11 min 23. Februar 2024

So klappt die Zusammenarbeit zwischen Ärzteschaft und Spitex

Ärzteschaft und Spitex sind aufeinander angewiesen, haben im Berufsalltag aber oft nur wenige Berührungspunkte. FMH-Präsidentin Yvonne Gilli und Spitex-Schweiz-Präsident Thomas Heiniger plädieren für gegenseitiges Verständnis und für strukturiertere, verbindlichere Wege der Zusammenarbeit.

Dieser Artikel stammt aus: Schweizerische Ärztezeitung, Ausgabe 8/2024
Interview: Simon Koechlin

Schweizerische Ärztezeitung: Herr Heiniger, wird die Arbeit der Spitex unterschätzt?
Thomas Heiniger:
Die Spitex kann tatsächlich mehr, als viele Leute meinen. Die Bevölkerung hat zum Teil ein überholtes Bild: Die Ausbildungen der Spitex-Mitarbeitenden sind spezialisierter als früher, die Fälle komplizierter, die Klientinnen und Klienten jünger. Die Spitex meistert sehr komplexe Situationen – zum Beispiel in der Wundversorgung, in der Palliativ- oder in der Psychiatriepflege. Auch Ärztinnen und Ärzte unterschätzen vielleicht zum Teil die Spitex, vor allem wenn sie keine enge Zusammenarbeit mit ihr haben.

Stimmen Sie dem zu, Frau Gilli?
Yvonne Gilli: Was die Spitex alles leistet, ist in der Öffentlichkeit wenig bekannt. Alle wissen, was ein Hausarzt ist. Bei den Spitex-Mitarbeitenden hat man ein weniger klares Bild. Man weiss weniger, dass sie Infusionen verabreichen, Verbandswechsel vornehmen, Strümpfe anlegen, beim Waschen helfen, Kinder oder unheilbar kranke Menschen betreuen.

Und das Bild, das die Ärzteschaft von der Spitex hat?
Gilli: Ich glaube, die Erfahrungen von Ärztinnen und Ärzten mit der Spitex sind sehr heterogen. Das hängt mit den Strukturen zusammen. Mancherorts ist die Spitex sehr regional organisiert. Auf der anderen Seite gibt es kantonal organisierte Netzwerke. Es gibt Regionen, die hervorragend abgedeckt sind, andere weniger. Diese Vielfalt ist eine Herausforderung: Als Ärztin muss ich manchmal zuerst herausfinden, wer die geeignete Spitex für meine Patientin ist. Manchmal muss ich eine Spitex-Verordnung ausstellen, habe aber keine Ahnung, wer am Ende den Patienten betreut. Ich habe auch schon die Erfahrung gemacht, dass eine Spitex sehr viel Instruktion von mir benötigte. Aber es wäre falsch, deswegen zu denken, die Spitex allgemein sei unselbstständig. Es war in dem Dorf und in dieser Situation so.
Heiniger: Die Spitex hat tatsächlich oft einen sehr breiten Auftrag und eine sehr grosse Vielfalt in ihrer Organisation. Und so unterschiedlich ist auch ihr Einsatzbereich. Eine Spitex mit einem Dutzend Mitarbeitenden, die sich in einer Gemeinde die Aufgabe teilen, hat andere Möglichkeiten als eine durchorganisierte, hochspezialisierte Spitex in Zürich, Genf oder Lausanne mit jeweils über tausend Mitarbeitenden.

Dr. med. Yvonne Gilli ist FMH-Präsidentin, Fachärztin für Allgemeine Innere Medizin und ehemalige Nationalrätin. Dr. iur. Thomas Heiniger ist Präsident von Spitex Schweiz und ehemaliger Gesundheitsdirektor des Kantons Zürich. Bilder: © Eve Kohler

Wie funktioniert unter diesen Voraussetzungen die Zusammenarbeit zwischen Ärzteschaft und Spitex?
Heiniger: Sehr unterschiedlich. Abhängig von den jeweiligen Verhältnissen, den regionalen Gegebenheiten, den persönlichen Erfahrungen, dem individuellen Wissen.
Gilli: Das denke ich auch. Ich persönlich habe grundsätzlich gute Erfahrungen gemacht. Mein Problem ist eher: Bekomme ich rechtzeitig Spitex? Oder ist sie ausgelastet und kann erst in zwei, drei Wochen kommen? Dann muss ich eine Überbrückungslösung finden, und das ist aufwendig.

