Innovationen in der psychiatrischen Versorgung zu Hause

Im Folgenden werden Projekte vorgestellt, welche in der psychiatrischen Versorgung im angestammten Umfeld von Betroffenen innovative Wege gehen – und natürlich die Spitex einbeziehen.


Klinik-Mitarbeitende werden zu Spitex-Mitarbeitenden
Pflegefachpersonen der Psychiatrischen Dienste Graubünden (PDGR) sind zu den Klientinnen und Klienten von 16 Spitex-Organisationen unterwegs.

«Gemeinsam ans Ziel» lautet das Motto der Ambulanten Psychiatrischen Pflege (APP) der Spitex Imboden GR. Dieses Motto gilt auch für deren Zusammenarbeit mit den Psychiatrischen Diensten Graubünden (PDGR). «Wir hatten vor zehn Jahren Schwierigkeiten, genügend qualifiziertes Fachpersonal im psychiatrischen Bereich zu rekrutieren – bei steigender Nachfrage», berichtet Patricia Brenn, Geschäftsleiterin der Spitex Imboden. Darum unterzeichneten die Spitex-Organisation und die PDGR die Vereinbarung, dass die PDGR der Spitex fortan bei der Bereitstellung des benötigten psychiatrischen Fachpersonals hilft. «Dadurch können wir die Versorgung in der ambulanten Psychiatriepflege gewährleisten und fördern», sagt Patricia Brenn. 

Die PDGR bietet diese Art der Kooperation in der APP seit 2011 an. «Inzwischen bestehen Leistungsvereinbarungen mit zwölf Spitex-Organisationen im Kanton Graubünden und mit vier im Kanton Glarus», berichtet Andreas Werner-Reisdorf, Leiter Pflegeentwicklung und Psychiatrie-Zentren der PDGR. Dabei gebe es reine PDGR-Teams sowie gemischte Teams. Zehn diplomierte Pflegefachpersonen HF der PDGR sind ausschliesslich für die APP im Einsatz. Zusätzlich arbeiten vier PDGR-Mitarbeitende mit einem niedrigen Pensum in der APP und sind daneben in einer Tagesklinik tätig. «Damit können auch Spitzenzeiten in der ambulanten psychiatrischen Pflege flexibel abgedeckt werden», erklärt er. Derzeit werden rund 180 Klientinnen und Klienten der Spitex durch die PDGR-Pflegefachpersonen eng betreut. «Mit der Betreuung und Begleitung durch die stets gleichen Pflegefachpersonen im gewohnten Lebensumfeld wird ein Vertrauensverhältnis aufgebaut», sagt Andreas Werner-Reisdorf.

Der grösste Vorteil ist sicher, dass unsere Klientinnen und Klienten von professionellen psychiatrischen Leistungen profitieren können.

Patricia Brenn

Geschäftsleiterin Spitex Imboden

«Gut in die Spitex-Teams integriert»
Die Spitex Imboden zählt 70 Mitarbeitende und versorgt  pro Jahr rund 450 Klientinnen und Klienten in fünf Gemeinden. Das psychiatrische Team der Organisation mit Sitz in Bonaduz GR betreut 40 bis 50 Klientinnen und Klienten und besteht aus drei PDGR-Mitarbeitenden mit insgesamt 25 bis 30 Stellenprozent und drei Spitex-Mitarbeitenden mit insgesamt 70 Stellenprozent. «Die Spitex Imboden rechnet alle psychiatrischen Leistungen über die Krankenkassen ab und vergütet den PDGR die Einsätze zu einem festen Stundenansatz», erklärt Patricia Brenn. Die Vorteile der Kooperation mit den PDGR seien vielfältig. «Der grösste Vorteil ist sicher, dass unsere Klientinnen und Klienten von professionellen psychiatrischen Leistungen profitieren können», beginnt sie aufzuzählen. «Uns steht jederzeit qualifiziertes Personal zur Verfügung und unser administrativer Personalaufwand entfällt teilweise. Und die Mitarbeitenden der PDGR können von einem vielseitigen und attraktiven Arbeitsmodell profitieren.» 

