Von der Kommunikations­trainerin, die fast erblindete

Andrea Schläfli aus Winterthur ZH lehrt Spitex-­Mitarbeitende, wie sie heraus­fordernde Situationen durch Kommunikation bewältigen können. Ein ­besonderes Gespür für ebendiese Kommunikation hat Andrea Schläfli entwickelt, als sie einen Schicksalsschlag bewältigen musste: Über Nacht verlor sie einen Grossteil ihres Sehvermögens.

Auftritts- und Kommunikations­trainerin Andrea Schläfli lehrt in ihren Kursen, dass die Körpersprache rund 60 Prozent der Wirkung von Kommunikation ausmacht. Bild: Michael Steck

KATHRIN MORF. Andrea Maja Schläfli hat lange ein Leben gelebt, das kaum Ruhe und Rast umfasste. Nach ihrer Matura im Jahr 1991 reiste die gebürtige Appenzellerin nach Südafrika, um sich im Rahmen sozialer Projekte unter anderem für Strassenkinder zu engagieren. «Daraufhin liess ich mich in der Schweiz zur Sekundarlehrerin ausbilden und verdiente mir neben dem Studium ein Zubrot als Matrosin auf dem Bielersee», erzählt die heute 53-Jährige im Interview in ihrer gemütlichen Winterthurer Altbauwohnung. Als sie ihr Diplom in der Tasche hatte, packte sie alsbald das nächste an: Sie absolvierte ein Nachdiplom in Lernberatung und später eine Schauspiel- und Regieausbildung, eine Clown-Ausbildung sowie einen Executive Master in Arts Administration. 

Passend zu ihren vielseitigen Ausbildungen arbeitete sie stets in unterschiedlichen Berufen gleichzeitig. Unter anderem betreute sie als Auftritts- und Kommunikationstrainerin junge, aus dem Strafvollzug entlassene Männer. «Wir trainierten, wie sie ihre Kommunikation und Interaktion gelingend gestalten können, zum Beispiel im Umgang mit Vorgesetzten», berichtet sie. Diese Beschäftigung passt zu ihrer Kindheit: Ihre Eltern hatten eine Einrichtung für verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche betrieben. Im Weiteren war Andrea Schläfli als Lehrerin, als Theaterpädagogin oder auch als Leiterin der Koordinationsstelle Theaterpädagogik bei der Stadt Winterthur tätig. «Bis vor zehn Jahren war ich jemand, der sich stark nach aussen orientierte. Ich wollte im Job und im Privatleben erfolgreich sein», erzählt sie. «Wenn du dich gegen aussen orientierst, drohst du aber deine innere Stimme zu überhören. Und so gönnte ich meinem Körper kaum Pausen, bis er eines Nachts seinen Dienst versagte.

Allgemeine Tipps für die Kommunikation bei der Spitex

Körpersprache und Stimme einsetzen: «Rund 60 Prozent der Wirkung unserer Kommunikation werden nicht mit Worten, sondern mit Körpersprache erreicht, und etwa 30 Prozent mit Stimme und Atmung», sagt Andrea Schläfli. In ihren Kursen übt die Auftritts- und Kommunikationstrainerin darum mit Spitex-Mitarbeitenden einen bewussten Einsatz der individuellen Körpersprache und Stimmfarbe in Konfliktsituationen mit Klientinnen und Klienten – und wie man klar ‹Stopp!› sagen und signalisieren kann.

Gewaltfreie Kommunikation praktizieren: Andrea Schläfli lehrt das Prinzip der gewaltfreien Kommunikation nach Dr. Marshall B. Rosenberg. Demgemäss lernen Spitex-Mitarbeitende, das herausfordernde Verhalten ihres Gegenübers zu beobachten, dadurch ausgelöste Gefühle zu ­reflektieren und ihr Bedürfnis sowie eine präzise Bitte an die andere Person zu formulieren. So wird ein konstruktives Konfrontieren möglich.

