbeitenden wichtig ist.
«Debriefing»: Das Palliativteam der Spitex Region Landquart (GR) wertet jeden Todesfall gemeinsam aus – auch, um sich gegenseitig aufzufangen und Emotionen zu verarbeiten.
Interne Gespräche: Alle Mitarbeitenden des Fachbereichs Palliative Care der Spitex Kanton Zug können das Gespräch mit
ihrer Teamleitung suchen, wenn sie einen Tod verarbeiten müssen – und jede Leitung hat einen Coach für das Besprechen von belastenden Situationen an ihrer Seite.
Externe Gespräche: Bei SPITEX BASEL ist das spezialisierte Beratungsunternehmen Movis als externe Ansprechpartnerin für Mitarbeitende mit belastenden Emotionen da.
Weiterbildungen: Die Spitex Stadt Luzern hat in den vergangenen Jahren Kurse wie «Umgang mit Verlust und Trauer», «Letzte Pflege und Bestattung» oder auch «Sorgsam sein – sorgsam bleiben» angeboten.
Notfallplan: Die Spitex See-Lac (FR) hat ein Dokument erstellt, auf dem alle Adressen von Notfallorganisationen und Unterstützungsmassnahmen festgehalten sind, welche allen Mitarbeitenden bei einem Todesfall helfen können.
Sonderfall assistierter Suizid: Im SMZ Region Siders hat man für Todesfälle von Klientinnen und Klienten mit der Sterbehilfeorganisation Exit ein spezifisches Vorgehen festgelegt. Zum Beispiel werden die Mitarbeitenden vor und nach dem assistierten Suizid eng begleitet.
Standaktionen: Die SPITEX BERN setzt sich in der Öffentlichkeit dafür ein, dass der Tod mehr Aufmerksamkeit erhält. So führte sie 2024 am Stadtfestival «endlich.menschlich» an ihrem Stand viele Gespräche über den Tod – damit Trauer, Sterben und Tod sichtbarer werden und Betroffene die notwendige Unterstützung erhalten.
- Mehr Informationen zur polnischen Studie mit 516 Pflegenden sind verfügbar in diesem Artikel von 2022:
pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC9602489/ ↩︎ - zeitschrift-pflegewissenschaft.de ↩︎
- www.rosenfluh.ch ↩︎