«Versicherer haben die Rolle des ersten Anwalts ihrer Versicherten»

Der Präventionsmediziner Felix Gutzwiller zu seinen Prioritäten als Präsident des neuen Krankenversichererverbands prio.swiss und den Erwartungen an Spitex Schweiz.

INTERVIEW: EVA ZWAHLEN

prio.swiss koordiniert die politischen Positionen seiner Mitglieder und vertritt diese gegenüber anderen Akteuren des Gesundheitssystems. Bild: Mike Niederhauser

SPITEX MAGAZIN: Seit Anfang 2025 ist prio.swiss, der neue Branchenverband der Krankenversicherer, operativ. Wie sind Sie gestartet?
FELIX GUNTZWILER: Wir legten einen Blitzstart hin. Der Aufbau der Organisation erfolgte in Rekordzeit. Der Entscheid, prio.swiss zu lancieren, fiel im Juni 2024. Sechs Monate später, im Dezember, schlossen wir bereits mit der FMH eine erste gemeinsame Erklärung zu den Notfallpauschalen ab, um die Notfallversorgung über Weihnachten sicherzustellen – obwohl prio.swiss offiziell ja erst Anfang Januar 2025 seinen Betrieb aufnahm. 

Sie übernehmen das Präsidium in einer Übergangsfrist. Was hat Sie dazu motiviert, den Verband in dieser ersten Zeit zu begleiten?
Ich bin überzeugt, dass die Krankenversicherer für unser Gesundheitssystem eine wesentliche Rolle spielen. Schon im Parlament war ich der Überzeugung, dass die Versicherer mit einer Stimme auftreten sollten. Als ich angefragt wurde, war ich deshalb sofort interessiert. So können sich die Versicherer künftig  mit geeinter Stimme mehr Gehör verschaffen und ihren Beitrag dazu besser leisten, das Gesundheitssystem mitzugestalten und zu verbessern. Das ist eine gute Nachricht für alle. Denn faktisch haben die Versicherer ja die Rolle des ersten Anwalts ihrer Versicherten sowie der Prämienzahlerinnen und Prämienzahler. Sie müssen deshalb immer zwischen zwei Polen ausbalancieren: einer qualitativ hochwertigen Gesundheitsversorgung (aus Sicht ihrer Versicherten, die als Patientinnen und Patienten Gesundheitsleistungen beziehen) einerseits und einer tragbaren und nachhaltigen Finanzierung des Gesundheitssystems andererseits (Perspektive der Prämienzahlerinnen und -zahler). Als Arzt und langjähriger Politiker verfüge ich über das nötige Rüstzeug, um meinen Beitrag zum Aufbau zu leisten. 

Zur Person
Prof. em. Dr. med. Felix Gutzwiller, alt National­rat und alt Ständerat der FDP, wurde 1948 in Basel geboren und studierte an der Universität Basel Medizin. Der Einsatz im Rahmen eines WHO-Gesundheitsprojekts als Student in Suma­tra prägte und beeindruckte ihn nachhaltig. In der Folge widmete sich Felix Gutzwiller den Themenfeldern Public Health und Prävention und leitete unter anderem sowohl an der Universität Lausanne als auch an der Universität Zürich das dortige Institut für Sozial- und Präventivmedizin. Zudem engagiert er sich seit vielen Jahren ehrenamtlich für zahlreiche ­Organisationen des Gesundheitswesens und diverse Gesundheitsligen. 

→ www.felix-gutzwiller.ch

prio.swiss übernimmt zahlreiche politische Aufgaben. Dazu gehören unter anderem die Ausgestaltung der Tarifstrukturen und die Mitgestaltung der Gesundheitsversorgung. Was packen Sie als Erstes an?
Die Aufgaben sind in der Tat vielfältig. Wir haben zum Beispiel gerade einen grossen Erfolg im Bereich der Medikamentenpreise erreicht, indem wir uns konsequent dafür einsetzten, dass Mengenrabatte für umsatzstarke Medikamente eingeführt werden. Konkret bedeutet dies, dass der Preis automatisch gesenkt wird, sobald ein Medikament einen bestimmten Jahresumsatz (zum Beispiel 20 Millionen Franken) überschreitet. Damit können wir jährlich bei gleichbleibender Qualität für die Patientinnen und Patienten bis zu 400 Millionen Franken einsparen. Des Weiteren befinden wir uns in Tarifstrukturverhandlungen für die Physiotherapie sowie für die therapeutische Psychologie. Hier gilt es zum Beispiel diese erwähnte Balance zu finden zwischen guter Versorgung und tragbarer Kostenentwicklung. Mittel- und langfristig begleiten wir die grundlegenden Reformen des Gesundheitssystems eng, um deren Einführung im Sinne unserer Versicherten sowie Prämienzahlerinnen und -zahler sicherzustellen. Dazu gehört unter anderem die einheitliche Finanzierung von ambulanten und stationären Leistungen (EFAS) oder die Einführung des neuen Arzttarifs 2026. 