Nullsituationen herstellen: Andrea Schläfli sucht mit Spitex-Mitarbeitenden nach individuellen Techniken, um vor jedem neuen Einsatz eine «Nullsituation» herzustellen, also eine neutrale Grundhaltung. «Ist eine Mitarbeiterin zum Beispiel noch vom letzten Einsatz gestresst, schadet dies der Arbeit mit der nächsten Klientin oder dem nächsten Klienten.»

Sich selbst vertrauen: «Trotz ihrer grossen Kompetenzen, Erfahrungen und Fertigkeiten haben viele FaGe und Pflegehelfende der Spitex ein geringes Selbstwertgefühl», berichtet sie. «Darum trainiere ich mit ihnen, wie sie ihre wertvollen Beobachtungen in Bezug auf ihre Klientinnen und Klienten im Gespräch mit Teammitgliedern, mit den Klientinnen und Klienten selbst oder auch mit Hausärztinnen und Hausärzten selbstbewusst in Worte fassen können.»

Auf Selbstreflexion und -fürsorge setzen: «Durch bewusstes Kommunikationstraining und dank Selbstreflexion erkennen Spitex-Mitarbeitende unter anderem, welche ihrer Kommunikations­muster im Beruf häufig zu Konflikten führen», so Andrea Schläfli. Wichtig sei auch das Reflektieren von Rollenerwartungen. «Oft versuchen Spitex-Mitarbeitende mehreren Idealbildern zu entsprechen und vergessen dabei sich selbst. Für eine gelungene Kommunikation und Interaktion ist ihre Selbstfürsorge aber zentral.»

Ohne Augenlicht aufgewacht
Die Nacht auf den 4. August 2013 veränderte Andrea Schläflis Leben für immer. «Als ich aufwachte, bemerkte ich, dass ich kaum mehr sehen konnte», erinnert sie sich. «Ich erschrak wahnsinnig, wollte mir aber nicht eingestehen, wie dramatisch die Situation ist.» Die Augenärzte, welche die damals 42-Jährige untersuchten, belehrten sie eines Besseren: «Sie sagten mir, dass meine Sehnerven richtiggehend explodiert sind und dass ich innert dreier Monate komplett erblinden würde. Diese Diagnose machte mir unfassbare Angst.» 

«Wieso meine Sehnerven zerstört wurden, konnten sich die Ärzte nicht einstimmig erklären. Manche machten hohen Blutdruck dafür verantwortlich, andere suchten nach einem aggressiven Tumor, welcher dieses Krankheitsbild normalerweise verursacht – sie fanden aber keinen.» Andrea Schläfli durchlebte damals eine «medizinische Odyssee», die zeitraubend und erschöpfend gleichermassen war. Wie es die Ärzte prophezeit hatten, schritt ihre Erblindung derweil weiter voran, und nach einigen Wochen erblindete sie auf ihrem linken Auge vollständig.

Hilfe in Indien gesucht und gefunden
«Nach einigen Wochen war ich am Boden und dachte daran, mir das Leben zu nehmen», sagt sie. Als ein Arzt in einer risikoreichen Operation ihren Schädel öffnen wollte, hatte Andrea Schläfli genug: Sie lehnte weitere Untersuchungen ab und wandte sich stattdessen an den ayurvedischen Arzt George Sajan Theruvel. Dieser betreibt eine Praxis in Stans NW und hat das «Vedasudha Ayurvedic Hospital» im indischen Dorf Vayala gegründet – ein kleines Spital, in dem mehrheitlich Europäerinnen und Europäer behandelt werden. Und so reiste Andrea Schläfli im November 2013 zum ersten Mal nach Vayala.

