Immer mehr komplexe Fälle für die Spitex

Seit Langem hört und liest man des Öfteren, dass die Komplexität der Fälle der Spitex zunimmt, unter anderem wegen der Ambulantisierung. In der Einleitung zum Fokusthema «Spitex und Komplexität» gehen zwei Expertinnen auf eine Studie zum Thema Komplexität ein, auf Gründe für die zunehmende Komplexität sowie auf deren Folgen für die Spitex.

Eingeschränkte Mobilität hängt mit hoher Spitex-Leistungsintensität zusammen, zeigt die «Komplexitätsstudie». Hier kümmert sich Fabienne Bühlmann von der Spitex Regio Liestal um Marlise Grauwiler. Themenbild: Natalie Melina Fotografie

KATHRIN MORF. Im Gespräch mit Claudia Aufdereggen und Flurina Meier wird auf fünf zentrale Fragestellungen zum Fokusthema «Spitex und Komplexität» eingegangen. Claudia Aufdereggen ist Geschäftsleiterin der Spitex Regio Liestal sowie Vorstandsmitglied von Spitex Schweiz – und Mitglied des Steuerungsausschuss der «Komplexitätsstudie». Spitex Schweiz hat diese Studie bei der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW) in Auftrag gegeben; im Februar 2024 wurden dem Dachverband die Ergebnisse präsentiert. Geleitet wurde das Projekt von Flurina Meier, Gesundheitsversorgungsforscherin und stellvertretende Leiterin der Fachstelle Versorgungsforschung am Winterthurer Institut für Gesundheitsökonomie (WIG).

Komplexität wird laut Duden definiert als «Vielschichtigkeit; das Ineinander vieler Merkmale». Als Synonyme von «komplex» finden sich neben «vielschichtig» unter anderem «kompliziert» und «schwierig». Seit vielen Jahren wird darüber diskutiert, dass die Komplexität der Fälle im Spitex-Setting zunimmt. Zu den Faktoren, welche diese Entwicklung vorantreiben, gehören laut Claudia Aufdereggen und Flurina Meier:

  • «Ambulant vor stationär»: Seit vielen Jahren wird die Ambulantisierung im Gesundheitswesen gefordert und gefördert – unter anderem, weil ambulante Behandlungen meist günstiger sind. So werden Patientinnen und Patienten früher aus dem Spital entlassen und treten später ins Heim ein. Dies ist laut Flurina Meier und Claudia Aufdereggen ein zentraler Treiber der zunehmenden Spitex-Komplexität.
  • Demografische Entwicklung / Zunahme von Krankheiten: «Auch die Alterung der Gesellschaft ist ein Treiber. Immer mehr Menschen sind hoch­betagt, was mit einer starken Zunahme der Spitex-Fälle mit Multimorbidität und Polymedikation einhergeht», erklärt Claudia Aufdereggen. Das Bundesamt für Statistik (BFS) bestätigt die Zunahme der Zahl älterer Menschen mit Gesundheitsproblemen ebenso wie die generelle Zunahme von psychischen Erkrankungen 1
  • Fortschritt im Gesundheitswesen: Fortschritte in der Medizin, der Medizinaltechnik und der Digitalisierung erlauben zunehmend die Erfüllung des Wunsches von kranken und beeinträchtigten Menschen jeden Alters, zu Hause behandelt zu werden.
  • Integrierte Versorgung: In die Fälle der Spitex sind zunehmend viele verschiedene Gesundheitsfachpersonen involviert.
  • Druck auf die Pflege: «In der Pflege nehmen der Fachkräftemangel und der finanzielle Druck zu», sagt Flurina Meier. «Vor allem, wenn Stellen nicht besetzt werden können, können Mitarbeitende ­unter Zeitdruck geraten, was ihren Arbeitsalltag aus ihrer Sicht komplexer macht.»

«Ich höre seit 30 Jahren, dass der Anteil der komplexen Fälle bei der Spitex zunimmt und empfinde dies auch so. Wir müssen dieses subjektive Empfinden nun aber endlich objektivieren, indem wir Komplexität messen und damit belegen können», sagt Claudia Aufdereggen. Und hierbei helfe die Komplexitätsstudie.

