Ist die Spitex bald künstlich intelligent?

Einleitend gehen drei Fachpersonen auf drei zentrale Fragen rund um künstliche Intelligenz (KI) in der Pflege zu Hause ein: Welche Vorteile und Gefahren bringt KI für die Spitex im Allgemeinen mit sich? Wie kann sie Daten auswerten? Und wie kann sie Robotern das Pflegen und Betreuen ermöglichen?

Welche möglichen Vorteile und Gefahren bringt künstliche Intelligenz für die Pflege? Auf diese Frage geht Dr. Stephan Sigrist, Geschäftsleiter des Think Tanks W.I.R.E., ein.

KATHRIN MORF. «Der derzeitige Hype rund um künstliche Intelligenz (KI) wurde einerseits ausgelöst durch revolutionäre Technologien wie ChatGPT[1]. Andererseits ist er überraschend, denn künstliche Intelligenz wird seit den 1950er-Jahren erforscht», sagt Dr. Stephan Sigrist. Der Molekularbiologe hat den Think Tank «W.I.R.E.» gegründet, der sich mit langfristigen Entwicklungen in Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft befasst. «Oft hört und liest man derzeit, dass wir KI bald nicht mehr kontrollieren können und dass sie unzählige Arbeitsplätze kosten wird. Das ist stark übertrieben», fügt er an. «Angesichts des Potenzials dieser Technologien tun wir gut daran, nüchterner und differenzierter über sie zu diskutieren.»

Doch was ist KI genau? Blosse automatisierte IT-Systeme sind noch keine künstliche Intelligenz, auch wenn sie teilweise so bezeichnet werden. ChatGPT selbst definiert KI als «einen Bereich der Informatik, der sich mit der Schaffung von Maschinen oder Software beschäftigt, die Aufgaben ausführen können, die normalerweise menschliche Intelligenz erfordern». Diese Aufgaben umfassten Wahrnehmung, Problemlösung, Sprachverstehen, Entscheidungsfindung – und Lernen. Moderne KI kann Neues generieren («generative KI») und dazulernen. Oft basiert KI auf «maschinellem Lernen», was bedeutet, dass Algorithmen anhand von grossen Datenmengen trainiert werden. Das zunehmende «Deep Learning» erfolgt mithilfe künstlicher neuronaler Netze – und wird oft als unergründbare «Black Box» beschrieben, weil die Prozesse dabei nicht immer nachvollziehbar sind.[2]

Stephan Sigrist wird im Folgenden zwar den Begriff KI verwenden – er stellt aber klar, dass dieser «fälschlicherweise suggeriert, dass diese auf Daten und maschinellem Learning basierenden Systeme menschliche Intelligenz besitzen. Hierfür fehlen ihnen aber die Breite des menschlichen Denkens, Bewusstsein oder auch Intuition.»

Von den Chancen von KI in der Pflege
KI kann heute und in Zukunft die Pflege und Betreuung unter anderem in folgenden Bereichen unterstützen:[3]