Eine Mitarbeiterin der ambulanten psychiatrischen Pflege der Psychiatrischen Dienste Graubünden bei einer Klientin. Bild: PDGR/Nicola Pitaro

Um die Kommunikation im gemischten Team zu gewährleisten, findet alle sechs Wochen eine Sitzung statt. Diese dient laut Andreas Werner-Reisdorf der Klärung von Behandlungsgrundsätzen, allgemeinen Informationen sowie der Regelung von organisatorischen Prozessabläufen. «Zudem wird beispielsweise geklärt, wer Kapazität für Neuanmeldungen oder Ferienvertretungen hat», ergänzt Patricia Brenn. Auch ausserhalb dieser Sitzungen finde ein reger Austausch von Erfahrungen und Informationen zwischen den Teammitgliedern statt, sagt Andreas Werner-Reisdorf abschliessend: «Die Pflegefachpersonen der PDGR sind zwar externe Mitarbeitende, aber sie sind dennoch sehr gut in die Teams der Spitex integriert.» 

→ www.pdgr.ch

ASSIP und SERO – ein Fokus auf die Suizidprävention
Suizidalität ist in der psychiatrischen Versorgung eine grosse Herausforderung. Hier setzen die Projekte ASSIP und SERO an.

Um nach einem Suizidversuch erneute Versuche zu verhindern, hat die Universität Bern ASSIP («Attempted Suicide Short Intervention Program») entwickelt. Eine Studie der Universität Bern zeigt, dass damit das Risiko für weitere Suizidversuche um beinahe 80 Prozent verringert wird. «ASSIP kommt bereits in weiteren Ländern wie Deutschland, den USA oder Schweden zur Anwendung», berichtet Projektleiterin Dr. phil. Anja Gysin-Maillart. In der Schweiz wird von 2021 bis 2025 zudem im Rahmen eines Pilotprojekts «ASSIP Home Treatment» («ASSIP HT») erprobt, also ASSIP im Zuhause der Betroffenen. ASSIP HT umfasst drei bis vier Sitzungen mit einer psychotherapeutischen Fachperson. In diesen werden zum Beispiel die Auslöser der suizidalen Krise besprochen, Warnzeichen identifiziert und Strategien für die Bewältigung neuer Krisen erarbeitet. «Danach versenden die Therapeutinnen und Therapeuten während zweier Jahre regelmässig einen semi-standardisierten Brief, in dem sie ihre Klientinnen und Klienten zum Beispiel an die erarbeiteten Strategien erinnern», erklärt Anja Gysin-Maillart. Ein erstes Feedback der Therapeutinnen und Therapeuten zeige, dass das ambulante Angebot von allen Beteiligten sehr positiv aufgenommen wird. ASSIP HT wird nicht nur in Bern erprobt, sondern auch durch die Psychiatrische Universitätsklinik Zürich (PUK), das Sanatorium Kilchberg ZH, das Centre hospitalier universitaire vaudois (CHUV) in Lausanne und das Centre Neuchâtelois de Psychiatrie (CNP) in Neuenburg. Acht Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten wirken am Projekt insgesamt mit, und zwischen Oktober 2021 und Mai 2023 wurden 126 Patientinnen und Patienten betreut.

Durch die SERO-Massnahmen fühlte sich meine Klientin ernstgenommen und sicher.