Die «Komplexitätsstudie» heisst eigentlich «Leistungsintensität von Spitex-Klientinnen und -Klienten und ihre Abbildung im Komplexitätsmodell» (vgl. Infokasten). Vor dem Hintergrund der steigenden Zahl an komplexen Klientinnen und Klienten sowie Schwierigkeiten bei der Vergütung von besonders leistungsintensiven Fällen wollte Spitex Schweiz herausfinden, welche komplexen Klientinnen und Klienten auch leistungsintensiv sind. «Für die Studie mussten wir zuerst den Begriff ‹Komplexität› definieren, und zwar in unserem Fall nur bezogen auf die Aspekte, die auch für die heutige Vergütung relevant sind», berichtet Flurina Meier. Des Weiteren musste die Leistungsintensität definiert werden. Die Forschenden fokussierten dabei die Intensität der Leistungen gemäss Krankenpflege-Leistungsverordnung (KLV) insgesamt sowie der KLV-A-Leistungen (Abklärung, Beratung und ­Koordination) im Besonderen. «Denn unsere Workshops mit Spitex-Fachpersonen ergaben, dass Fälle mit hohen KLV-Leistungen im Allgemeinen sowie solche mit hohen A-Leistungen im Speziellen besonders häufig zu Problemen mit der Vergütung durch die Krankenkassen führen», erklärt sie.

«Komplexitätsstudie»: Methode
Die Studie «Leistungsintensität von Spitex-Klientinnen und -Klienten und ihre Abbildung im Komplexitätsmodell» (auch: «Komplexitätsstudie») wurde von Spitex Schweiz beim Winterthurer Institut für Gesundheitsökonomie (WIG) der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW) in Auftrag gegeben. In der Vorstudie im Frühling 2021 wurden mithilfe von Workshops mit Spitex-Fachpersonen 72 Komplexitätsfaktoren definiert, welche die Klientinnen und Klienten oder ihr Umfeld betreffen, und in einem Komplexitätsmodell abgebildet (vgl. Spitex Magazin 5/2023). Daraufhin folgte die Hauptstudie, eine longitudinale multizentrische Beobachtungsstudie. Acht Spitex-Organisationen aus drei Sprachregionen beteiligten sich daran. Die Ergebnisse stützen sich auf die Auswertung der Daten von 1035 Klientinnen und Klienten. Verwendet wurden Daten aus dem Abklärungsinstrument interRAI HCSchweiz, einem Zusatzfragebogen sowie administrative Daten zu den geleisteten Pflegeminuten und der Anzahl Einsätze pro Tag.

→ www.zhaw.ch/de/forschung/forschungsdatenbank/
projektdetail/projektid/3393

Komplexitätsfaktoren im Zusammenhang mit Leistungsintensität
An dieser Stelle werden einige ausgewählte Ergebnisse aus der Hauptstudie erläutert: Verschiedene der 72 untersuchten Komplexitätsfaktoren stehen im Zusammenhang mit einer hohen Leistungsintensität und weisen eine hohe Differenz zur Vergleichsgruppe auf. Die folgenden Faktoren zeigten einen Zusammenhang mit  einer hohen KLV-Leistungsintensität (ab 1000 Min. / Monat), einer hohen Intensität der A-Leistungen (ab 70 Min. / Monat) oder einer hohen Intensität der KLV- und A-Leistungen gleichermassen:

  • Alle BADL2-Einschränkungen (nur «eingeschränkte Mobilität im Bett» gilt auch für die A-Leistungen)
  • IADL-3Einschränkungen: Mahlzeiten zubereiten, Treppen benutzen und Telefonieren
  • (Eher) schwierige Medikamentenbeschaffung 
  • (Eher) schwierige pflegetechnische Leistungen
  • Demenz-Diagnose
  • Mobilitätseinschränkungen
  • Blaseninkontinenz 
  • Darminkontinenz
  • Fatigue
  • Verhaltensauffälligkeiten
  • Delir
  • Palliative-Care-Situationen
  • (Eher) schwierige Organisation der Medikamenten-
  • Verabreichung
  • Umfangreiche Veränderungen in den BADL in den letzten 90 Tagen
  • Umfangreiche Veränderungen in den IADL in den letzten 90 Tagen
  • Variabler Gesundheitszustand
  • Pflegende Angehörige überlastet
  • Konflikte zwischen Klientin/Klient und Angehörigen
  • Drei oder mehr involvierte Fachpersonen

