9 min 23. April 2024 News

Tagung über die Spitex und mit der Spitex

Am 17. April 2024 haben rund 150 Kaderpersonen der Gesundheitsbranche die Tagung «Zukunft: Spitex» mit dem Titel «Heute das Morgen gestalten» besucht. Zehn Referentinnen und Referenten sprachen in Olten über aktuelle Spitex-Themen wie insbesondere die integrierte Versorgung und den Fachkräftemangel.

KATHRIN MORF. Der Vormittag der Tagung «Zukunft: Spitex» widmete sich einem Thema, das genauso herausfordernd wie aktuell ist: Dem Fachkräftemangel in der Pflege. Den Auftakt machte Marianne Pfister, Co-Geschäftsführerin von Spitex Schweiz. Sie führte aus, dass der Fachkräftemangel bis 2030 seinen Höhepunkt erreichen dürfte – über 85’000 Pflegende seien bis dahin in der Schweiz laut dem Maximalszenario des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums (Obsan) nötig, über 12’000 allein in der Spitex. «Machen wir uns nichts vor: Der Fachkräftemangel ist morgen nicht vorbei, und wir können unsere Mitarbeitenden nicht auspressen wie Zitronen. Wir brauchen nachhaltige Lösungen», betonte sie. «Eine Notlage erhöht immer auch die Chance für Innovationen». Dies habe etwa die «Schwesternnot» nach dem zweiten Weltkrieg gezeigt, die zu einer Ausbildungsoffensive und einer Reformation der Pflegeausbildung führte.
Laut Marianne Pfister sind neben der laufenden Ausbildungsoffensive viele weitere, nachhaltige Massnahmen auf unterschiedlichen Ebenen nötig, um dem heutigen Fachkräftemangel zu begegnen:

  • Ebene der Gesellschaft: Zu den gesellschaftlichen Massnahmen gehören zum Beispiel Modelle, welche eine Freiwilligenarbeit in unterschiedlichen Lebensphasen ermöglichen, ohne dass diese zu schmerzhaften Abzüge in den Sozialleistungen der Freiwilligen führen. «Zudem braucht es Massnahmen, um die Teilnahme von kranken oder betagten Menschen an der Gesellschaft zu stärken», fügte sie an.
  • Ebene der Gesundheitspolitik: «Von den Gesundheitspolitikerinnen und Gesundheitspolitikern wünsche ich mir mehr Mut», sagte Marianne Pfister. Die Politik müsse für pragmatische Lösungen sorgen, um die Pflege zu stärken – etwa durch finanzielle Anreize, die Stärkung der integrierten Versorgung und die Förderung der Digitalisierung des Gesundheitswesens. «Ich bin überzeugt, dass eine gute Digitalisierung das Gesundheitssystem entlasten kann. Die Schweiz tut sich aber noch sehr schwer mit einem einheitlichen System», sagte sie. Weiter sollte die Politik die Prävention und die Rolle von Pflegeexpertinnen und Pflegeexperten stärken – «und dafür sorgen, dass die in der Pflegeausbildung erworbenen Kompetenzen den Anforderungen und Aufgaben im Alltag entsprechen».
  • Ebene der Organisationen: Führungskräfte von Spitex-Organisationen sind laut Marianne Pfister ebenfalls gefordert: Sie müssen unter anderem attraktive Arbeitsplätze zur Verfügung stellen, die Digitalisierung vorantreiben, die interprofessionelle Versorgung leben, pflegende Angehörige stärker einbinden – und umfassend an der Motivation ihrer Mitarbeitenden arbeiten.

Machen wir uns nichts vor: Der Fachkräftemangel ist morgen nicht vorbei, und wir können unsere Mitarbeitenden nicht auspressen wie Zitronen. Wir brauchen nachhaltige Lösungen.

