Wie Pflegeexpertinnen und Pflegeexperten für mehr Qualität sorgen
Akademisch ausgebildete Pflegefachpersonen können die Qualität der Spitex-Leistungen auf vielfältige Art und Weise sicherstellen und optimieren – wie genau, berichten Angela Schnelli und Maria Gasser von der AFG Spitex Pflege.
KATHRIN MORF. Bei der Spitex sollten mehr Pflegeexpertinnen und Pflegeexperten1 arbeiten, also mehr Pflegefachpersonen mit akademischer Ausbildung. Dieser Überzeugung sind Dr. Angela Schnelli, Pflegeexpertin mit Doktorat in Pflegewissenschaft, sowie Maria Gasser, Pflegeexpertin mit Master of Science in Pflege. Angela Schnelli ist unter anderem beim Spitex Verband Thurgau als Leitung der Fachstelle Spitex-Entwicklung tätig, Maria Gasser als Leiterin Qualitätsmanagement und Entwicklung bei der Spitex Kanton Zug. Und beide sind Mitglieder der Akademischen Fachgesellschaft (AFG) Spitex Pflege des Schweizerischen Vereins für Pflegewissenschaft (VFP).
«Pflegeexpertinnen APN2 arbeiten nicht nur selbst auf verschiedene Weise an der Qualität – sie befähigen jeweils auch ihre Mitarbeitenden, dies zu tun», erklärt Angela Schnelli, Co-Präsidentin der AFG. «Dabei ersetzen Pflegeexpertinnen andere Berufsgruppen wie beispielsweise Pflegefachpersonen FH und HF keineswegs. Die Spitex benötigt eine gute Mischung aus allen Ausbildungsstufen», betont Maria Gasser. Pflegeexpertinnen sind für die Qualität der Spitex-Leistungen zum Beispiel in folgenden Bereichen tätig3:
• Interprofessionelle Kooperationen: Im Projekt CASE (Coordinated APN Support for the Elderly) von Spitex Zürich wurde aufgezeigt, wie eine Pflegeexpertin als Bindeglied zwischen Hausarztpraxis und Spitex fungiert. «Pflegeexpertinnen sind für die interprofessionelle Zusammenarbeit umfassend ausgebildet», sagt Maria Gasser. «Sie können effizient mit anderen Leistungserbringern in Bezug auf einzelne Fälle kommunizieren und damit Fehler an den Schnittstellen vermeiden. Sie können aber auch übergeordnete interprofessionelle Projekte initiieren und leiten», fügt Angela Schnelli an.
• Clinical Assessment: «Pflegeexpertinnen nehmen die Gesundheit und das Umfeld ihrer Klientinnen und Klienten umfassend wahr. Und sie verfügen über eine breite Palette an generellen Assessments und Fokus-Assessments», sagt Maria Gasser. Dadurch erhielten die Klientinnen und Klienten genau diejenige Pflege und Unterstützung, die sie benötigen. «Auf Basis dieser Assessments können Pflegeexpertinnen zudem äusserst differenziert umschreiben und sich mit anderen Akteuren darüber austauschen, wieso welche Interventionen nötig sind», fügt Angela Schnelli an.
• Beratung und Coaching: Pflegeexpertinnen können ihre Mitarbeitenden nicht nur ausbilden und schulen, sondern sie auch in herausfordernden Fällen beraten und begleiten. Laut einer Master-Umfrage der Universität Basel von 2022 sehen 94 Prozent der Pflegefachpersonen mit Masterabschluss die Beratung und das Coaching ihrer Mitarbeitenden als ihre zentrale Kompetenz an. Dies vor Praxisentwicklung/ Qualitätsmanagement (88 %), direkter Patientenpflege (87 %) und der Förderung der intrasowie interprofessionellen Zusammenarbeit (86 %).