Hinzu kommen vielleicht noch Komplexitätsfaktoren, die unter den 1035 untersuchten Klientinnen und Klienten zu selten vorkamen, um genaue Aussagen machen zu können. Dazu gehören Konflikte zwischen der Spitex und dem professionellen Helfernetz oder den pflegenden Angehörigen. «Diese Faktoren müssten in einer spezifischeren Studie genauer untersucht werden», sagt Flurina Meier. 

Instabilität erwies sich als einer der wichtigsten Treiber von
Leistungsintensität.

FLURINA MEIER

Leiterin der Studie zu Komplexität, Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften

Einige Zusammenhänge genauer betrachtet
«Anhand der Studienergebnisse kann nicht gesagt werden, ob ein Komplexitätsfaktor die Leistungsintensität beeinflusst oder umgekehrt», stellt Flurina Meier klar. Dennoch sind folgende Rückschlüsse möglich:

  • Instabilität: Alle untersuchten Instabilitätsfaktoren standen im Zusammenhang mit einer hohen Intensität der KLV-Leistungen insgesamt und der A-Leistungen im Besonderen. Dazu gehört, dass neue Diagnosen, Einschränkungen oder Symptome innerhalb der letzten 90 Tage auftraten. «Instabilität erwies sich als einer der wichtigsten Treiber von Leistungsintensität», bestätigt Flurina Meier. Dies passe zur Realität, ergänzt Claudia Aufdereggen: «Als besonders komplex eingeschätzt werden Fälle, in denen sich der Gesundheitszustand oder auch die Medikation der Klientinnen und Klienten andauernd ändern.»
  • Überlastete Angehörige: «Die Studie hat gezeigt, dass pflegende Angehörige in leistungsintensiven Fällen häufiger überlastet sind und dass es in diesen Fällen häufiger zu Konflikten zwischen Angehörigen und Klientinnen und Klienten kommt», sagt Flurina Meier.
  • Integrierte Versorgung: In Fällen mit drei oder mehr involvierten Fachpersonen finden sich mehr KLV-Leistungen. Dies könnte erklären, wieso die integrierte Versorgung im Spitex-Alltag als Grund für die steigende Komplexität gesehen wird.
  • Medikamentenmanagement: Die Studie zeigt, dass eine schwierige Beschaffung oder Verabreichung von Medikamenten mit einer hohen Leistungsintensität zusammenhängt. «Das Medikamentenmanagement ist eine andauernde Herausforderung», bestätigt Claudia Aufdereggen. «Dies ist mit systemischen Problemen erklärbar, die in der Studie nicht untersucht wurden: Fehlende gemeinsame digitale Zugänge auf Medikamentenlisten und
    verordnungen im Dreieck Spital–Hausärzteschaft–Spitex führen zu grossen Effizienzverlusten, Qualitätsrisiken und Fehlern.»
  • Palliative Care: Deutlich mehr A-Leistungen wurden bei Delir, Fatigue sowie in Palliative-Care-­Fällen geleistet. «End-of-Life-Situationen sind häufig komplex und können den Einsatz von spezialisiertem Fachpersonal nötig machen. Darum überrascht dieses Ergebnis nicht», sagt Claudia Aufdereggen. Das Gleiche gelte für Klientinnen und Klienten mit Delir – einem akuten Zustand der Verwirrtheit, der bei Demenz häufig ist – oder Fatigue, einem Zustand der ausserordentlichen Müdigkeit, der bei Krebserkrankungen häufig vorkommt.
  • Verhaltensauffälligkeiten: Die Studie zeigt, dass Klientinnen und Klienten mit Verhaltensauffälligkeiten deutlich mehr Leistungen beziehen. «Verhaltensauffälligkeiten wurden in den Workshops häufig als Treiber von Komplexität bezeichnet», berichtet Flurina Meier. Es könnte sein, dass auch psychische Krankheiten ein Treiber sind. Diese wurden in die Studie allerdings nur beschränkt mit­einbezogen. «Spannend wäre eine Folgestudie auf ­Basis der Daten von
    interRAI-CMHSchweiz, dem Abklärungsinstrument für Klientinnen und Klienten mit psychiatrischen Diagnosen. Auch eine Folgestudie zur Komplexität bei der Kinderspitex wäre erstrebenswert», sagt Claudia Aufdereggen. 