  • Monitoring: Vitalfunktionen wie die Herzfrequenz sowie Bewegungsmuster können durch Sensoren überwacht und von KI ausgewertet werden. «Damit wird zum Beispiel ein Sturz zu Hause erkannt, was die Sicherheit und Autonomie von Alleinstehenden erheblich erhöht», sagt Stephan Sigrist. Sogar die Emotionen von Menschen kann KI überwachen: Forschende der Universität Basel haben aufgezeigt, dass KI die Gesichtsausdrücke von Patientinnen und Patienten genauso gut in Bezug auf Emotionen deuten kann wie Fachpersonen der Psychotherapie. [4]
  • Diagnoserstellung und Prävention: «KI ist den Menschen heute in Bezug auf Schnelligkeit und Präzision bei manchen Aufgaben bereits überlegen», so Stephan Sigrist. Dies gelte zum Beispiel für das Erkennen von möglichen Wechselwirkungen von Medikamenten sowie von Krankheiten auf Basis grosser Datenmengen.
  • Bürokratie und Administration: Verschiedene Umfragen zeigen, dass Gesundheitsbetriebe sich von KI primär eine Effizienzsteigerung bei betrieblichen Abläufen erhoffen. «Heutige Technologien ver­stehen zunehmend die menschliche Sprache, auch ­Dialekte. Ein Tablet kann darum aufzeichnen, was eine Pflegefachfrau sagt, und daraufhin die Pflegedokumentation eigenständig nachführen. ­Solche Funktionen erleichtern administrative ­Aufgaben für die Pflegenden erheblich», sagt Stephan Sigrist.
  • Pflegeplanung: «KI kann auf Basis von Gesundheitsdaten gut Empfehlungen für Therapiemassnahmen formulieren», berichtet der Zukunftsforscher. 
  • Pflegehandwerk: Roboter können dank KI zum Beispiel einsame Menschen unterhalten oder Bring- und Holdienste für Pflegende verrichten. Und Hilfsmittel wie Computerprogramme ­lassen den Pflegenden in Echtzeit Hilfestellungen zukommen (vgl. KI-Angebote für die(zukünftige) Pflege zu Hause). «Dadurch erhalten die Pflegenden gewissermassen einen Co-Piloten, mit dem sie sicherer und schneller arbeiten. Dieser Co-Pilot äussert oder schreibt während der Pflege Handlungsempfehlungen oder gibt den Pflegenden wichtige Informationen wie Allergien eines Klienten bekannt», so Stephan Sigrist. 

Arbeit am Gesetz zu KI

Thomas Schneider, Vizedirektor des Bundes­amtes für Kommunikation (Bakom), sagte im Juni 2023 gegenüber «Swissinfo», dass die Schweiz wie viele andere Länder auf die EU warte, die am Entwurf des «AI Act» arbeite. Am 9. Dezember 2023 erzielten EU-Parlament und EU-Rat eine vorläufige Einigung über dieses weltweit umfangreichste KI-Gesetz
(https://­artificialintelligenceact.eu). Mitte Januar wurde dessen Inhalt unautorisiert veröffentlicht. ­Dabei zeigte sich, dass die EU vor allem bestim­mte risikoreiche Anwendungen wie die automatisierte biometrische Gesichtserkennung regulieren oder verbieten wird. Der Gesetzestext muss von den Verhandlungspartnern noch formal akzeptiert werden [Stand: 25.01.2024]. Die Schweiz dürfte ihre eigene Gesetzgebung auf den AI Act abstimmen. Laut Thomas Schneider dürfte dabei kein eigentliches KI-Gesetz resultieren. Zu erwarten seien stattdessen einzelne Gesetzesanpassungen, die Lücken in ­Bezug auf Themen wie Diskriminierungsschutz und Urheberrecht füllen. Bis dahin bewege man sich in der Schweiz nicht in einem rechtsfreien Raum: Bestehende Gesetze, beginnend bei der Verfassung und dem Grundrechtsschutz, gälten auch in Bezug auf KI.

Neue Technologien sind
chancenlos, wenn sich die Fachpersonen nicht auf sie einlassen.

Dr. Stephan Sigrist

Gründer Think Thank W.I.R.E.

Von den Gefahren von KI in der Pflege
In der Fachliteratur werden unter anderem folgende Gefahren von KI in der Pflege aufgeführt:

  • Bias / Fehler: KI birgt die Gefahr einer Voreingenommenheit («Bias») und kann Fehler machen. «Technologie ist nur so gut wie ihre Programmierung und die verwendeten Daten. Entscheidungen der KI müssen immer von Menschen kontrolliert werden», fordert Stephan Sigrist hierzu. 
  • Datenmissbrauch / Rechtsstreitigkeiten: Wie von KI genutzte und gesammelte Gesundheitsdaten geschützt werden, ist häufig ein Thema in den Medien. «Rechtliche Fragen zum Datenschutz, aber auch zur Haftung und zum Urheberrecht müssen rund um KI geklärt werden. Sonst drohen Rechtsstreitigkeiten», erklärt er (vgl. zur Rechtslage Infokasten).
  • Fehlende Menschlichkeit: Besonders gross scheint die Angst, dass KI in der Pflege die Empathie, ­soziale Interaktionen und Menschlichkeit gefährdet. Der Einsatz von modernen Technologien müsste mit unseren menschlichen Werten vereinbar sein, betont Stephan Sigrist (vgl. auch Ethik-Interview). «Wir dürfen aber auch nicht überhöhte moralische Ansprüche haben. Die Pflege durch einen Roboter ist zum Beispiel nicht immer ein Nachteil. Ich würde mich im Spital jedenfalls für den Gang zur Toilette lieber von einem Roboter als von einem Mensch assistieren lassen.» 
  • Abhängigkeit und Dequalifizierung: Durch einen übermässigen Einsatz von KI droht eine Abhängigkeit von der Technologie – auch für das Pflegepersonal. «Verlassen sich Pflegende blind auf Technologie, verlieren sie ihr kritisches Denken und drohen in den gleichen messbaren Parametern zu denken wie die Technologie. Diese ‹digitale Deformation› halte ich für die viel grössere Gefahr als diejenige, dass Mitarbeitende durch KI ersetzt werden. Denn die Fähigkeit von Pflegefachkräften geht weit über solche Parameter hinaus, weil sie ihre Patientinnen und Patienten ganzheitlich sowie mit viel Empathie und Intuition betrachten. Das ist unersetzbar.»

Die Rahmenbedingungen sind wichtig
Stephan Sigrist rät der Spitex, gegenüber den Chancen von KI offen zu sein. «Die neuen Technologien möglichst schnell einzuführen, ist aber nicht das Ziel», betont er. Stattdessen müssten nun die folgenden Rahmenbedingungen für nützliche und stabile KI-Lösungen geschaffen werden:

  • Datengrundlage: «Keine Daten, keine KI. Das gesamte Gesundheitswesen muss rasch für eine einheitliche und hochwertige Datenerhebung sorgen.» Zentral ist dabei, dass nicht einfach alles Messbare gesammelt wird – sondern dass definiert wird, was davon einen Nutzen stiftet.»
  • Integrierte Versorgung: «Ein gemeinsames Vorgehen aller Leistungserbringer ist unabdingbar. Einigen sich die Spitex und die Spitäler zum Beispiel auf einheitliche Daten und interoperable Systeme, kann KI alle möglichen Gesundheitsdaten aus ­verschiedensten Quellen erfassen und auf eine gemeinsame Plattform übertragen.»
  • Kulturwandel: «Alle Gesundheitsfachpersonen müssen verstehen, dass KI ihnen viel repetitive Arbeit abnehmen und ihnen damit mehr Zeit für ihre Patientinnen und Patienten verschaffen kann. Neue Technologien sind chancenlos, wenn sich die Fachpersonen nicht auf sie einlassen.» 
  • Regulationen: «Wir brauchen leichte Gesetzesanpassungen, insbesondere zur Regelung der Diskriminierung durch KI. Und wir brauchen Branchenstandards  für den Umgang mit KI. Ohne diese Regulationen könnten sich viele Unternehmen nicht getrauen, KI breit einzusetzen.»
  • Vision: «Was die Gesundheitsbranche nun im Dialog entwickeln muss, ist eine erwünschte und realistische Vision für die eigene Zukunft mit KI. Nur dann können Projekte gezielt realisiert werden, um auf ebendiese Zukunft hinzuarbeiten. Pilot­projekte sollten dabei nicht unkoordiniert lanciert werden. Wir können in unserem föderalen System unterschiedliche Ansätze testen – und dann gemeinsam das beste Projekt einsetzen.»