Sechseinhalb Wochen blieb sie im Spital, das mit der ayurvedischen Augenklinik Sreedhareeyam zusammenarbeitet. «Dort konnte die Blutung in meinen Augen und damit das Fortschreiten meiner Krankheit gestoppt werden», berichtet sie. «Beispielsweise kühlte man meine Schädeldecke mit eisgekühlter Buttermilch mit Heilkräutern, weil ich gemäss der ayurvedischen Lehre zu viel Feuer im Kopf hatte. Die indischen Ärzte sorgten aber auch dafür, dass ich an meinen Gedanken und meiner Energie arbeitete.» Eine wesentliche Rolle spielte dabei ein erfahrener Arzt, der immer wieder im Spitalzimmer der Schweizerin auftauchte und sie in gebrochenem Englisch ermahnte: «You must happy!» – «Du musst glücklich!». In vielen langen Zwiegesprächen mit seiner Patientin erreichte der Arzt schliesslich genau dies: «In Indien hat man mich gelehrt, meinen Lebensmut wieder zu finden», sagt Andrea Schläfli heute.

Wieder im Alltag zurechtfinden
Im Februar 2014 nahm die Winterthurerin ihre verschiedenen Berufe wieder auf. Elf Mal ist sie seither zurück nach Indien gereist, um sich weiter behandeln zu lassen. Auf dem linken Auge blieb sie blind, aber mit ihrem rechten Auge kann sie einige Ausschnitte ihrer Umgebung wahrnehmen. «Diese Punkte bewegen sich andauernd, was mein Sehvermögen schlecht kontrollierbar macht», erklärt sie. Zudem ist ihre Welt fast gänzlich braunweiss; nur Blautöne nimmt sie zusätzlich noch wahr.

Durch viel Training und dank technischer Hilfsmittel wie einem Vergrösserungsgerät sowie Vergrösserungs-Software für den Computer kann Andrea Schläfli zu Hause wieder lesen und schreiben. Muss sie auswärts eine kleine Schrift entziffern, behilft sie sich mit der Vorlese-App «Seeing AI» oder einem portablen Vergrösserungsgerät. Im öffentlichen Raum helfen ihr zudem ein Signalstock und Leitlinien für Sehbehinderte bei der Orientierung. «Und ich habe gelernt, dass ich auch einmal fremde Menschen um Hilfe bitten darf», fügt die Winterthurerin an, welche sich mit viel Leidenschaft für Barrierefreiheit im öffentlichen Raum einsetzt. Über dieses Thema sprach sie auch mit dem Schweizer Fernsehen, als sie im Januar 2023 für die Sendung «Reporter» mit dem Titel «Andrea Schläfli – Plötzlich ohne Augenlicht» porträtiert wurde.

Auch wenn ihr so manche Barriere die Orientierung im öffentlichen Raum erschwert – in ihrem vielfältigen Berufsleben hat sie sich durch ihre verminderte Sehkraft nie einschränken lassen. Beispielsweise hat sie in den vergangenen Monaten in Kursen und Einzelcoachings die Auftritts- und Kommunikationskompetenzen von Bergführerinnen, Managern, Feuerwehrleuten und Sekundarschülern trainiert. Sie hat Theaterprojekte in Schulen geleitet, eine Konferenz für Behindertenrechte moderiert und einen Jungen aus der Ukraine schulisch begleitet, dessen Interaktion mit anderen Menschen bis anhin als besonders herausfordernd galt. «Ich geniesse die Breite meiner Aufträge, in denen ich all meine beruflichen Erfahrungen rund um die Themen Lernen und Kommunikation verweben kann», sagt sie lächelnd. Der Fokus gelte dabei nicht den Defiziten, sondern den Ressourcen und Stärken der Menschen: «Wir alle tragen einen Sack voller Instrumente und Fähigkeiten für eine gelungene Kommunikation mit uns. Wir müssen diese nur erkennen und sie gezielt einsetzen lernen.»