Im Rahmen der Studie sind die Forschenden verschiedenen weiteren Fragestellungen nachgegangen, hier einige Ergebnisse:

  • Wechselwirkungen: Die Studie zeigte, dass gewisse Kombinationen zweier Komplexitätsfaktoren Wechselwirkungen verursachen. «Hat ein Patient überlastete Angehörige und seine Symptome sind instabil, erhöht sich die Leistungsintensität der Spitex zum Beispiel stärker, als es die Summe der Leistungsintensität der einzelnen Faktoren vermuten lässt», erklärt Flurina Meier.
  • Häufigkeit: Die Forschenden haben auch ermittelt, wie häufig Komplexitätsfaktoren mit einer hohen Leistungsintensität vorkamen. Dabei zeigte sich, dass Einschränkungen in den BADL und IADL sowie Faktoren der Instabilität besonders häufig sind.
  • Faktoren ohne Zusammenhang mit Leistungs­intensität: 13 von 72 Komplexitätsfaktoren hängen nicht mit der Leistungsintensität zusammen. «Überrascht hat mich, dass der Faktor ‹ungeeignete Wohnverhältnisse› dies nicht tat. Das zeigt, wie flexibel und manchmal auch kreativ die Spitex-Mitarbeitenden mit den unterschiedlichsten Haushalten beziehungsweise Wohnverhältnissen umgehen», sagt Claudia Aufdereggen. Flurina Meier war unter anderem erstaunt, dass sich der BMI der Klientinnen und Klienten nicht auf die Leistungs- intensität auswirkte. «Vielleicht ist dies damit erklärbar, dass Spitex-Mitarbeitende den Umgang mit übergewichtigen Klientinnen und Klienten zwar als belastend und manchmal komplex einschätzen – dass sich dies aber nicht auf die Leistungsintensität auswirkt», überlegt sie. 

«Die untersuchten Komplexitätsfaktoren waren wichtig für unsere Fragestellung rund um die Leistungsintensität und Vergütung – sie decken Komplexität aber nicht in ihrer ganzen Breite ab», gibt Flurina Meier zu bedenken. «Die Studie ist darum als guter Kick-off für die Annäherung an die Definition von Komplexität in der Pflege zu Hause zu betrachten», ergänzt Claudia Aufdereggen. «Zu beachten ist beispielsweise, dass ein Fall mit hoher Leistungsintensität nicht per se komplex ist. Und dass ein nicht leistungsintensiver Fall als komplex eingeschätzt werden kann.»

Nicht berücksichtigt wurde in der Studie die subjektive Einschätzung von Komplexität. «Diese Einschätzung kann unter anderem vom Ausbildungsstand, der Berufserfahrung und Routine der Spitex-Mitarbeitenden abhängen», erklärt Flurina Meier. Andere Studien zeigten zudem, dass Patientinnen und Patienten und ihre Angehörigen die Komplexität eines Falls oft anders einschätzen als das Pflegepersonal.

Organisatorische Komplexitätsfaktoren – etwa kurzfristige Arbeitsausfälle infolge Krankheit oder nicht ausreichend qualifiziertes Personal – wurden ebenfalls nicht berücksichtigt. «Dies, weil sich die heutigen KLV-Beiträge in erster Linie an der Ausgangslage der Klientinnen und Klienten und eventuell noch an ihrem Umfeld ausrichten. Im Verständnis von Pflegefachpersonen sind organisatorische Themen aber eng mit ihrem Verständnis von Komplexität verbunden», sagt Flurina Meier. Dies bestätigt Claudia Aufdereggen: «Bestehen organisatorische Probleme, nehmen die Spitex-Mitarbeitenden ihren Arbeitsalltag viel schneller als komplex wahr.»