Fachtagung von Spitex Schweiz

Dr. Stephan Sigrist wird auch an der Fachtagung von Spitex Schweiz über die Pflege der Zukunft sprechen. Die Tagung findet am 12. September 2024 im Berner Stadion Wankdorf zum Thema «Die Spitex in der digitalen Transformation» statt. Auf die Teilnehmenden warten spannende Redner, engagierte Diskussionen und Parallelsessions zu innovativen Spitex-Projekten. Die Anmeldung ist ab April möglich, dann wird auch das detaillierte Programm verkündet.

https://fachtagung.spitex.ch

Wichtig sei bei allen KI-Projekten in der Pflege, dass nicht gefragt wird, was die Technologie kann, rät Ste- phan Sigrist abschliessend. «Gefragt werden muss, welchen Nutzen die Technologie für alle beteiligten Menschen bringt».

[1]ChatGPT ist ein 2022 veröffentlichtes KI-Sprachmodell von OpenAI. Es kann auf Basis von Deep Learning und riesigen Datenmengen zum Beispiel Fragen beantworten und Texte ver- fassen. https://openai.com/chatgpt

[2]Vgl. für allgemeine Ausführungen z.B. das Buch «You & AI:
Alles über Künstliche Intelligenz und wie sie unser Leben prägt» von Anne Scherer und Cindy Candrian, 2023.

[3]Vgl. z. B. «Was ist mit Künstlicher Intelligenz in der Pflege möglich?» unter www.ppm-online.org/pflegedienstleitung/ kuenstliche-intelligenz-in-der-pflege/

[4]www.unibas.ch/de/Aktuell/News/Uni-Research/KI-kann- Gefuehle-lesen.html

Prof. Dr. Hugo Saner hat ein System mitentwickelt, das auf die Auswertung von Gesundheitsdaten mittels KI setzt. Diese Fähigkeit von KI habe grosses Potenzial, sagt er. 

KATHRIN MORF. Dass künstliche Intelligenz (KI) stark im Auswerten von Gesundheitsdaten ist, hat Prof. Dr. Hugo Saner bereits vor 40 Jahren erfahren: Damals wirkte der Herzspezialist in den USA erstmals an einer Studie mit, die untersuchte, wie gut ein Algorithmus die Kurven von Elektrokardiogrammen (EKG) interpretiert. Dabei zeigte sich, dass der Algorithmus Anomalien besser identifizierte als ein Kardiologe und ein Internist. «Die automatisierte Auswertung von EKG hat sich in der Folge bewährt und ist heutzutage eigentlich Standard», sagt Hugo Saner. Die heutige KI könne indes noch viel mehr in Bezug auf das Auswerten von Gesundheitsdaten. «KI kann verschiedenste Muster und Trends in grossen Datensätzen identifizieren und dadurch gesundheitliche Probleme frühzeitig erkennen. Und sie kann personalisierte Diagnosen und darauf basierend optimale ­Behandlungspläne erstellen helfen», erklärt er. Das ­Problem sei und bleibe dabei immer die Frage der Sensibilität. «Die KI soll zwar so sensibel programmiert werden, dass falsch negative Befunde vermieden werden. Die KI soll aber auch nicht übersensibel sein und falsch positive Befunde generieren», erklärt er. Zentral sei, dass positive Befunde durch einen Arzt verifiziert werden. Nur so könne das Risiko der «Überdiagnostizierung» durch KI gemindert werden. «Die Notwendigkeit einer solchen menschlichen Kontrolle gilt in der Regel für alle Interpretationen von Messresultaten durch KI», betont er.