Marianne Pfister

Co-Geschäftsführerin Spitex Schweiz

Um in Zukunft gut mit Fachkräftemangel umgehen zu können, ist laut Marianne Pfister auch eine Überregulierung der Pflege zu vermeiden. Weiter seien eine klare Nachfrageorientierung genauso nötig wie eine flexible und durchlässige Versorgung – und Arbeitsplätze mit vielen Perspektiven für die Mitarbeitenden. Abschliessend betonte sie, dass «wir alle gefordert sind, gemeinsame neue Wege zu gehen, um die Zukunft der Pflege zu sichern».

Das neue Betriebsmodell von Spitex Zürich
Markus Reck, CEO von Spitex Zürich, stellte das neue Betriebsmodell seiner Organisation vor, das im «Spitex Magazin» bereits ausführlich vorgestellt wurde (vgl. Ausgabe 5/2023). Das Modell heisst «Teamflex» und wird seit Februar 2024 eingeführt. Es bedeutet, dass die 94 operativen Teams von Spitex Zürich unterschiedlich viele Zusatzaufgaben zu ihrer Kernaufgabe wählen können, was zu einem von vier Teammodellen – von assistiert bis autonom – führt. Das autonomste Modell setzen laut Markus Reck rund 7 Prozent der Teams um, rund 38 Prozent das zweitautonomste, rund 31 Prozent das drittautonomste – und rund 23 Prozent das am stärksten assistierte Modell.

Die grosse Flexibilität des neuen Betriebsmodells hat laut Markus Reck auch Vorteile im Bewerbungsprozess: Bewirbt sich eine Person bei Spitex Zürich, kann mit ihr besprochen werden, welche Zusatzaufgaben das entsprechende Team übernimmt und welches Teammodell im jeweiligen Team gelebt wird. Das Betriebsmodell ermögliche zudem eine starke Partizipation der Mitarbeitenden und die Möglichkeit von internen Wechseln. «Spitex Zürich bietet also eine Arbeitsmöglichkeit für (fast) alle Lebenssituationen», so der CEO. Anhand des ersten Feedbacks merke man, dass das Modell zu funktionieren beginne. Erst die Zukunft werde aber zeigen, welche Aspekte gut funktionieren und welche nicht.

Marianne Pfister, Co-Geschäftsführerin von Spitex Schweiz, trat genauso an der Tagung «Zukunft: Spitex» auf wie…

Markus Reck, CEO von Spitex Zürich…

PD Dr. Iren Bischofberger, unter anderem Vorstandsmitglied von Spitex Schweiz…

und Therese Frösch, Verwaltungsratspräsidentin der SPITEX BERN AG. Fotos: Markus Zehnder/Makanart

Pflegende Angehörige bei der Spitex anstellen?
Auf das Thema «pflegende Angehörige» ging Dr. Iren Bischofberger, Vorstandsmitglied von Spitex Schweiz, Privatdozentin an der Universität Wien sowie Co-Geschäftsführerin von «rethinking care», genauer ein. Sie führte die langjährige Umsetzung des Anstellungsmodells von pflegenden Angehörigen in der Schweiz aus. Dank dieser Erfahrungen hätten viele Fragen geklärt werden können – aber auch neue ergäben sich bei diesem innovativen Ansatz. «Zum Beispiel sei auf der Mikroebene in der Familie zu klären, wie sich die Beziehung mit der zu pflegenden Person allenfalls verändert, wenn die Angehörigen angestellt sind», sagte sie. Auf der Makroebene müssten Politik und Zivilgesellschaft klären, wie viel bezahlte und unbezahlte Pflegearbeit Angehörige «schultern» können. Die Bildungsvoraussetzungen wurden in den Administrativverträgen bereits angepasst; die Details dazu werden derzeit von Spitex Schweiz erarbeitet. Auf eine Frage aus dem Publikum erklärte Iren Bischofberger, dass es neue Bildungskonzepte brauche, die – besser als der heute von den Angehörigen verlangte Pflegehilfe-Kurs – auf die individuelle Situation im spezifischen Privathaushalt und das Vorwissen der Angehörigen zugeschnitten sind.