Komplexe Fälle benötigen auch mal zwei Mitarbeiterinnen: Pflegeexpertin Fabienne
Bühlmann (l.) und Pflegehelferin Barbara Wassmer von der Spitex Regio Liestal
kümmern sich um Marlise Grauwiler. Themenbild: Natalie Melina Fotografie

«Keine andere Schweizer Studie hat bisher untersucht, welche Faktoren mit einer hohen Leistungsintensität in der ambulanten Pflege zusammenhängen», sagt Flurina Meier. «Die Studie ist damit ein wichtiger Schritt, um die subjektive Wahrnehmung von Spitex-Komplexität auf Basis von Daten objektivieren zu können», lobt Claudia Aufdereggen. Unter anderem könnten die Ergebnisse der Studie wie folgt genutzt werden:

4.1. Komplexität und Komplexitätszunahme nachweisen
«Durch die Komplexitätsfaktoren kann die Spitex eine hohe Leistungsintensität nun gegenüber den Versicherern oder der öffentlichen Hand erklären», sagt Claudia Aufdereggen. «Zudem ist die Studie eine Grundlage, mit der man die Entwicklung der Leistungsintensität nachweisen könnte», fügt Flurina Meier an. Man könnte die Häufigkeit der Komplexitätsfaktoren zu mehreren Messzeitpunkten vergleichen – und damit aufzeigen, wie sich die Komplexitätsfaktoren über die Zeit verändern. ­Vermehren sich die komplexen und leistungsintensiven Klientinnen und Klienten, gibt das Hinweise darauf, ­warum die Leistungsintensität und damit die Kosten einzelner Spitex-Organisationen oder der Spitex-Branche steigen. Möglich sei der Nachweis einer Entwicklung auch rückwirkend, und zwar auf Basis von Daten aus dem Datenpool HomeCareData (HCD) von Spitex Schweiz, der auf den interRAI-Instrumenten beruht. «Für unsere Studie wollten wir Bereiche wie Instabilität sehr detailliert untersuchen und haben darum einige Komplexitätsfaktoren mit einem Zusatzfragebogen gemessen. Die interRAI-Daten sind nicht so detailliert – sie reichen aber aus, um Aussagen über die meisten Faktoren für Leistungsintensität zu treffen», versichert Flurina Meier.

4.2. Die nötige Anpassung der 60-Stunden-Grenze begründen
Im Schweizer Gesetz gilt laut Bundesamt für Gesundheit (BAG) für die Pflege zu Hause die Vermutung, dass nicht mehr als 60 Stunden Pflegeleistungen pro Quartal benötigt werden 4. «Diese künstliche Schwelle bedeutet sehr viel Aufwand. Denn die Krankenkassen verlangen bei Fällen, welche die Grenze überschreiten, die Offenlegung der Gründe durch die Spitex. Dieser administrative Mehraufwand hängt wie ein Damoklesschwert über allen leistungsintensiven Fällen», kritisiert Claudia Aufdereggen. «Dass heute schon viele Klientinnen und Klienten der Spitex diese 60-Stunden-Grenze überschreiten, zeigt unsere Studie: Die Grenze wurde in 21 Prozent der Fälle überschritten», fügt Flurina Meier an. Mithilfe der Komplexitätsfaktoren können diese Überschreitungen nun datenbasiert erklärt werden. «Will man die ambulante Versorgung in der Schweiz vereinfachen, sollte diese Hürde nach oben korrigiert werden», sagt sie.

4.3. Die Notwendigkeit von A-Leistungen datenbasiert begründen
Für A-Leistungen gibt es – bis auf die allgemeine 60-Stunden-Grenze – keine gesetzliche Limite. «Dennoch werden sie von den Versicherern unbegründet gekürzt. Dagegen können wir mithilfe der Studie vorgehen», sagt Claudia Aufdereggen. «Das BAG hat festgelegt, dass A-Leistungen insbesondere für Palliative Care sowie für instabile und komplexe Pflegesituationen und koordinativen Aufwand eingesetzt werden sollen», fügt Flurina Meier an. «Unsere Studie zeigt, dass die Spitex genau dies tut.»