Jane Reggli

Teamleiterin Psychiatire, Spitex Obwalden

Die Spitex ist auf verschiedene Art und Weise in das Projekt involviert. «ASSIP HT ergänzt Angebote wie dasjenige der Psychiatriepflege der Spitex, indem es ausschliesslich auf das Thema Suizid fokussiert», erklärt Projektkoordinatorin Elisabeth Albertson. Die Spitex werde also in der Betreuung suizidgefährdeter Klientinnen und Klienten entlastet und unterstützt. Die ­Spitex-Mitarbeitenden könnten ihre Klientinnen und Klienten auch für ASSIP HT anmelden. Und sie seien Schlüsselpersonen in der Aufgabe, das Wissen über Suizidprävention und ASSIP HT zu verbreiten. Weiter können sich Spitex-Mitarbeitende auf www.assip.org über Suizidalität informieren und sich für Zoom-Kurse zum Thema anmelden. «Zudem dürfen sich Spitex-Organisationen aus den teilnehmenden Kantonen bei uns melden, wenn sie eine Schulung in ihrem Stützpunkt wünschen», fügt Anja Gysin-Maillart an. Schliesslich arbeitet der Spitex Verband Kanton Bern im Konsortium des Projekts mit. Dessen Geschäftsleiter Roger Guggisberg sagte gegenüber dem «Spitex Magazin», dass ASSIP HT ein niederschwelliges Angebot ist, «das eine Versorgungslücke schliesst und das den Spitex-Organisationen und ihren Mitarbeitenden spannende Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten bietet, welche ihnen Sicherheit im Alltag geben» (vgl. «Spitex Magazin» 6/2022).

Um die Wirksamkeit von ASSIP HT zu belegen, werden zwei Begleitevaluationen durchgeführt. Ermöglicht wird das Pilotprojekt insbesondere durch die Finanzierung von Gesundheitsförderung Schweiz. «Wir arbeiten aber intensiv daran, eine langfristige Finanzierung für dieses bedeutsame, ressourcenschonende und stark nachgefragte Angebot mit hoher Erfolgsquote zu erreichen», sagt Elisabeth Albertson. 

Der Sicherheitsplan des Projekts SERO. Bild: zvg

Das Projekt SERO in der Zentralschweiz
Ein weiteres von Gesundheitsförderung Schweiz finanziell unterstütztes Projekt ist «SERO – Suizidprävention: Einheitlich Regional Organisiert», das von 2021 bis 2024 läuft. Es will mit vier zentralen Massnahmen die Anzahl an Suiziden und Suizidversuchen im Versorgungsgebiet der Luzerner Psychiatrie AG (lups) reduzieren. Genauer führen Fachpersonen und Suizidgefährdete gemeinsam eine Suizidrisikoeinschätzung mittels PRISM-S-Methode 1 durch. Daraufhin wird ein Sicherheitsplan für die Gefährdeten erarbeitet, der zum Beispiel Frühwarnzeichen und Anlaufstellen enthält. Die Angehörigen besuchen zudem einen Ensa-Kurs zum Thema Suizidprävention (www.ensa.swiss/de/ehgs/kurs). Und die App «SERO», die kostenlos in den üblichen Stores erhältlich ist, unterstützt die Gefährdeten beim Monitoring ihrer Suizidalität. Laut Projektleiter Michael Durrer wurden bisher insgesamt 908 Teilnehmende an den PRISM-S-Schulungen gezählt, das SERO-Material wurde 14 115-mal ­bestellt und die APP zählt 1000 angemeldete User. «Weitere Institutionen möchten SERO zudem einführen», berichtet er. Die Spitex wird in der Projektbegleitgruppe von SERO durch den Spitex Kantonalverband Luzern, Spitex Obwalden und die Spitex Stadt Luzern vertreten. Zudem werden interessierte Spitex-Mitarbeitende durch die lups geschult, um die SERO-Massnahmen selbst durchführen zu können. 