Grundsätzlich können pflegende Angehörige laut Iren Bischofberger eine nachhaltige Personalressource für die Spitex sein. Wichtig sei unter anderem, dass mehr Forschung zum Thema betrieben wird. Iren Bischofberger leitete zum Beispiel das Projekt «‹work & care integra› – Anstellung von pflegenden Angehörigen bei der Spitex»[1] – und setzt aktuell ein vierjähriges Folgeprojekt um, das erneut von der Age-Stiftung finanziert wird. Das Ziel muss laut der Pflegewissenschaftlerin sein, dass gute Erfahrungen für pflegende Angehörige geschaffen werden. Dies könnte auch dazu führen, dass pflegende Angehörige durch eine formelle Ausbildung ganz in den Pflegeberuf einsteigen. «Lassen wir uns immer wieder von den pflegenden Angehörigen überraschen», sagte sie abschliessend, «denn bei ihnen ist ganz viel Kreativität vorhanden.»

Lassen wir uns immer wieder von den pflegenden
Angehörigen überraschen, denn bei ihnen ist ganz viel Kreativität vorhanden.

PD Dr. Iren Bischofberger

Spitex Schweiz / Universität Wien / rethinking care

Spitex Bern und ein Projekt der integrierten Versorgung
Die letzte Vertreterin der Spitex war Therese Frösch, Verwaltungsrats-präsidentin der SPITEX BERN AG. Sie berichtete vom anspruchsvollen Projekt, die SPITEX BERN AG mit Domicil – der führenden Anbieterin für Wohnen im Alter im Kanton Bern – zu vereinen. Start des Projekts war im April 2022, ab Juni 2023 begann die Kooperation der beiden Organisationen. Und zwar als weiterhin eigenständige Betriebe unter dem Dach der neuen, gemeinnützige Concara Holding AG. Im Januar 2024 nahm das gemeinsame Dienstleistungszentrum seine Arbeit auf, das zum Beispiel die Finanzabteilung, das HR und die Informatik umfasst. Die Stärken des vereinten Angebots sind laut Therese Frösch neben der Gemeinnützigkeit und der guten lokalen Verankerung, dass die Concara Holding AG «ihre Kundinnen und Kunden auf dem gesamten Lebensweg begleiten kann, ganzheitlich und aus einer Hand.»

Derzeit ist laut Therese Frösch die anspruchsvolle Organisations-entwicklung im Gang. «Eine neue, gemeinsame Kultur lässt sich nicht befehlen – sie muss wachsen», betonte sie. Glücklicherweise unterstützten die Mitarbeitenden den Prozess hin zur integrierten Versorgung und zum Case Management. Abschliessend sagte Therese Frösch: «Bitte laden Sie mich in zwei Jahre nochmals ein. Dann kann ich Ihnen mehr über die Umsetzung unseres Projekts berichten. Denn heute sind wir zwar erfolgreich gestartet – aber erst bei Kilometer 10 des Marathons angelangt.»

SHIP ist in den Startlöchern
Unter den weiteren Referentinnen und Referenten (vgl. Zusammenfassung im Infokasten) befand sich Michael Stutz, Leiter der Abteilung SHIP und Mitglied der Geschäftsleitung der SASIS AG. Er sprach über SHIP, das «Swiss Health Information Processing». SHIP wolle den heute umständlichen, heterogenen und oft manuellen Datenaustausch vereinfachen, indem die Prozesse harmonisiert und automatisiert werden. Ins stationäre Setting wurde SHIP bereits integriert. Viele Spitex-Organisationen warten hingegen seit langem auf den Rollout von SHIP für die Spitex: «Wir sind in den Startlöchern», versicherte Michael Stutz. «Im Sommer 2024 startet ein Pilotprojekt mit vier Spitex-Organisationen, und Ende 2024 findet der Rollout statt.» Derzeit arbeiteten die Software-Anbieter root-service AG (Perigon Spitex) und myneva Schweiz AG (myneva.swing) an der Integration von SHIP – und die SASIS AG versuche weitere Software-Anbieter sowie viele Ärztinnen und Ärzte, Versicherer sowie vielleicht sogar die Restkostenfinanzierer für das Angebot zu gewinnen.