• Evidenzbasierte Pflege: «Einerseits lassen Pflegeexpertinnen wichtige Erkenntnisse der Forschung in Konzepte und Prozesse ihrer Spitex-Organisation einfliessen», erklärt Angela Schnelli. «Andererseits können sie die eigenen Daten einer Spitex-Organisation fundiert auswerten, um die Leistungen der Spitex zu optimieren und weiterzuentwickeln», ergänzt Maria Gasser, Mitglied der Kommission Home Care Data (HCD) von Spitex Schweiz. Die Spitex brauche valide Daten über die eigene Arbeit, weswegen HCD von vielen Spitex-Organisationen genutzt werden sollte, sagt sie (vgl. auch «Spitex Magazin» 4/2021).
• Leadership: Die Interessensgruppe swissANP zählt auch Leadership zu den Vorteilen von Pflegeexpertinnen, also Führungsqualitäten. «Als Führungspersonen können Pflegeexpertinnen zum Beispiel sehr gut Personen fördern sowie Projekte priorisieren und initiieren», sagt Angela Schnelli. «Leadership braucht es aber nicht nur im oberen Kader, sondern unter anderem auch in der fachlichen Entwicklung der Pflege. Zum Beispiel, indem Pflegeexpertinnen Qualitätsstandards erarbeiten und im ganzen Team sichern», ergänzt Maria Gasser.
• Ethische Entscheidungsfindung: swissANP nennt schliesslich auch die ethische Entscheidungsfindung als Aufgabe von Pflegeexpertinnen. Laut Angela Schnelli muss sich die Spitex zum Beispiel manchmal die Frage stellen, ob sie noch die richtige Leistungserbringerin für eine Klientin oder einen Klienten ist; etwa bei einer psychischen Erkrankung oder kognitiven Einschränkung. «Pflegeexpertinnen können dann eine ethische Entscheidungsfindung im Team initiieren und begleiten. Und sie können für die Klientin oder den Klienten einstehen, wo immer es nötig ist», sagt Maria Gasser.
Angesichts dieser vielen möglichen Aufgaben von Pflegeexpertinnen betonen Maria Gasser und Angela Schnelli, dass auch die Expertinnen selbst «gepflegt» werden müssen. «Das sind meist junge, äusserst ambitionierte Fachpersonen, die keine Herausforderung scheuen und sich darum zu verausgaben drohen», warnt Angela Schnelli. «Man sollte Pflegeexpertinnen zwar Freiheiten bieten – jedoch in einem definierten Arbeitsgebiet, damit sie nicht ausbrennen», rät Maria Gasser.
Pflegeexpertinnen arbeiten nicht nur selbst auf verschiedene Weise an der Qualität – sie befähigen auch ihre Mitarbeitenden, dies zu tun.
ANGELA SCHNELLI
Pflegeexpertin Spitex Verband Thurgau
Noch ist die Zahl der Pflegeexpertinnen klein
Trotz aller Vorteile einer Pflegeexpertin ist deren Zahl bei der Spitex im Vergleich nicht hoch. Die Basler Umfrage von 2022 zeigt zum Beispiel, dass von den Absolventinnen und Absolventen mit MAS in Pflegewissenschaft nur 6,6 Prozent bei der Spitex tätig wurden; dominierend waren die somatischen Spitäler mit gut 62 Prozent. Der im Vergleich höhere Lohn der Pflegeexpertinnen sei sicherlich ein Grund, wieso so manche Spitex-Organisation keine Pflegeexpertinnen einstellt, sagt Angela Schnelli. Um diesen zu beseitigen, könnte einerseits die Krankenpflege-Leistungsverordnung (KLV) überarbeitet werden – damit für komplexe Spitex-Leistungen künftig höhere Tarife verrechnet werden könnten, welche dem Einsatz einer hochspezialisierten Pflegefachperson Rechnung tragen. «Andererseits müssen auch alle Restfinanzierer begreifen, dass die Spitex für die Bewältigung der zunehmenden Komplexität ihrer Fälle zunehmend akademisch ausgebildete Pflegefachpersonen braucht», sagt sie. Kleine Spitex-Organisationen hätten dabei die Möglichkeit, sich eine Pflegeexpertin mit einer anderen Spitex-Organisation oder einer Hausarztpraxis zu «teilen».
