Komplexität meistern dank Ausbildung auf Masterstufe

Pflegexpertinnen und Pflegeexperten APN können die zunehmende Komplexität bei der Spitex besonders gut bewältigen helfen. Darum haben die Spitex-Organisationen IMAD und AVASAD ein Projekt zur APN-Förderung lanciert. Laut Spitex Schweiz braucht es indes dringend eine gesetzliche Regulation dieser Mitarbeitenden mit Ausbildung ab Masterstufe.

Studierende des Masterlehrgangs Pflege an der Berner Fachhochschule (BFH) – bald sind sie Pflegeexpertinnen und Pflegeexperten. Bild: BFH

FLORA GUERY, KATHRIN MORF. Pflegeexpertinnen und Pflegeexperten APN (vgl. Infokasten) haben einen universitären Abschluss ab Masterstufe absolviert – und dadurch zahlreiche Kompetenzen erlangt, um unter anderem in folgenden Bereichen zur Bewältigung der zunehmenden Komplexität bei der Spitex beizutragen:

  • Selbst im Einsatz: Gemäss einem Faktenblatt 1 von Spitex Schweiz ist der Einsatz «im Feld» eine der zwei zentralen Rollen der Pflegeexpertinnen2  in der Spitex. «Pflegeexpertinnen sind im direkten Kontakt mit Klientinnen und Klienten und übernehmen die Pflegeprozesse insbesondere bei komplexen und instabilen Klientensituationen», erklärt Franziska Adam, bei Spitex Schweiz zuständig für das Dossier Fokus Bildung und Pflege. «Dabei arbeiten sie umfassend und vorausschauend und können eigenständig klinische Untersuchungen durchführen sowie Vorschläge für Therapieverordnungen machen, im Kanton Waadt auch für Medikamentenverordnungen.» Damit entlasteten sie auch die unter Fachkräftemangel leidende Hausärzteschaft.
  • Case Management: «Pflegeexpertinnen übernehmen in komplexen Fällen das Case Management und beraten die fallführenden Pflegefachpersonen», so Franziska Adam. Spitex Zürich hat in einem Praxisprojekt 3 aufgezeigt, dass die Beteiligung von Pflegeexpertinnen einen Fall stabilisiert – und Instabilität ist ein zentraler Treiber von Komplexität.
  • Integrierte Versorgung: «Pflegeexpertinnen sind darin ausgebildet, im interdisziplinären Team für Koordination und Informationsaustausch zu sorgen», fügt sie an. Wichtig ist dies in Bezug auf ­Komplexität, weil mehrere involvierte Gesundheitspersonen ein Komplexitätsfaktor sind. Wie eine Pflegeexpertin ein Bindeglied zwischen Leistungserbringern sein kann, zeigt sich zum Beispiel am ­Projekt «Patient at Home» in Biel (vgl. Bericht Patient at Home).
  • Beratung und Befähigung aller Mitarbeitenden: «Als klinische Expertinnen können Pflegeexpertinnen andere Fachpersonen und Berufsgruppen in komplexen Situationen unterstützen», sagt Franziska Adam. So könnten sie Schulungen, klinische Supervisionen sowie Praxisanalysen anbieten und entwickeln. Dies ist laut Faktenblatt die zweite zentrale Rolle der Spitex-Pflegeexpertinnen.
  • Evidenzbasiertes Arbeiten fördern: Laut Franziska Adam fördern Pflegeexpertinnen evidenzbasierte Pflegeinterventionen, indem sie wissenschaftliche Erkenntnisse auf den Alltag der Spitex «herunterbrechen». Zudem initiieren sie Studien zu Spitex-Themen oder beteiligen sich zumindest daran. Auch die eigenen Daten einer Spitex-Organisation werten Pflegeexpertinnen aus und erkennen damit zum Beispiel frühzeitig, welche Fälle sich zu herausfordernden Situationen entwickeln könnten.
  • Weiterentwicklung der Organisationen: «Pflegeexpertinnen übernehmen Aufgaben in der Beratung und Entwicklung der Spitex-Organisationen», sagt Franziska Adam. «Zum Beispiel leiten sie Pflegeentwicklungsprojekte, entwickeln damit die Betriebe weiter und stärken die Pflege als Pro­­fes­sion.» Auch für die Qualitätsentwicklung seien sie zentral (vgl. Spitex Magazin 2/2023).
  • Projekte in der Praxis: Schliesslich können Pflegeexpertinnen laut Franziska Adam Projekte entwickeln und implementieren, die zu einer Entlastung der Spitex in komplexen Pflegesituationen führen. Dazu gehörten Edukationsprogramme für Klientinnen und Klienten sowie Angehörige oder auch der Einsatz von Peers im psychiatrischen Bereich (vgl. Spitex Magazin 4/2023).