Das «Spitex Magazin» wird zu einem späteren Zeitpunkt genauer über die Einführung von SHIP berichten. Mehr über die Tagung «Zukunft: Spitex», die am 7. Mai 2025 zum nächsten Mal stattfindet, unter: https://zukunft-spitex.ch

Weitere Referate von «Zukunft: Spitex»
Massnahmen gegen den Fachkräftemangel: Matthias Mölleney, Leiter des Centers for Human Resources Management & Leadership der Hochschule für Wirtschaft Zürich, sprach über Spitex-Massnahmen gegen den Fachkräftemangel. Dazu gehöre die (noch) digitalere Gestaltung der Arbeitswelt, das Erschliessen neuer Zielgruppen auf dem Arbeitsmarkt und das Schaffen von attraktiven Arbeitsplätzen. «Am allerwichtigsten ist, dass Spitex-Organisationen für psychologische Sicherheit sorgen», betonte er. Das Konzept von Harvard-Professorin Amy Edmondson bedeutet, dass Mitarbeitende sicher sind, dass sie Unzufriedenheiten ansprechen, Fehler eingestehen und Unsicherheiten zeigen dürfen.
• Pflegende Angehörige einstellen: Kenny Kunz, Geschäftsleiter der AsFam AG, das Angebot seines Familienbetriebs. Dieser bietet pflegenden Angehörigen in derzeit 16 Kantonen die Möglichkeit, unter Vertrag genommen zu werden und einen Lohn für die Pflege und Betreuung ihrer Nächsten zu erhalten.
Theaterstück über die Spitex: Hanna Scheuring, Leiterin des Zürcher Bernhard Theaters, sprach über «2 Engel für Harry» (vgl. «Spitex Magazin» 1/2023). Das Theaterstück war im Frühling 2023 aufgeführt worden und dreht sich um zwei Spitex-Mitarbeiterinnen, die trotz des Todes ihres Klienten dessen Rente beziehen. Wie jedes Theaterstück arbeite «2 Engel für Harry» mit Klischees, was nicht bei allen Zuschauenden gut angekommen sei, räumte Hanna Scheuring ein. Generell sei das Stück ein grosser Erfolg und werde ab dem 19. Juni erneut aufgeführt (www.bernhard-theater.ch).
Spitex in der integrierten Versorgung: Annamaria Müller, Präsidentin des Schweizer Forums für integrierte Versorgung (fmc), sprach darüber, dass die Spitex durch ihre Besuche bei Betroffenen Nähe aufbaut. «Die Spitex sieht die Personen ganzheitlich, in ihrem Umfeld und kann Veränderungen am schnellsten erkennen.» Die Rolle der Spitex in der integrierten Versorgung sei demnach diejenige der Beobachterin und der Ambassadorin für ihre Klientinnen und Klienten.
Die Hausärzteschaft und die Spitex: Thomas Gadient, Geschäftsführer der PonteNet AG, berichtete von einer Umfrage unter 175 Hausärztinnen und Hausärzten. Diese ergab, dass 65 Prozent der Hausärzteschaft der Zusammenarbeit mit der Spitex 8 bis 10 von 10 möglichen Punkten geben. Unter anderem wünschen sich die Ärztinnen und Ärzte indes eine direktere, regelmässige Kommunikation über gemeinsame Plattformen, eine Kontinuität der Ansprechpersonen und eine Optimierung des Datenaustausches. Rund 84 Prozent wären hierfür bereit, Daten über die Medikation sowie Diagnoselisten über einen gesicherten Zugang mit der Spitex zu teilen.


[1] Mehr zum Projekt samt Manual «Pflegenden Angehörige bei der Spitex anstellen» unter: www.age-stiftung.ch/foerderung/work-care-integra-anstellung-von-pflegenden-angehoerigen-bei-der-spitex

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