«PRISM-S ist bereits fester Bestandteil unserer Bedarfsabklärung», sagt Jane Renggli, Teamleiterin Psychiatrie bei Spitex Obwalden. In die Erstellung der Sicherheitspläne würden Betroffene und Angehörige ein-
bezogen, und die App werde den Klientinnen und ­Klienten empfohlen. «Es gilt aber auch zu respektieren, wenn die neue Methodik abgelehnt wird», sagt Jane Renggli, die von SERO überzeugt ist: Einerseits sorge das Projekt für die einheitliche Vernetzung im psychiatrischen Versorgungsnetzwerk und im Unterstützungsnetzwerk der Betroffenen. «Über die App wissen zum Beispiel alle Involvierten über Änderungen in der ­Behandlung oder geführte Gespräche unmittelbar ­Bescheid. Damit sind bei Bedarf auch raschere Interventionen möglich», erklärt sie. Anderseits hat Jane Renggli bereits erlebt, welch wirksames Auffangnetz SERO für die Betroffenen ist. «Da war zum Beispiel die Klientin, für die Suizidgedanken seit Jahrzehnten eine tägliche Qual waren und die mehrere Suizidversuche unternommen hatte», erzählt die Pflegefachfrau. «Sie konnte ihr Leiden bisher nicht korrekt deponieren oder bearbeiten und wurde darum von vielen ‹abgeschrieben›. Durch die SERO-Massnahmen fühlte sie sich ernstgenommen und sicher.» Die Frau habe dadurch erstmals Verständnis und innere Ruhe, neue Perspektiven und Ziele im Leben finden können. «Sie hat den geplanten Exit-Termin in meiner Abwesenheit abgesagt», berichtet Jane Renggli weiter. «Und sie hat wieder Pläne für ihr Leben geschmiedet und sich mit 70 Jahren neu verliebt. All dies hat mich sehr berührt und war für mich der Beweis, wie wirksam Suizidprävention sein kann.» 

  www.assip.org
  www.sero-suizidprävention.ch

1Mehr dazu unter https://sero-suizidpraevention.ch/prism-s-methode

Drei Pionierangebote der Psychiatrischen Dienste
Die Psychiatrischen Dienste Thurgau haben 2011 drei pionierhafte Modelle lanciert: ein Abklärungs- und Aufnahmezentrum, eine poststationäre Übergangsbehandlung und eine Intensivversorgung zu Hause.

«Die drei Angebote sind Pionierprojekte», sagt Christa Lanzicher, Geschäftsführerin des Spitex Verbands Thurgau, über die 2011 lancierten Angebote der Psychiatrischen Dienste Thurgau (PDT). «Diese wurden 2014 in die Regelversorgung aufgenommen und sind inzwischen sehr gut etabliert und anerkannt», sagt Patricia Zwick, Bereichsleitung Pflege in der ambulanten Erwachsenenpsychiatrie der PDT. Die drei Angebote sind:

  • Das Abklärungs- und Aufnahmezentrum (AAZ) übernimmt eine zentrale Funktion innerhalb des psychiatrischen Versorgungsnetzes im Kanton Thurgau. Das AAZ-Team mit Fachwissen in Psychiatrie, Psychologie und Sozialarbeit ist 365 Tage im Jahr während 24 Stunden erreichbar. «Das niederschwellige Angebot ist die erste Anlaufstelle für Menschen in psychischer Not sowie für Angehörige, Zuweisende, Ämter und Fachstellen», sagt Patricia Zwick. Das AAZ sorgt für die Triage der Anrufe, für Beratung und Krisenintervention und für eine ganzheitliche Abklärung der Situation eines Menschen. Bei Bedarf gleist es zudem die weitere Behandlung auf, sei es durch eine Selbsthilfegruppe, die Spitex, eine Klinik oder weitere Leistungserbringer. «Dabei gilt stets der Leitsatz ‹ambulant vor stationär›», sagt Patricia Zwick. Auch Spitex-Mitarbeitende kontaktierten das AAZ, «vor allem wegen Zuweisungen zu einer Klinik. Oder wenn bei der Krise einer Klientin oder eines Klienten die Frage nach einer ambulanten oder stationären Krisenintervention im Raum steht.» Zudem vereinbart die Spitex laut Christa Lanzicher mit Klientinnen und Klienten, die in eine akute Krisensituation gelangen könnten, dass sie sich dann ans AAZ wenden können.
  • Die Poststationäre Übergangsbehandlung (PSÜB) gewährleistet einen guten Übergang zwischen der stationären und der ambulanten Behandlung – durch eine auf drei Monate begrenzte, aufsuchende Arbeit von Fachpersonen der PDT. Deren Pflegefachpersonen weben ein Netzwerk aus formellen und informellen Helfenden für die Patientinnen und Patienten. Oft geschieht dies in komplexen Fällen von psychischen Erkrankungen. «Aber das PSÜB-Team kümmert sich auch um kleinere Themen, die bei der Entlassung ungeklärt sind», ergänzt Patricia Zwick. Die somatische Pflege und Hauswirtschaft der Spitex wird während der PSÜB bei Bedarf hinzugezogen. Zudem kontaktiert das PSÜB-Team auch die Psychiatriepflege der Spitex frühestmöglich, wenn die psychiatrische Behandlung nach drei Monaten weitergeführt werden muss. «Die Zusammenarbeit des PSÜB-Teams mit der Spitex ist unkompliziert», lobt Christa Lanzicher.
  • Das Intensive Case Management (ICM): Die PDT haben festgestellt, dass nicht nur die Nachfrage nach psychiatrischen Leistungen steigt, sondern auch deren Komplexität. Passend dazu sorgt das multiprofessionelle ICM-Team für die Behandlung, Rehabilitation und Unterstützung in komplexen und anspruchsvollen Fällen von psychischen Krankheiten – im angestammten Umfeld der Betroffenen. «ICM-Patientinnen und -Patienten haben häufig und lange stationäre Leistungen in Anspruch genommen. Teilweise besteht zudem eine Mehrfachproblematik, zum Beispiel soziale und finanzielle Probleme sowie Multimorbidität», erklärt Patricia Zwick. Das intensive Case Management sorge für mehr Behandlungssicherheit, Lebensqualität und für einen deutlichen Rückgang der stationären Pflegetage. Auch beim ICM wird die Spitex einbezogen, wenn somatische Pflege oder hauswirtschaftliche Leistungen benötigt werden. «Die Spitex-Mitarbeitenden haben stets das körperliche und psychische Befinden der Patientinnen und Patienten im Blick, und für diese fachliche Unterstützung sind wir sehr dankbar», sagt Patricia Zwick. Laut Christa Lanzicher ergänzt das ICM das Angebot der Spitex gut: «Die Psychiatriepflege der Spitex setzt stark auf die Eigenverantwortung der Klientinnen und Klienten. Bei ‹Heavy Usern› – also bei Menschen, die sehr viele Ressourcen des psychiatrischen Netzwerks benötigen – ist die Spitex darum oft nicht die richtige Leistungserbringerin.»

Wir sind der Spitex für ihre fachliche Unterstützung bei unserem Intensive Care Management sehr dankbar.

Patricia Zwick

Bereichsleitung Pflege in der ambulanten Erwachsenenpsychiatrie; Psychiatrische Dienste Thurgau

Umgesetzt werden ICM und PSÜB vom gleichen Team aus acht spezialisierten Pflegefachpersonen HF, einer Oberärztin, Peer-Mitarbeitenden und Mitarbeitenden des Sozialdiensts. Der Kontakt zu den Klientinnen und Klienten erfolgt aufsuchend, in der Klinik – und über Messenger-Dienste, E-Mail, Telefon und Videotelefonie. «Letzteres aber immer nur in Ergänzung und nicht als Ersatz für den persönlichen Kontakt», betont Patricia Zwick. Finanziert würden alle drei Angebote durch die Krankenkassen – und durch einen jährlichen Beitrag des Kantons Thurgau. «Mit diesem finanzieren wir Leistungen, die nicht über Tarmed abgerechnet werden können, zum Beispiel die Triage, Angehörigenberatungen und Wegzeiten.»

In diesem Grossraumbüro arbeitet das ICM- und PSÜB-Team der Psychiatrischen Dienste Thurgau. Bild: Patricia Zwick

www.stgag.ch/unternehmen/standorte/psychiatrische-­dienste-thurgau/

Peers unterstützten Spitex-Klientinnen und -Klienten
Das Projekt INGA bringt psychisch kranke Klientinnen und Klienten der Spitex mit Menschen zusammen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben.