Wichtig ist Franziska Adam der Hinweis, dass nicht «nur» Pflegeexpertinnen gut mit Komplexität umzugehen wissen: «Auch Pflegefachpersonen HF und FH 4 sind ­Spezialistinnen in Bezug auf den Pflegeprozess oder die Vermittlung von Fachwissen an andere Mitarbeitende.» Der Schwerpunkt liege bei ihnen aber stärker in der Praxis beziehungsweise bei ihrem jeweiligen Schwerpunktthema, etwa der Wundpflege oder der Kinderspitex.

Was bedeuten die Abkürzungen
APN / ANP, NP und CNS?


«APN» für «Advanced Practice Nursing», also «fortgeschrittene Praxis der Pflege». Das ­Gleiche bedeutet «ANP» für «Advanced Nurse Practice». Umschrieben wird damit die Arbeit von Pflegefachpersonen mit akademischer Aus­bildung mindestens auf Masterstufe. Inter­national wird zwischen zwei Rollen der «Advanced Practice Nurses» unterschieden:
Nurse Practitioner (NP) und Clinical Nurse Specialists (CNS). Laut dem Faktenblatt von Spitex Schweiz zum Thema APN arbeiten NP die meiste Zeit direkt mit Patientinnen und Patienten und betreuen sie und ihre Angehörigen weitgehend selbstständig. CNS beraten hingegen «oft Pflegeteams und Angehörige und koordinieren komplexe Pflegesituationen umsichtig, bis sich die Situation stabilisiert.» Die Übergänge zwischen NP und CNS seien indes fliessend, erklärt der Verein APN-CH.

→ www.apn-ch.ch

Die Herausforderung: die Finanzierung
«Es gibt rund 1000 Pflegeexpertinnen in der Schweiz und ihre Zahl nimmt laufend zu. Obwohl die Spitex ein Bereich mit viel Potenzial für diese Fachpersonen ist, sind sie dort erst selten tätig – und die schwierige Abrechnung ihrer Leistungen ist sicherlich ein Hauptgrund hierfür», berichtet Franziska Adam. Denn: Bisher werden Pflegeexpertinnen nur durch den Verein APN-CH reglementiert, was allerdings nicht gesetzlich verbindlich ist. Im Bundesgesetz über die Gesundheitsberufe (GesBG) wird hingegen nur die Bachelor-Stufe reglementiert, nicht die Masterstufe. «Laut Gesetz können Spitex-Mitarbeitende mit Ausbildung ab Masterstufe folglich nur zum HF-Tarif abrechnen», kritisiert sie. «Und viele Restfinanzierer wollen die Mehrkosten für die Anstellung von Pflegeexpertinnen nicht übernehmen, wie es die Stadt Zürich tut.» Einzig im Kanton Waadt sorge das kantonale Gesetz dafür, dass Pflegeexpertinnen ihre Leistungen angemessen abrechnen können.

Aufgrund dieser Ausgangslage ist Franziska Adam seit Ende 2023 Mitglied eines Soundingboards, das vom Bundesamt für Gesundheit (BAG) gebildet wurde, um unter anderem über eine neue Tarifierung der Masterstufe zu diskutieren. «Angesichts der steigenden Komplexität bei der Spitex muss die Masterstufe schnellstmöglich gesetzlich geregelt werden», fordert sie. «Nur dann kann die Spitex die Leistungen dieser wichtigen Fachpersonen endlich überall angemessen abrechnen.»

Die Spitex muss die Leistungen der wichtigen Pflegeexpertinnen und Pflegeexperten endlich überall angemessen abrechnen können.

FRANZISKA ADAM

Spitex Schweiz, Fokus Bildung und Pflege

Die Praxis: Förderung der APN bei IMAD 
2021 entschied sich die Genfer Spitex IMAD (institution genevoise de maintien à domicile) zu Folgendem: Jedes Jahr wird den Mitarbeitenden, die einen Masterstudien­gang absolvieren wollen und die Voraussetzungen dafür mitbringen, die weiterführende Ausbildung zum Nurse Practitioner (NP) oder Clinical Nurse Specialist (CNS; vgl. Infokasten) angeboten. Die IMAD treibt diese höhere Ausbildung auch voran, um zur Förderung der Pflegeexpertinnen und Pflegeexperten im Spitex-Setting im Allgemeinen beizutragen. Im September 2024 werden vier Mitarbeitende der IMAD die Funktion des CNS innehaben, und eine Mitarbeiterin befindet sich in der Ausbildung zur NP mit Abschluss im Jahr 2025.

Paul Brizard ist seit Februar 2024 einer der CNS bei der IMAD. Der 43-Jährige arbeitet seit 2017 für die Genfer Spitex und hat seinen Masterstudiengang in Pflegewissenschaft Anfang 2024 abgeschlossen. Seither stellt er ein «Vorher» und «Nachher» in der Art und Weise fest, wie er seinen Beruf ausübt. «Ich habe das Gefühl, dass es nicht mehr genau derselbe Beruf ist. Ich fühle mich immer noch als Pflegefachmann, aber mit einer globaleren Sichtweise und einem breiteren Hintergrundwissen, um Klientensituationen und die Pflegepraxis zu erfassen», sagt er. Die Ausbildung habe ihm die nötigen Werkzeuge an die Hand gegeben, um zur Entwicklung der Qualität und Sicherheit der Pflege beizutragen und dabei stets die interprofessionelle Zusammenarbeit zu fördern.