Dass die heutige Technologie grosses «Talent» im Auswerten von Gesundheitsdaten hat, beweisen auch die Produkte und Systeme, welche in Schweizer Pflegelaboren oder Spitälern getestet werden (vgl. Bericht
sowie «Spitex Magazin» 3/2019; 6/2020). «Eine Voraussetzung für die verlässliche Nutzung von KI für die Auswertung grosser Datenmengen ist aber immer eine genau definierte und einheitliche Datenerhebung», betont Hugo Saner. 

Systeme mit Sensoren und
KI sollen nicht als
Überwachung, sondern als
Unterstützung für alle
Beteiligten im Gesundheits-
wesen betrachtet werden.

PROF. DR. HUGO SANER

Gründer Strong Age

KI und persönliche Gesundheitsdaten: Strong Age
«Bereits heute kann die KI-Datenanalyse die Spitex entlasten», sagt der Herzspezialist. Dies beweise ein System, das er seit 2019 an der Universität Bern für seine eigene Nonprofit-Organisation Strong Age entwickelt. Dies in enger Zusammenarbeit mit der Firma Domo Health. «Wir fokussieren auf Biomarker. Das sind digital erfassbare, objektive, quantifizierbare Messungen physiologischer oder verhaltensbasierter Daten», erklärt er. In der Praxis bedeutet dies, dass im Privathaushalt Infrarot-Bewegungsmelder installiert werden, kombiniert mit einem Bettsensor sowie Kontakten an der Haustür und am Kühlschrank. Bei Bedarf kann das System um weitere Messgeräte wie eine Uhr mit Ortungsfunktion ergänzt werden. All diese Sensoren erheben jede Sekunde Daten, die über eine Basisstation an einen zentralen Computer weitergeleitet werden. «Mit der Zeit kommen Milliarden von Datenpunkten zusammen», erklärt Hugo Saner. In diesen Daten kann die KI Anomalien oder sogar einen möglichen Notfall erkennen – beispielsweise, dass der Klient das Bett bis 10 Uhr nicht verlässt – und einen Angehörigen, die Notrufzentrale Medicall oder die Spitex informieren. Im Kanton Solothurn wurden unter anderem durch die enge Zusammenarbeit von drei Spitex-Organisationen bereits 60 Sensorsysteme installiert (Details zur Kooperation im «Spitex Magazin 6/2022»).

«Dank unseres Systems kann die Spitex ihre Klientinnen und Klienten auch aus der Ferne begleiten, ­wodurch Kontrollbesuche unnötig werden», sagt Hugo Saner. Zudem könnte die Spitex ihre Einsätze nach ­Prioritäten planen – und sich über die zugehörige App sowie die neue «Domo.Health Pro Plattform» mit dem restlichen Unterstützungsnetzwerk austauschen. Weiter profitierten alle Beteiligten davon, dass das System Krankheiten wie Herzinsuffizienzen sowie Harnweg- und Lungeninfekte frühzeitig erkennt – durch einfache Parameter wie die Zahl der Toilettengänge oder die Bewegung und Atmung in der Nacht. «Sogar eine Altersdepression erkennt das System durch Hinweise wie zunehmende Inaktivität, Schlafstörungen sowie ein seltenes Verlassen des Hauses.» Wichtig sei auch hier, dass eine KI-Diagnose durch den «Faktor Mensch» ergänzt werde. «Meldet das System einen möglichen Notfall, ruft die Spitex beim Betroffenen an. Und erkennt KI eine mögliche Depression, geht eine Spitex-Mitarbeiterin in einem Pflegegespräch sensibel darauf ein», erklärt Hugo Saner. Erst das Trio aus Sensoren, KI und Mensch verbessere also die Versorgungsqualität. 