Wie kann man das verbessern?
Gilli:
Durch eine strukturierte Koordination. So lassen sich Prioritäten situationsgerechter setzen. Wenn jeder Arzt, jede Ärztin einzeln anruft, macht das die Logistik der Spitex anspruchsvoll.
Heiniger: Strukturen, Netzwerke und eine organisierte Zusammenarbeit sind allgemein zweckmässiger. Es ist keine Spitex-hausgemachte Schwierigkeit, dass man vielleicht mal nicht sofort da sein kann. Das erleben wir überall im Gesundheitswesen: Spitäler haben keine Betten frei, Ärzte haben keine Sprechstundentermine, Labore sind ausgelastet – und die Spitex ist auch am Anschlag. Das hat mit dem Fachkräftebedarf und dem Finanzierungssystem zu tun.

Wie kann eine strukturierte Zusammenarbeit konkret aussehen?
Heiniger:
Das können interdisziplinäre Netzwerke mit institutionalisierten Abläufen sein. Derartige Koordination ergäbe ein grösseres Wissen, ein grösseres Vertrauen und eine grössere Verbindlichkeit.
Gilli: Die Spitex braucht mehr Nähe zur Arztpraxis. Wenn eine Spitex heute eine Praxis anruft, bekommt sie meist nicht den Arzt ans Telefon, sondern die Praxisassistentin. Wenn nun aber beispielsweise ein Hausarzt-Netz die Spitex in die Fortbildung einbezieht und dort Ärztinnen, Spitex und Praxisassistentinnen gemeinsam an einem Thema arbeiten, entstehen Projekte oder Prozessoptimierungen.

Und man lernt einander und die Arbeit des Gegenübers besser kennen.
Heiniger:
Es ist wichtig, das Verständnis zu fördern – und damit auch das Vertrauen. Die medizinische Versorgung wird künftig stärker ambulant ausgerichtet sein. Dafür braucht es vermehrte Zusammenarbeit. Ein wichtiger Teil in solchen Netzwerken ist die Koordination. Das ist eine separate, wichtige Leistung und verdient viel Zeit.
Gilli: Und dort haben wir ein Problem: Solche Leistungen sind nicht finanziert durch das Krankenversicherungsgesetz.
Heiniger: Immerhin gibt es einige Projekte, in denen Koordinationsleistungen zusätzlich finanziert werden. Der Kanton Genf etwa hat der Spitex einen Leistungsauftrag gegeben zur Koordination aller ambulanten Gesundheitsdienstleistungen, auch von ärztlichen und therapeutischen.
Gilli: Im Rahmen von Projekten kann so etwas finanziert werden. Aber Projekte haben einen Anfang und ein Ende. Das kann zu Enttäuschung führen: Man etabliert eine gute Zusammenarbeit, aber kann sie nicht überführen in einen Regelbetrieb.
Heiniger: Dann müssen aus Projekten eben Produkte werden. In unserem zersplitterten Gesundheitswesen ist Koordination das A und O. Es braucht Finanzierungslösungen; das muss auch die Politik erkennen.

Es ist wichtig, das Verständnis zu fördern – und damit auch das
Vertrauen.

Dr. iur. Thomas Heiniger

Präsident Spitex Schweiz

Ist die Schaffung solcher Finanzierungen ein gemeinsames Anliegen, das Spitex und Ärzteschaft angehen sollten?
Gilli: Ja. Aber Koordination kostet zuerst. Sie fördert Entwicklungsprozesse und die Zusammenarbeitskultur. Es ist gar nicht so einfach darzulegen, wie sie die wirtschaftliche Effizienz steigert.
Heiniger: Bessere Qualität schlägt sich immer in Franken und Rappen durch. Koordination kann zu wesentlichen Verbesserungen beitragen, sowohl wirtschaftlich als auch qualitativ. Sie hilft mit, dass es weder zu Über- noch zu Unterversorgung kommt.