Das Projekt INGA der Netzwerk Gesundheit Schweiz GmbH fördert seit 2021 den Einsatz von «Peers» (also von «Gleichbetroffenen») in der Psychiatriepflege der Spi­tex. «Die Peers haben selbst eine psychische Krankheit ­bewältigt und können mit ihrem Erfahrungswissen die psychisch kranken Klientinnen und Klienten der Spitex begleiten und unterstützen», erklärt Roger Altmann, ­Geschäftsleiter der GmbH. Passend dazu ist INGA die Abkürzung für «INvolvement von Menschen mit Psychatrieerfahrung», «Genesungsbegleitung» und «Austausch von Erfahrungswissen». Seit dem ersten Bericht im «Spitex Magazin» 1/2022 hat sich einiges getan: Aktuell sind vier Spitex-Organisationen an INGA beteiligt, 2024 werden es voraussichtlich 13 sein und 2027 hofft Roger Altmann auf 50. Das zehnköpfige Team der Netzwerk Gesundheit Schweiz GmbH kann nun Spitex-Organisationen aus der Deutschschweiz, der Romandie und dem Tessin betreuen und wird dabei von der Ernst Göhner Stiftung und der Beisheim Stiftung finanziell unterstützt. Weiter wurde die Recovery-Gruppe als Teil von INGA gestrichen – unter anderem, weil bereits viele Selbsthilfegruppen für Menschen mit psychischer Krankheit existieren (vgl. ­Infokasten). Erste Resultate der INGA-Begleitevaluation durch die Berner Fachhochschule (BFH) zeigen ­weiter, dass der Einsatz der Peers in drei von vier Fällen eine deutliche Verbesserung der Lebensqualität der Klientinnen und Klienten bringt; negative Effekte wurden keine festgestellt. Schliesslich wurde das Modell «INGA 2.0» entwickelt: Bisher finanzierte die Spitex die Arbeit der Peers. «Im Modell 2.0 besuchen die Peers hingegen einen Pflegehelfenden-Kurs, wodurch ihre Arbeit als psychiatriepflegerische C-Leistungen über die Krankenkassen abgerechnet werden kann», erklärt Roger Altmann.

Die Peers haben selbst eine psychische Krankheit bewältigt und können mit ihrem Erfahrungswissen die psychisch kranken Klientinnen und Klienten der Spitex begleiten und unterstützen.

Roger Altmann

Netzwerk Gesundheit Schweiz GmbH

«Anderen Menschen Mut machen»
Eine der derzeit sechs INGA-Peers ist Zdenka Nisandzic, die selbst Erfahrung mit psychischen Krankheiten gemacht hat. «2019 wurde ich aber durch zahlreiche somatische Beschwerden zur Ruhe gezwungen, woraufhin meine Genesung startete und ich einen achtsameren Lebensweg einschlug», erzählt die 30-Jährige. Im Herbst 2022 stiess sie auf ein Inserat zur Peer-Tätigkeit und bewarb sich. «Im März 2023 durfte ich mit grosser Freude meine Anstellung als Peer bei der Spitex Region Bern Nord (ReBeNo) beginnen und wieder im 1. Arbeitsmarkt Fuss fassen», sagt sie. Um für diese Aufgabe gerüstet zu sein, hat sie einen Pflegehelfenden-Kurs besucht und absolviert derzeit eine Coaching-Ausbildung. Sie ist zu 20 Stellenprozent bei der Spitex angestellt und betreut vier bis fünf Klientinnen und Klienten pro Arbeitstag im 2-Wochen-Takt. Diese leiden zum Beispiel an Sucht­erkrankungen, Depressionen und Angststörungen. 

«Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es Betroffenen guttut, sich selbst zu sein und sich jemandem anvertrauen zu dürfen. Diesen Rahmen versuche ich jedes Mal neu zu schaffen und die Klientinnen und Klienten bei den Themen zu begleiten, die für sie gerade wichtig sind», erzählt sie. «Mir gefällt, dass ich Menschen Mut machen, sie motivieren und ihnen eine Stütze sein kann. Es berührt mich, wenn mir Klientinnen und Klienten sagen, dass sie sich im Gespräch mit mir aufgehoben fühlen – und nicht so allein mit ihren Problemen.» Die grösste Herausforderung der Tätigkeit sehe sie «im Akzeptieren, dass man nicht immer gleich viel helfen kann». Unterstützung erhalte sie dabei von der Spitex. «Ich sehe mich als vollwertiges Teammitglied der Spitex und bekomme stark zu spüren, dass man mich und meine Herangehensweise schätzt», sagt sie. Auch die Mitarbeitenden der Netzwerk Gesundheit Schweiz GmbH seien jederzeit für die Peers da, zum Beispiel während regelmässiger Supervisionen. Zdenka Nisandzic empfiehlt die Arbeit mit Peers im Rahmen von INGA 2.0 allen Spitex-Organisationen: «Die Klientinnen und Klienten fassen durch die Peers Vertrauen, dass es ihnen zu gegebener Zeit auch wieder besser gehen kann. Das vermittelt ihnen Mut und Zuversicht für die Aufgabe, die Arbeit mit sich aufzunehmen oder weiterzuführen.»

→ www.netzwerkgesundheit.ch/inga-projekt

Selbsthilfe Schweiz: ein Angebot für jede und jeden
Wer Selbsthilfe für ein verstaubtes Angebot für wenige Menschen hält, wird auf der Website von Selbsthilfe Schweiz eines Besseren belehrt: Dort finden sich viele digitale und physische Angebote für Selbsthilfe, die sich an Betroffene und Angehörige aller Alterskategorien und Geschlechter sowie an Menschen in allen möglichen Lebenssituationen richten. Neben sozialen Themen gibt es zahlreiche Angebote für Menschen mit physischen und psychischen Krankheiten, und die Suchmaschine von Selbsthilfe Schweiz macht das Finden des passenden Angebots leicht. Seit 23 Jahren fördert die Stiftung die gemeinschaftliche Selbsthilfe und agiert als Koordinations- und Dienstleistungsstelle für die 22 regionalen Selbsthilfezentren. «Selbsthilfe entwickelt sich vom ­Nischenprodukt zu einem zentralen, niedrigschwelligen und kostengünstigen Angebot des Gesundheitswesens», sagt Geschäftsführer Lukas Zemp. Die freiwillige Teilnahme in Selbsthilfegruppen wirke sich positiv auf die Selbstkompetenz, Selbstbestimmung, Lebensqualität und gesellschaftliche Integration der Teilnehmenden und ihrer Angehörigen aus und schone Ressourcen im Gesundheitswesen. Rund zwei Drittel der aktuell 300 Selbsthilfethemen beträfen psychosoziale Herausforderungen, Tendenz steigend. «Wichtig ist in Bezug auf all diese Angebote, dass Betroffene davon erfahren – und hier sind Gesundheitsfachpersonen von grosser Bedeutung.» Mit dem Projekt «Gesundheitskompetenz dank selbsthilfefreundlichen Spitälern» fördert Selbsthilfe Schweiz in Kooperation mit Gesundheitsförderung Schweiz zum Beispiel die Zusammenarbeit zwischen Selbsthilfezentren, Selbsthilfegruppen und Spitälern. Lukas Zemp hofft auch auf eine selbsthilfefreundliche Spitex: «Die Spitex betreut viele Menschen mit einem Problem, bei dessen Bewältigung der strukturierte Austausch mit anderen Betroffenen und Angehörigen weiterhelfen könnte», sagt er. «Die Spitex-Mitarbeitenden könnten diesen Klientinnen oder Klienten raten, ein für sie passendes Selbsthilfeangebot auf unserer Website zu suchen. Oder sich für eine Beratung bei einem Selbsthilfezentrum zu melden. Niemand muss denken, dass er mit einem Problem allein ist oder sich dafür schämen muss.» 

→ www.selbsthilfeschweiz.ch

TEXTE: KATHRIN MORF.

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