KI und branchenweite Spitex-Daten
Laut Hugo Saner wäre KI auch imstande, riesige Datenmengen für die gesamte Spitex-Branche auszuwerten. Dadurch könnte KI zum Beispiel die Wirksamkeit von Pflegemassnahmen der Spitex messen und verbessern, passende Pflegemassnahmen spezifisch für das Spitex-Setting vorschlagen oder schweizweite Auswertungen zu Risiken dieser Massnahmen vornehmen. «Dafür müsste die Spitex-Branche aber nicht nur eine einheitliche Datenerhebung haben, sondern auch eine vollständige», sagt er. Die InterRAI-Daten ermöglichten zwar einen umfassenden Blick auf die aktuelle Situa­tion einer Klientin oder eines Klienten. Für eine übergeordnete Analyse müssten diese Informationen aber durch Diagnose, Behandlung, Messdaten und klinische Beobachtungen ergänzt werden – und das präzise. «Beispielsweise dürfte die Spitex nicht vermerken, dass eine Wunde durch eine Pflegemassnahme ‹deutlich kleiner› geworden ist, sondern welche exakten Masse die Wunde zuvor und danach hatte», erklärt der Mediziner.

Überwachung und Datensammlung können Ängste auslösen
Hugo Saner ist sich bewusst, dass solche Systeme Ängste auslösen. Darum versichert er, dass die Klientinnen und Klienten selbst bestimmen, was in ihrer Wohnung gemessen und wer informiert wird. Zudem versichert er: «Das System führt nicht dazu, dass die Spitex bei einem kranken Menschen nicht mehr vorbeischaut. Es bedeutet nur, dass dieser Mensch sicher und autonom zu Hause leben kann – und dass die Spitex ihre Einsätze effizient für wichtige gesundheitliche Anliegen nutzen kann. In Zeiten des Fachkräftemangels ist dies wichtig.» Und allen Skeptikern in Bezug auf den Datenschutz versichert er: «Die Daten in unserem System werden mit höchster Sicherheit in der Schweiz gespeichert und bleiben im Besitz der Klientin oder des Klienten.»

Abschliessend wünscht sich Hugo Saner, dass fortan viel häufiger über dieses Thema gesprochen wird. «Wir müssen den Menschen den Mehrwert von Datensammlungen und der Auswertung durch KI erklären», sagt er. «Denn solche Systeme sollten nicht als Überwachung, sondern als Unterstützung für alle Beteiligten im Gesundheitswesen betrachtet werden – bei der immer der Mensch im Vordergrund stehen muss.»

Dass wir alle in Zukunft von Robotern gepflegt werden, liest man des Öfteren. Einen differenzierteren Blick auf das Thema hat Pflegefachfrau und Wissenschafterin Iris Kramer. 

KATHRIN MORF. Roboter werden oft als (eine) Lösung für das Problem des Fachkräftemangels in der Pflege genannt. Wie gross ihr Potenzial wirklich ist, hat Iris Kramer erforscht: Sie ist Pflegefachfrau mit MSc in Nursing und seit 2020 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Pflege der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW). «Was ein Roboter ist, wird sehr unterschiedlich definiert. Wichtig ist, dass er eine Entität ist – dass er also eine Art Körper hat und nicht bloss ein Computerprogramm ist», sagt sie einleitend. Laut www.roboterwelt.de muss ein Roboter zudem programmierbar sein, über frei bewegliche Achsen verfügen und verschiedene Tätigkeiten verrichten können. Heutige Roboter sind meist mit künstlicher Intelligenz (KI) ausgestattet und können darum dazulernen.

Ein anthropomorphes, also menschenähnliches Aussehen ist zwar keine Voraussetzung dafür, dass eine Maschine als Roboter bezeichnet wird. In der Pflege glauben Fachpersonen aber vor allem an das Potenzial von menschen- oder auch tierähnlichen Robotern. Dies ergab die Studie «Soziale Roboter, Empathie und Emotio­nen»[5], an der Iris Kramer mitwirkte. «Solche Roboter lösen in uns Empathie aus, weswegen wir uns eher auf sie einlassen», erklärt die Forscherin. «Im Allgemeinen muss man sich aber immer die Frage stellen, was man mit einem Roboter erreichen will – und welche Funktionen sowie welches Aussehen dafür zielführend sind.»