Kürzlich hat das Parlament eine wichtige Reform verabschiedet, um Fehlanreize im Gesundheitswesen zu vermeiden: die einheitliche Finanzierung ambulanter und stationärer Leistungen, EFAS. Wie betrifft sie Ärzteschaft und Spitex?
Gilli: Auch dort haben wir ein gemeinsames Anliegen. Gegen die einheitliche Finanzierung wird das Referendum ergriffen – unter anderem mit der Argumentation, dass EFAS mit der Zeit zu einer Verschlechterung der Arbeitsbedingungen für die Pflege führen würde. Das stimmt nicht – und es ist wichtig, dass das sowohl die Pflegeseite als auch die ärztliche Seite klarstellen.

EFAS wird dazu führen, dass mehr Eingriffe ambulant durchgeführt werden. Bedeutet das mehr – und komplexere – Arbeit für die Spitex?
Heiniger: Die Tendenz zur ambulanten Versorgung ist nicht neu. Heute gibt es mehr als 450 000 Spitex-Klientinnen und -Klienten in der Schweiz – das sind mehr als doppelt so viele wie vor zehn Jahren. Die grösste Steigerung sehen wir nicht etwa bei Menschen im Pensionsalter, also wegen der Alterung der Gesellschaft, sondern im Segment der 20- bis 64-Jährigen, weil Patientinnen und Patienten früher aus dem Spital entlassen werden – oder gar nicht mehr erst dort behandelt werden. Das wird sich in Zukunft akzentuieren. Die Beanspruchung der häuslichen Pflege steigt. Ihre Komplexität auch. Das zeigt sich auch darin, dass das Spitex-Personal in den letzten zehn Jahren um rund 60 Prozent zugenommen hat.
Gilli: Damit verändern sich auch Berufsprofile. Im Spital kommt die Schmerztablette automatisch. Wenn jemand nach der Operation direkt nach Hause geht, bewegt er sich in der ­Regel mehr und versucht, weniger Schmerzmittel zu nehmen. Das führt zu Zuständen, die während der Genesung völlig normal sind; aber der Patient empfindet sie vielleicht als ­bedrohlich. Das müssen Spitex und Hausärzte neu einschätzen lernen.
Heiniger: Es trägt aber auch zur Attraktivität des Berufs bei. Ambulante Leistung ist vielseitiger als stationäre Leistung. Ich bin überzeugt, dass mit fortschreitender Ambulantisierung die Bedingungen und die Arbeitsstellen bei der Spitex noch attraktiver werden.

Aber kann die Spitex eine starke Verschiebung von stationär zu ambulant angesichts des Fachkräftemangels bewältigen?
Heiniger: Es ist ja nicht so, dass es gesamthaft mehr Leistungen braucht. Sie werden heute noch an anderen Orten erbracht. Künftig müssten Spitäler weniger Pflegepersonal benötigen. Natürlich zeigt sich ein allgemeiner Pflegekraftmangel, und die Spitex kämpft auch. Aber es gelingt ihr im Vergleich zu Pflegeheimen besser, ihre offenen Stellen zu besetzen. Und wir können und wollen nicht auf den Trend zur ambulanten Versorgung verzichten.
Gilli: Es wird einen gemeinsamen Strukturwandel im Gesundheitswesen geben – nicht nur bei der Spitex. Das ist eine grosse Herausforderung.
Heiniger: Es gibt aber auch neue aufwandsparende Möglichkeiten, Telemedizin oder Digitalisierung beispielsweise. Heute fährt eine Spitex-Mitarbeiterin in ein abgelegenes Tal, um sicherzustellen, dass ein Patient seine Medikamente eingenommen hat. Vieles liesse sich mit digitalen Mitteln vereinfachen.

Es wird einen gemeinsamen Strukturwandel im Gesundheits-
wesen geben – nicht nur bei der Spitex.

Dr. med. Yvonne Gilli

Präsidentin FMH

Können moderne Hilfsmittel auch die Zusammenarbeit zwischen Spitex und Ärzteschaft verbessern?
Heiniger:
Ja, bei der Medikamentenversorgung sind das elektronische Patientendossier oder die E-Medikation Ansätze. Das ist ebenfalls ein gemeinsames Anliegen von Spitex und Ärzteschaft. Wir müssen dort endlich weiterkommen.
Gilli: Am Schluss geht es aber wieder um Menschen und um Koordination. Wer beurteilt, wer verschreibt, wer kontrolliert? Wer kümmert sich bei chronisch Kranken mit einer Polymedikation darum, die Anzahl Medikamente allenfalls zu reduzieren? Zudem braucht es klare Verantwortlichkeiten. Wenn etwas nicht gut läuft, muss jemand gerade stehen.