Als Beispiel geht Paul Brizard auf die Pflege von hochkomplexen und/oder fragilen Klientinnen und Klienten beim Übergang vom Spital ins Spitex-Setting ein: Der Pflegeexperte ergänzt in diesen Fällen das Fachwissen der IMAD-Teams, indem er auf Basis der besten wissenschaftlichen Grundlagen Pflegestrategien entwickelt, die dem Kontext genauso angepasst sind wie den Bedürfnissen der Klientinnen und Klienten sowie ihrer Angehörigen. Seine umfassende Analyse kann er weitervermitteln und seine Mitarbeitenden damit bei der Entwicklung einer massgeschneiderten Pflegeplanung unterstützen. «In äusserst komplexen Übergangssituationen kann ein CNS auch an die ‹Front› gehen und ein tiefgehendes klinisches Assessment oder zum Beispiel auch ein familiensystemisches Gespräch durchführen», erklärt er. Seiner Meinung nach sind Pflegeexpertinnen und Pflegeexperten ein Bindeglied, das die Versorgungskette für die Klientinnen und Klienten weiter optimiert – in Bezug auf Qualität, Kontinuität und Sicherheit. 

Das Projekt: Partnerschaft für ein neues Modell
Um Pflegeexpertinnen und Pflegeexperten besser ins Spitex-Setting zu integrieren, beschlossen die IMAD, die Waadtländer Spitex AVASAD (Association vaudoise ­d’aide et de soins à domicile) und das Institut für Ausbildung und Forschung in Pflegewissenschaften (IUFRS) der Universität und des Universitätsspitals Lausanne, Hand in Hand zu arbeiten: Aus dieser Partnerschaft ging das von der Leenaards-Stiftung unterstützte Projekt IPADom hervor (IPADom steht für «Infirmier-ère de Pratique Avancée à Domicile», also «Pflegeexpertinnen und Pflegeexperten APN zu Hause»). Das im November 2023 gestartete Projekt fördert die Ausbildung von hoch qualifizierten und spezialisierten Pflegefachkräften am IUFRS und ihre Integration in die Spitex. Ziel ist es, damit die Qualität der Pflege zu verbessern und auf wachsende Herausforderungen der Branche – wie die zunehmende Komplexität – zu reagieren. Thierry Penseyres, Leiter der Abteilung für Pflegeentwicklung, Prävention und Gesundheitsförderung bei AVASAD, erklärt: «Wir werden erst reflektieren, wie die Einführung von Pflegeexpertinnen und Pflegeexperten in der Pflege zu Hause dabei helfen kann, unser Angebot zu erweitern, die Effizienz unserer Prozesse zu verbessern – und auf die Bedürfnisse unserer Klientinnen und Klienten, ihres Umfelds und unserer Fachkräfte besser einzugehen.»

IPADom besteht aus zwei Phasen: «Die erste wird der Schaffung eines neuen Modells zur Integration von APN in die Spitex gewidmet. Die zweite dient dazu, dieses Modell durch Pflegeexpertinnen und Pflegeexperten im Kontakt mit Klientinnen und Klienten und der Ärzteschaft zu erproben», berichtet Thierry Penseyres. Das Projekt konzentriert sich dabei auf die Optimierung der Pflege und Betreuung sowie die Koordination aller Involvierten nach einer Entlassung aus einer stationären Einrichtung. Denn dieser Übergang zwischen Spital und Privathaushalt ist ein entscheidender Moment, in dem verschiedene unerwünschte Ereignisse auftreten können. «Wir glauben, dass das Projekt dazu beitragen wird, eine Reihe von Rehospitalisierungen zu vermeiden», sagt er.

Ein Bericht über die Partnerschaft von AVASAD, IMAD und IUFRS erschien bereits 23. November 2023 auf www.spitexmagazin.ch.

  1. Factsheet «Pflegeexpertinnen und Pflegeexperten MSc/ANP in der Spitex: Rolle, Mehrwert und Einsatzgebiete»; Spitex Schweiz 2021. ↩︎
  2. Im Folgenden wird der Einfachheit halber teilweise nur von «Pflegeexpertinnen» geschrieben; die männliche Form ist aber immer mitgemeint.  ↩︎
  3. www.zhaw.ch/storage/gesundheit/ueber-uns/veranstaltungen/symposien/2021-einsatz-apn-zuhause-jenkins-poster.pdf ↩︎
  4. Spitex Magazin 3/2024 widmet sich dem Fokusthema «Die
    verschiedenen Ausbildungen bei der Spitex» und damit auch ausführlich den Pflegefachpersonen HF/FH.
    ↩︎

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