«Auf der Hütte und bei der Spitex muss man improvisieren können»
Im Sommer arbeitet Sarah Sager als Hüttenwartin auf der Glecksteinhütte, im Herbst kehrt die Pflegefachfrau zur Spitex Grindelwald zurück. Dem Spitex Magazin berichtet sie vom turbulenten Hütten-Alltag, von ihrer überstandenen Krebserkrankung und davon, wie sie das Wechselspiel zwischen Höhenluft und Pflegealltag meistert.
MARTINA KLEINSORG. Hoch über Grindelwald thront die Glecksteinhütte SAC auf 2317 Metern über dem Meer auf einer grünen Kanzel am Wetterhorn. Ein eindrucksvolles Panorama erwartet Wanderer und Alpinisten, wo Steinböcke quasi zu den Haustieren zählen. «Ein wunderschön gelegener Ort», schwärmt Sarah Sager. Während der Sommermonate arbeitet sie dort gemeinsam mit ihrem Mann Christoph Sager als Hüttenwartin. Ihre fünfte Saison endete am 29. September – begonnen hatte sie aufgrund des späten Schnees am 29. Juni, zwei Wochen später als üblich. Ab November ergänzt die Pflegefachfrau HF für sieben Monate wieder das Team der Spitex Grindelwald.
Bei schönem Wetter fliegt Sarah Sager auch schon mal mit dem Gleitschirm hinab ins Tal, am Tag des Interviews mit dem «Spitex Magazin» Anfang September ist sie die 850 Höhenmeter hinuntergewandert. Der kürzeste Aufstieg von der Postauto-Haltestelle «Grindelwald, Abzweigung Gleckstein» ist mit knapp drei Stunden angeschrieben. «Das ist grosszügig bemessen», sagt die 41-Jährige, «geübte Wanderer sind schneller.» Nach einem Wetterumschwung seien derzeit nur vier der 88 Schlafplätze belegt, das bewältige eine Angestellte allein. «Wir haben drei schulpflichtige Kinder. Die Sommerferien und Wochenenden verbringen wir alle zusammen auf der Hütte, ansonsten bleiben mein Mann und ich abwechselnd daheim in unserem Haus in Gsteigwiler bei Interlaken.»
«Dort oben muss man Allrounder sein»
Die Tage auf der Hütte sind lang, aber Sarah Sager gefällt es, wenn es «brummt». Die meisten Gäste buchen mit Halbpension, und Gipfelstürmer, die vor Sonnenaufgang aufbrechen, bekommen ihr Frühstück schon ab 3 Uhr. Doch gehen die Aufgaben weit über Küche und Service hinaus: «Dort oben muss man Allrounder sein.» Wie man mit Menschen umgehe – auch mit Menschen, die Respekt haben vor dem, was vor ihnen liegt – sei ein entscheidender Bestandteil ihrer Arbeit als Hüttenwartin und in der Pflege. Neben psychologischen Kompetenzen seien auch auf der Hütte medizinische Kenntnisse gefragt: Gelegentlich müsse sie Wunden versorgen oder Medikamente aus der Hüttenapotheke abgeben. «Bei grösseren Unfällen kommt aber sofort der Helikopter», weiss sie zu relativieren. Wie in der Pflege sei sie auch als Hüttenwartin viel auf den Beinen, müsse körperlich und mental belastbar sein sowie in der Lage, mehrere Aufgaben gleichzeitig zu erledigen, zum Beispiel «telefonieren, im Kochtopf rühren und den Backofen im Blick behalten.»
Aufgewachsen in einer Blockwohnung in Bremgarten (BE), ging Sarah Sager als Kind oft mit ihren Eltern in die Berge zum Wandern. «Ich hätte gerne einmal dort übernachtet, doch blieb es bei Tagesausflügen», erinnert sie sich. Ein Austauschjahr in Kenia weckte in ihr den Wunsch, einen praktischen Beruf zu lernen statt jahrelang zu studieren. Nach der Ausbildung zur Pflegefachfrau an der Lindenhofschule in Bern arbeitete sie vier Jahre im Inselspital, im Sommer war sie als Hüttenhilfe tätig. So lernte sie 2009 auch ihren Mann Christoph kennen. Der 14 Jahre ältere ehemalige Swiss-Pilot war damals bereits erfahrener Hüttenwart. «Bei uns hat es gleich eingeschlagen, dann ging alles recht schnell», erzählt sie schmunzelnd. Gemeinsam übernahm das Paar 2011 die Konkordiahütte SAC, die hoch über dem Aletschgletscher gelegen nur über eine lange Metalltreppe erreichbar ist. Sohn Levi war damals erst drei Wochen alt, im Jahr drauf folgte Tochter Mena und 2015 Simon. Den Pflegeberuf hatte Sarah aufgegeben, widmete sich den Kindern sowie dem Tagesbetrieb mit mehreren Angestellten und bis zu 155 Gästen.