Wo sehen Sie aus Sicht der Krankenversicherer den grössten Handlungsbedarf im Gesundheitswesen?
Eine richtig grosse und langwierige Baustelle ist sicher die Spitalplanung. Wir sind zuversichtlich, dass die Rahmenbedingungen hier so angepasst werden können, dass eine echte interkantonale Planung in Gang kommt: Wenn die Kantone auch die Vergabe ihrer Aufträge an die Spitäler innerhalb von kantonsübergreifenden Gesundheitsregionen aufeinander abstimmen müssen, können teure Doppelspurigkeiten verhindert und die Qualität des Versorgungsangebots sichergestellt werden. Das Parlament diskutiert einen entsprechenden Vorstoss in dieser Session. 1

Die Leistungserbringenden, wie etwa die Spitex, treten mit zahlreichen Erwartungen an den neuen Verband heran. Eine davon ist, dass die Krankenversicherer unter prio.swiss wieder geeint auftreten und mit einer Stimme sprechen. Wie stellen Sie dies sicher?
Wir wollen unter unseren Mitgliedern eine Kultur des Konsenses und der kollegialen Arbeitsweise entwickeln. Unsere Statuten sind so gestaltet, dass sie Entscheidungen mit grosser Mehrheit fördern und die Entwicklung von Lagern verhindern. Und sollte es doch einmal eine Minderheit geben, ist sie gehalten, die Mehrheitsentscheidung mitzutragen. 

Die Versicherer müssen zwischen zwei Polen ausbalancieren: einer qua­li­tativ hochwertigen Gesundheitsversorgung und einer tragbaren und nachhaltigen Finanzierung des Gesundheitssystems.

PROF. EM. DR. MED. FELIX GUTZWILLER

Präsident prio.swiss

Welche Erwartungen haben Sie an den Verband Spitex Schweiz?
Bei der Integration der Pflege in die einheitliche Finanzierung ab 2032 kommt Spitex Schweiz sicher eine zentrale Rolle zu. In der zukünftigen gemeinsamen Tarif­organisation gilt es, mit den Tarifpartnern ein tragfähiges Tarifsystem ausarbeiten, um die Finanzierung einer ­effizienten Leistungserbringung in der ambulanten und stationären Pflege von Spitex und Heime sicherzustellen. Dazu braucht es vollständige Kostentransparenz auf Basis einer einheitlichen und vergleichbaren Datenbasis. 

Was braucht es aus Sicht von prio.swiss, damit EFAS im Bereich der Pflege gut umgesetzt werden kann?
Ein transparentes System, das die Pflegeleistungen ­bedürfnisgerecht und gleichzeitig kostenschonend ­abbildet. Dafür braucht es neben der einheitlichen ­Finanzierung und dem erwähnten nachhaltigen Tarifsystem auch ein gutes Zusammenspiel von Spitex und Pflegeheimen.

Neuer Branchenverband der Krankenversicherer
prio.swiss vertritt mit seinen Mitgliedern 90 Prozent der Versicherten in der Schweiz. Der Name steht für die Priorität des Verbandes, sich im politischen und gesellschaftlichen Dialog für ein qualitativ hochstehendes und nachhaltig finanzierbares Schweizer Gesundheitswesen einzusetzen, das die Interessen der Versicherten ins Zentrum stellt. prio.swiss koordiniert die Interessen und politischen Positionen seiner Mitglieder im Bereich der obligatorischen Krankenversicherung und vertritt diese im politischen Prozess, gegenüber Behörden und anderen Akteuren des Gesundheitssystems. Im Hinblick auf diese Interessenvertretung erarbei­tet der Verband Grundlagen in den Bereichen Gesundheitspolitik, medizinische Versorgung, Tarifstrukturen, Qualitätsmessung, Gesundheitsdaten und Branchenstandards. 

→ www.prio.swiss

Sie sind Präventionsmediziner und passionierter Public-Health-Experte. Wie wichtig ist die Prävention Ihrer Ansicht nach im Schweizer Gesundheitswesen?
Prävention ist wichtig. Die Versicherer beteiligen sich aktiv daran und gehen dabei innovative Wege (Apps, Bonuspunkteprogramme, digitale Angebote, Präven­tionsbotschaften, Beteiligung an den Kosten für ein Fitnessabonnement usw.). Darüber hinaus generiert der allgemeine Beitrag für die Prävention jährlich 50 Mil­lionen Franken, die der Gesundheitsförderung Schweiz zukommen. 

Die Spitex pflegt ihre Klientinnen und Klienten in den eigenen vier Wänden und erhält damit wertvolle Einblicke in die Wohn- und Lebens­verhältnisse. Welche Rolle kommt der Spitex im Bereich Prävention und Gesundheitsförderung vor diesem Hintergrund zu?
Ich denke, die Spitex kann gerade in der Prävention und in der Gesundheitsförderung einen wesentlichen Beitrag leisten. Ihre Fachkräfte erhalten ja täglich einen direkten Einblick in die Lebensumstände und das soziale Umfeld ihrer Klientinnen und Klienten. Dabei können sie gesundheitsgefährdende Risiken frühzeitig erkennen und gezielte Präventionsmassnahmen ergreifen oder vermitteln.

Welche persönlichen Erfahrungen haben Sie mit der Spitex gemacht?
Ich habe sehr gute Erfahrungen gemacht. Meine Mutter konnte dank Spitex länger zu Hause bleiben.

  1. In der Frühjahrssession 2025 hat der Ständerat als Erstrat den Vorstoss angenommen. ↩︎

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