Künftig wird es eine Tatsache sein, dass die Spitex auf Pflege-expertinnen nicht mehr verzichten kann.
MARIA GASSER
Pflegeexpertin Spitex Kanton Zug
«Die Einstellung, dass eine Pflegeexpertin für die Spitex zu teuer ist, ist eine wenig vorausschauende Sichtweise», meint Maria Gasser. «Zudem bieten Pflegeexpertinnen Unterstützung beim Sparen von Ressourcen. Zum Beispiel, weil das ganze Team durch ihre Interventionen gezielter und effizienter arbeitet.» Maria Gasser und Angela Schnelli sind indes überzeugt, dass sich die Erkenntnis der Wichtigkeit von Pflegeexpertinnen für die Spitex langsam, aber sicher durchsetzt. «Künftig wird es keine Frage mehr sein, ob sich die Spitex Pflegeexpertinnen leisten kann», sagt Maria Gasser. «Künftig wird es eine Tatsache sein, dass sie auf Pflegeexpertinnen nicht mehr verzichten kann.»
Die Spitex OBB arbeitet mit einer mobilen Pflegeexpertin
Eine Alternative zur Festanstellung von Pflegefachpersonen mit akademischer Ausbildung sind die mobilen Pflegeexpertinnen und Pflegeexperten der Firma Advacare aus Leissigen BE (https://advacare.ch). «Unser Einsatz richtet sich nach dem Bedarf und den Finanzierungsmöglichkeiten unserer Kunden. Auch kleine bis mittelgrosse Spitex-Betriebe erhalten damit trotz Fachkräftemangel Zugang zu Pflegeexpertinnen und -experten», sagt Advacare-Gründerin Suleika Kummer. Jede Spitex-Organisation habe eine Ansprechperson bei Advacare, die von einem Team aus rund zehn weiteren Pflegeexpertinnen und Pflegeexperten mit verschiedenen Spezialisierungen unterstützt wird. «Der Fokus unserer Arbeit liegt darauf, die Spitex-Mitarbeitenden zu befähigen, dass Qualitätsmassnahmen nachhaltig sind», sagt Suleika Kummer. «Das oberste Ziel unserer Zusammenarbeit mit Advacare ist die Qualitätssicherung und -entwicklung», sagt Franziska Grogg von der Spitex Oberhasli Oberer Brienzersee (OOB). «Als Bereichsleiterin Qualität & Entwicklung führe ich interne Audits durch, und mit den Audits durch Advacare ist auch der Blick von aussen garantiert.» Weiter könne die Spitex OOB dadurch Handlungsanleitungen und Vorlagen evidenzbasiert überprüfen lassen. Die mobile Pflegeexpertin verordne dabei keine Massnahmen, sondern erarbeite diese mit dem Spitex-Team. «Und sie vermittelt unseren Mitarbeitenden aktuelles, fundiertes Fachwissen und Sicherheit», fügt sie an. «Damit werden die Mitarbeitenden befähigt, ihre Anliegen interprofessionell zu vertreten und zu begründen.»
1 Für eine bessere Leserlichkeit wird im Folgenden nur noch von
«Pflegeexpertinnen» gesprochen. Bei der Spitex arbeiten aber
auch wenige Pflegeexperten, die immer mitgemeint sind.
2 «ANP» steht für «Advanced Nurse Practice». Fachpersonen, welche
ANP praktizieren, sind «APN», «Advanced Practice Nurses».
Gemäss der Definition von Ann Hamric und Judith Spross (2004)
haben APN nicht nur mindestens einen Master in Pflegewissenschaft,
sie arbeiten auch grossmehrheitlich direkt mit Patientinnen
und Patienten. Pflegeexpertinnen und Pflegeexperten, die
mehrheitlich in der Lehre arbeiten, sind demgemäss keine APN.
3 Vgl. auch das Factsheet «Pflegeexpertinnen und Pflegeexperten MSc/APN in der Spitex» von Spitex Schweiz von 2021.