Diagnose brachte Welt ins Wanken
Sechs Monate dauerte die Saison auf der Konkordiahütte – von März bis September, mit kurzer Pause Ende Mai. «Die restliche Zeit des Jahres waren wir viel unterwegs», erzählt Sarah Sager. «Als Mena drei Monate alt war, reisten wir mit dem Rucksack durch Thailand, später mit dem VW-Bus quer durch Südeuropa.» Ein dreimonatiger Afrika-Trip war bereits für den kommenden Winter geplant, als im Mai 2016 die Diagnose Eierstockkrebs ihre Welt ins Wanken brachte. Kameras begleiteten damals die Familie für die Sendung «SFR bi de Lüt – Hüttengeschichten». Nach zwei Operationen und dem Beginn einer monatelangen Chemotherapie zog es sie bald wieder auf die Hütte. «In der Gemeinschaft mit der Familie und den Angestellten fühlte ich mich geborgen. Mitzuarbeiten so viel ich mochte und konnte, half mir, mich weniger krank zu fühlen», sagt sie. Für die Chemotherapie flog sie jede Woche mit dem Helikopter ins Tal, später konnte sie den Weg wieder gehen. Die Reise per Land Rover von Kenia bis Südafrika absolvierte die Familie wie geplant nach Abschluss der Therapie. «Ich konnte viel Energie tanken, ebenso war es eine kostbare Zeit für uns als Familie.» Obwohl die Krankheit heute hinter ihr liegt, sei der Gedanke an ihre eigene Endlichkeit seither immer präsent. «Doch sehe ich das als Geschenk – es hat mich gelehrt, das Leben bewusster zu leben und meine Träume nicht auf später zu verschieben», sagt sie.
«Wir haben nicht aktiv gesucht, doch die Gelegenheit ergriffen, als sie sich ergab», erklärt Sarah Sager den Wechsel 2019 von der Konkordia- zur Glecksteinhütte: «Sie liegt viel näher an Gsteigwiler, wo unsere Kinder nun ganzjährig zu Schule gehen.» Zuvor wurden sie von einer Hüttenlehrerin beschult, die zugleich als Hüttenhilfe arbeitete.
Wie in der Pflege bin ich auch als Hüttenwartin viel auf den Beinen, muss körperlich und mental belastbar sein sowie in der Lage, mehrere Aufgaben gleichzeitig zu erledigen.
Sarah Sager
Hüttenwartin und Spitex Grindelwald
«Geburt und Tod gehören zum Leben»
Die nurmehr drei Monate währende Saison und das dadurch geschmälerte Einkommen führte Sarah Sager zu einem Wiedereinstieg in die Pflege. «Bei der Spitex Grindelwald sah man es nicht als Hindernis an, dass ich nicht ganzjährig dort arbeiten kann», berichtet sie. Die Spitex kannte sie vorher nicht, aber schon beim ersten Schnuppern gefiel es ihr sehr gut, und sie lebte sich schnell ein. «Wie auf der Hütte muss man mit dem Material auskommen, das vor Ort ist und vieles improvisieren.» Im Alter so lange wie möglich im vertrauten Umfeld bleiben zu können, und – wenn es die Umstände zulassen – daheim sterben zu dürfen, findet sie «wahnsinnig schön». Ihre Tochter Mena kam auf der Hütte zur Welt, ihr Sohn Simon wurde zu Hause geboren. «Geburt und Tod gehören zum Leben», ist sie der Meinung. Bei der Spitex Grindelwald verantwortet sie den Bereich Palliative Care.
Sie hat ihr Pensum von ursprünglich 70 auf 50 Prozent reduziert, um mehr Zeit für die Kinder zu haben. Ihr Mann, der neben verschiedenen Projekten auch als ehrenamtlicher Hüttenchef die Infrastruktur der Konkordiahütte betreut, richtet sich nach ihrem Arbeitsplan. «Das ist unglaublich wertvoll, so müssen wir keine externe Betreuung organisieren», betont Sarah Sager. Allmählich kämen die Kinder in ein Alter, in dem sie es nicht mehr so cool finden, jedes Wochenende zur Hütte hoch- und runterzuwandern, gibt sie zu. Doch gelegentlich bieten sich Möglichkeiten, stundenweise mitzuhelfen und das Taschengeld aufzubessern. «Ausserdem lernen sie auf der Hütte eine Menge. Durch den Kontakt mit internationalen Gästen verstehen sie zum Beispiel, wofür die Sprachen aus der Schule gut sind.»
Das ganze Jahr das Gleiche zu machen, kann sich Sarah Sager nicht vorstellen und geniesst die berufliche Abwechslung sehr. Im Herbst freue sie sich jeweils auf die Herausforderung bei der Spitex: «Arbeitnehmerin statt Arbeitgeberin zu sein, bedeutet auch, einmal Feierabend zu haben.» Im Sommer gehe sie dann wieder voller Freude auf die Hütte, jedes Mal aufs Neue motiviert. «Ich bin sehr dankbar, dass die Flexibilität der Spitex mir das ermöglicht», sagt sie.