Die Ärztin für die ärztliche Leistung und der Spitex-Mitarbeiter für die Pflegeleistung?
Heiniger: Ich finde, ja. Die Spitex soll sich nicht in den ärztlichen Bereich wagen. Aber die pflegerische, zunehmend hochkomplexe Leistung muss und kann sie übernehmen – und ist dann auch verantwortlich dafür.
Gilli: Wichtig ist dabei, seine Grenzen zu kennen. Und es braucht eine gute Fehlerkultur. Auch das ist ein Bereich, in dem Ärzteschaft und Spitex stärker zusammenarbeiten könnten. Zum Beispiel zur Vermeidung von Medikamenten-Verwechslungen. Solche Projekte gibt es, aber meist innerhalb von Ärzte- oder Praxisteams.
Heiniger: Für die Spitex wären gemeinsame Projekte interessant. Auch wir legen sehr grossen Wert auf Qualitätssicherung und Fehlermeldesysteme. Das ist bei uns besonders wichtig, denn unsere Mitarbeitenden sind oft alleine bei ihren Klientinnen und Klienten zuhause.

Zusammenarbeit fordert die Spitex auch bei dem neu aufkommenden «Hospital at Home»-System. Haben Sie, Herr Heiniger, Angst, dass Spitäler in Ihrem Revier zu wildern beginnen, indem sie die ambulante Akut- oder Übergangspflege an sich reissen?
Heiniger: Das wäre Gärtli-Denken. Mir geht es um etwas anderes: Wir wollen frühzeitig dabei sein, damit die Spitäler um die Möglichkeiten wissen, die sie in einem solchen System mit der Spitex haben. Die Spitex weiss, was es heisst, ­jemanden in den eigenen vier Wänden zu betreuen und zu pflegen. Das sind ganz andere Herausforderungen als im Spital – es fehlt etwa an Infrastruktur und es sind Angehörige da. Damit muss man umgehen können. Es ist absolut unnötig, wenn Spitäler nun ihr Pflegepersonal darin schulen und so Parallelstrukturen aufbauen. Die Spitex kann die meisten pflegerischen Leistungen übernehmen, die bei «Hospital at Home» von der Spitalpflege beim Patienten zuhause erbracht werden.
Gilli: «Hospital at Home» ist zum Teil verbunden mit Leistungen, welche die Spitex nicht erbringt. Gewisse Drainagen etwa sind Sache des Akutspitals. Wenn man entscheidet, einen Notfallpatienten bei sich zuhause stationär zu behandeln, benötigt er bestimmte spezialisierte Leistungen sofort – nicht erst in ein, zwei Tagen. Es stimmt aber: Es besteht die Gefahr, dass man hier Parallelstrukturen aufbaut – und man wird sie dort aufbauen, wo es rentiert. Das kann zu neuen Fehlanreizen führen. Darum muss man von Anfang an integrativ denken – und sich sehr gut überlegen, wo bei «Hospital at Home» die Schnittstellen und Übergänge zur Hausärztin und zur Spitex liegen.
Heiniger: Was eine Spitexorganisation alles kann, hängt auch davon ab, wie gross sie ist und über welche Kompetenzen sie verfügt. Die Spitex wird vielerorts schon heute für Notfälle eingesetzt. Durchaus möglich, dass sie da noch flexibler werden muss.

Ist das ein Problem für die Spitex – dass es manchmal sehr schnell gehen muss?
Heiniger: Viele Spitexorganisationen verfügen bereits über einen 24/7-Betrieb und sind für schnelle Einsätze ausgerüstet; sie brauchen aber frühzeitige Informationen, damit sie ihre Arbeit planen können.
Gilli: Auch hier braucht es Verständnis von ärztlicher Seite. Bei Spitalaustritten etwa muss die Spitalseite vorausdenken und die Spitex frühzeitig informieren.
Heiniger: Damit sind wir wieder bei der Frage, wie gut man sich gegenseitig kennt. Wenn Spitäler oder Hausärztinnen und Hausärzte wissen, wie die Spitex organisiert ist, können sie besser Rücksicht auf sie nehmen. Und umgekehrt. Wissen, Vertrauen und eine frühzeitige Information erleichtern vieles.

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