Andrea Schläfli als Kommunikationstrainerin für die Pflege
Seit zehn Jahren lernen auch Mitarbeitende der Pflege und Betreuung von ihr, wie berufliche Situationen kommunikativ gelöst werden können: Fünf Jahre lang hat Andrea Schläfli Kommunikationskurse im Auftrag von OdA Gesundheit und Soziales Graubünden durchgeführt, insbesondere für FaGe und Haushelfende. Und sie hat Fortbildungen für die Teams einzelner Spitex-Organisationen geleitet. Allgemeine Ratschläge für die Spitex-Branche seien zwar möglich, sagt sie (vgl. Infokasten). In ihren Kursen gehe sie aber stets auf diejenigen kommunikativen Themen ein, welche die Teilnehmenden aktuell besonders beschäftigen. Dies könne zum Beispiel die Kommunikation während einer Veränderung wie einer Fusion sein, das Ansprechen von Schwierigkeiten im Team oder der Umgang mit aggressiven Klientinnen und Klienten. 

Aktuell hat sich die Spitex Region Landquart an Andrea Schläfli gewandt. «Kommunikation ist in unserem Betrieb aufgrund der Mitarbeitenden- und Kundenbefragung 2023 derzeit ein Schwerpunktthema, bei dem wir Massnahmen ergreifen möchten», erklärt Geschäftsleiter Michael Widrig. «In einer Weiterbildung wollen wir unter anderem unsere Kommunikation im Allgemeinen trainieren, die Wichtigkeit der Kommunikation für unser Betriebsklima thematisieren – und das Ansprechen von Fehlern und damit das konstruktive Fehlermanagement optimieren.»

Kann man nach aussen nicht mehr viel sehen, ist dies eine
Einladung, mehr auf das Innere zu achten.

ANDREA SCHLÄFLI

Auftritts- und Kommunikationstrainerin

Das fehlende Augenlicht als Vorteil sehen 
Heute spricht Andrea Schläfli ohne Gram über ihre Sehbehinderung und kann dieser sogar Positives abgewinnen. «Meine perfektionistische Orientierung an den Ansprüchen der Aussenwelt habe ich weitgehend abgelegt. Stattdessen liegt mein Fokus jetzt darauf, glücklich darüber zu sein, dass ich auf der Welt und gesund bin. Und dass ich mein Leben nach meinen Wünschen wirkungsvoll gestalten kann», sagt sie. In den vergangenen Jahren hat sie sich trotz eingeschränkter Sehkraft geliebte Sportarten wie Skitouren, Wandern und Segeln zurückerobert. Zudem ist sie gerne in ihrem grossen Garten oder am Herd zugange. Auch liebt sie das Lesen, Singen, Konzerte und Theaterstücke sowie das Dinieren und Philosophieren mit Freunden. Zudem verbringt die alleinstehende 53-Jährige gern ruhige Stunden zu Hause und krault ihren «Bodyguard», wie sie ihren Kater Giorgio nennt. Der Schicksalsschlag hat demnach für die Ruhe und Rast in Andrea Schläflis Leben gesorgt, welche ihr bis dahin gefehlt hatten. «Heute brauche und liebe ich es, innezuhalten und still zu sein. Dadurch habe ich dann jeweils wieder viel Energie zu verschenken», sagt sie, bevor sie in die Küche eilt, wo ein indisches Curry auf dem Herd duftet und blubbert. 

Die Sehbehinderung habe ihr auch vielfältigere Herangehensweisen in ihrem Beruf ermöglicht, fährt sie kurz darauf fort. Menschen liessen sich vom Äusseren anderer Personen schnell blenden und nähmen oft nur geäusserte Worte wahr, während sie Aspekte wie die Stimmfarbe oder den Atem ihres Gegenübers ausser Acht lassen. «Ich kann die Fassade von Menschen nur noch schlecht wahrnehmen. Stattdessen höre ich nun viel besser hin und vertraue stark auf mein Gespür für Menschen. Darum merke ich zum Beispiel schnell, ob eine Aussage authentisch ist oder wie sich jemand wirklich fühlt», erklärt sie abschliessend, während sie ihre Gabel in das würzige Curry sticht. «Mein Leben hat mir gezeigt: Kann man nach aussen nicht mehr viel sehen, ist dies eine Einladung, mehr auf das Innere zu achten – bei sich selbst und bei anderen Menschen.»

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