An dieser Stelle soll zwischen Assistenzrobotern und sozialen Robotern unterschieden werden, auch wenn die Grenzen fliessend sind. 

Wir brauchen jetzt eine
gesamtgesellschaftliche
Diskussion darüber, welche
Roboter unser Gesundheitssystem künftig will und braucht.

Iris Kramer

Wissenschaftliche Mitarbeiterin ZHAW

Assistenzroboter und soziale Roboter: Hilfe bei Pflege und Betreuung
Assistenzroboter (auch: Serviceroboter) werden für bestimmte Handhabungen konstruiert – und stehen auf dem europäischen Markt kurz vor dem Durchbruch, wie auf der Robotik-Website der OST[6] erklärt wird. «Das erste mögliche Szenario für Assistenzroboter im Spitex-Setting ist, dass ein Klient oder eine Klientin einen Roboter besitzt, der die Person im Alltag unterstützt. Dies entlastet die Spitex oder auch Angehörige», sagt Iris Kramer. Das zweite Szenario sei, dass der Roboter den Spitex-Mitarbeitenden direkt assistiert. Bereits vor gut zehn Jahren sah eine Studie im Auftrag von TA-SWISS [7] dies als grosse Chance für die Pflege: «Roboter können dem Gesundheitspersonal körperlich belastende Arbeiten und Routinetätigkeiten abnehmen. Dadurch bleibt mehr Zeit für die Patienten.» Heute können Assistenzroboter wie «Lio» (vgl. Bericht) bereits Bring- und Holdienste für die Pflege ausüben. Heberoboter helfen bei der Mobilisation von Patientinnen und Patienten. Und Therapieroboter wie «GripAble» assistieren bei spezifischen Therapien wie der Handrehabilitation.[8]

Soziale Roboter interagieren mit Menschen und beeinflussen damit ihre Gefühlswelt. «Ein sozialer Roboter kann einerseits einsame Klientinnen und Klienten der Spitex unterhalten und damit wiederum alle Betreuungsverantwortlichen entlasten. Andererseits kann auch dieser Roboter von der Pflege direkt als Hilfsmittel eingesetzt werden», so die Forscherin. Einer der am besten untersuchten sozialen Roboter sei die Robbe «Paro». «Sie erleichtert den Gesundheitsfachpersonen den Zugang zu Menschen mit Demenz. Und in mehreren Spitälern interagieren soziale Roboter mit Kindern und steigern damit deren Therapiemotivation.»

Doch ist es realistisch, dass die Spitex eigene Roboter erwirbt? «Der Transport wäre je nach Gestalt und Grösse des Roboters ein Problem. Und die Roboter müssten so programmiert werden, dass sie sich in zahlreichen Privathaushalten zurechtfinden, was eine riesige Herausforderung ist», gibt Iris Kramer zu bedenken. Die realistischere Lösung für die kommenden Jahre sei folglich, dass in einem Haushalt stationierte Roboter auch der Spitex zur Hand gehen. «Eine weitere Möglichkeit sind Telepräsenzroboter: Eine Spitex-Mitarbeiterin ist nicht selbst vor Ort, sondern kommuniziert per Videotelefonie über den Roboter mit ihren Klientinnen und Klienten.» 

Eine Illustration aus dem Blog «Wir sind stolz, weil …» von Prof. Dr. André Fringer zeigt das Gewicht der Menschlichkeit (https://afringer.com/blog). Illustration: zvg

Risiken von Robotern in der Pflege
Die Studie zu sozialen Robotern hat auch Risiken von Robotern in der Pflege aufgezeigt. Diese lassen sich in die folgenden Spannungsfelder [9] verorten:

  • Selbstbestimmung vs. soziale Isolation: Die Selbstbestimmung und Autonomie, welche die Klien­tinnen und Klienten durch einen Roboter gewinnen, steht der drohenden sozialen Isolation gegenüber. «Die Betreuung von einsamen Menschen durch soziale Roboter ist nur vertretbar, wenn der Roboter als ergänzendes Hilfsmittel eingesetzt wird und den menschlichen Kontakt nicht ganz ersetzt», betont Iris Kramer. 
  • Entlastung vs. Belastung und Abhängigkeit: Roboter entlasten Menschen, sind aber auch eine ­potenzielle Belastung. «So kann die komplexe Technologie viel Stress oder sogar eine Abhängigkeit verursachen», fügt Iris Kramer an. «Pflegefach­personen müssen weiter in der Lage sein, die Pflege eines Menschen ohne Roboter durchzuführen. ­Roboter dürfen also nicht zu einer Dequalifizierung führen. Und die Pflegenden müssen alle Informa­tionen, welche ihnen der Roboter liefert, kritisch hinterfragen.»
  • Sicherheit vs. Gefahren: «Roboter können Sicherheit vermitteln, sie können aber auch Fehler machen und zum Beispiel einen Menschen fallen lassen. Weitere Gefahren sind unter anderem der Missbrauch von Daten, die der Roboter sammelt, und die Täuschung von vulnerablen Menschen.» (Vgl. Ethik-Interview)

Nötig ist eine gesamtgesellschaftliche Diskussion
Damit das Potenzial von Robotern in der Pflege hierzulande besser genutzt werden kann, müssen die Hersteller laut Iris Kramer die Praxistauglichkeit und die Benutzertauglichkeit verbessern. Zudem brauche es klare Robotik-Regulationen sowie gute Finanzierungslösungen für die oft teuren Roboter. «In Europa steht auch die generelle Skepsis gegenüber Robotern deren Einführung in der Pflege im Weg, anders als insbesondere in Asien», ergänzt sie. «Um dieser Skepsis entgegenzuwirken, brauchen wir jetzt eine gesamtgesellschaftliche Diskussion darüber, welche Roboter unser Gesundheitssystem künftig will und braucht. In die Entwicklung dieser Roboter müssen dann alle Personen einbezogen werden, die später an deren Einsatz beteiligt sind. Auch Pflegefachpersonen sowie Klientinnen und Klienten sollten sich aktiv in diesen Prozess einbringen.»

Zum Schluss geht Iris Kramer auf die weitverbreitete Frage ein, ob die Pflege umfassend «robotisierbar» ist – oder ob Menschlichkeit dort auch in Zukunft stärker wiegt als viele Roboter (vgl. hierzu Abbildung oben). «Eine Pflege nur mit Robotern ist unmöglich», ist sie überzeugt. «Kein Roboter wird die Menschlichkeit der Pflegenden je ersetzen können.»

[5]Schulze, H., Bendel, O., Schubert, M., Kramer, I. et al. (2021): Soziale Roboter, Empathie und Emotionen. Eine Untersuchung aus interdisziplinärer Perspektive. TA-Swiss: Bern.

[6]Unter www.robotik-info.ch ist eine unabhängige Website über Robotik und weitere technologische Lösungen für Menschen im Alter verfügbar. Sie ist ein Pilotprojekt des Instituts für Altersforschung (IAF) der Ostschweizer Fachhochschule (OST).

[7]Becke, H., Scheermesser, M. et. al (2013): «Robotik in Betreuung und Gesundheitsversorgung». Vfg Hochschulverlag AG der ETH Zürich.

[8]www.zhaw.ch/de/gesundheit/forschung/ergotherapie/projekte/gripable-therapieroboter

[9]Details zu den Spannungsfeldern: Kramer, I., Zigan, N. et al. (2022): Soziale Roboter im Schweizer Gesundheitswesen: Einsatzmöglichkeiten, Chancen und Risiken aus der Sicht von poten­ziellen Anwendergruppen. Zeitschrift für Angewandte Organisationspsychologie 53(3).

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