4.4. Mit der Umsetzung von EFAS vorwärtskommen
«Die Studie ist eine von verschiedenen wichtigen Grundlagen für die Umsetzung der einheitlichen Finanzierung ambulanter und stationärer Leistungen (EFAS), in welche die Pflege integriert sein wird», sagt Claudia Aufdereggen. Denn: Das Parlament verlangt, dass auch für die Pflege Tarife vorliegen, die auf einer einheitlichen, transparenten Kosten- und Datenbasis beruhen. Die Spitex arbeitet bereits an einer Harmonisierung ihrer Kostendaten (vgl. Spitex Magazin 5/2023). Diese Kostendaten sollten nun aber zusätzlich mit klinischen Daten verbunden werden. «Unsere Studie gibt gute Hinweise darauf, welche Komplexitätsfaktoren dabei verwendet werden sollten», sagt Flurina Meier. Claudia Aufdereggen gibt zu diesem Thema zu bedenken, dass künftig auch Spitex-Organisationen ohne Versorgungspflicht die nötigen Daten zur Verfügung stellen sollten – schliesslich müssten die EFAS-Tarife für die gesamte Branche berechnet werden.

4.5. Finanzierungslücken aufdecken
«Mithilfe der Finanzdaten der Spitex kann man nun auch ermitteln, bei welchen Komplexitätsfaktoren es hauptsächlich zu Finanzierungslücken kommt. Welche leistungsintensiven Fälle also zu hohen, von den Versicherungen nicht getragenen Aufwänden der Spitex führen», erklärt Flurina Meier. Diese Datengrundlage wäre nötig, wenn für die zukünftige Finanzierung kosten­deckende Tarife ausgearbeitet werden.

Die Zunahme der Komplexität bei der Spitex dürfte laut der Fachliteratur weiter andauern – aktuell wird sie unter anderem durch die Verlagerung von akutmedizinischen Fällen ins ambulante Setting vorangetrieben (vgl. Bericht Patient at Home). Mögliche Folgen der zunehmenden Komplexität können für die Spitex sein:

  • Mehr integrierte Versorgung: Laut dem Schweizer Forum für integrierte Versorgung (fmc) braucht es für die Bewältigung der komplexen Fälle zunehmend eine enge Zusammenarbeit mit anderen Leistungserbringern (vgl. Infokasten). Wichtig ist hierfür laut Claudia Aufdereggen, dass die digitalen Mittel für die Kommunikation und den Informationsaustausch zwischen den Leistungs­erbringern ausgebaut und optimiert werden.
  • Mehr Leistungen: «Die Komplexitätsstudie zeigt, dass viele Komplexitätsfaktoren mit einer hohen Leistungsintensität verbunden sind. Die Leistungen der Spitex nehmen also nicht nur durch immer mehr Klientinnen und Klienten zu. Und für diese immer mehr Leistungen braucht die Spitex ausreichend personelle Ressourcen», sagt Claudia Aufdereggen.

Mehr Komplexität verlangt nach mehr Pflege­expertise im Skill-and-Grade-Mix der Spitex.

CLAUDIA AUFDEREGGEN

Vorstandsmitglied Spitex Schweiz, Geschäftsleiterin Spitex Regio Liestal

  • Mehr Pflegeexpertise: «Mehr Komplexität verlangt nach mehr Pflegeexpertise im Skill-and-Grade-Mix», ist Claudia Aufdereggen überzeugt. Zur ­Bewältigung komplexer Fälle seien mehr Pflegefachpersonen FH/HF genauso nötig wie mehr ­Pflegeexpertinnen und Pflegeexperten mit Ausbildung ab Masterstufe (vgl. Bericht APN und Komplexität). Auch ­benötige jede Spitex-Organisation zunehmend spezialisiertes Fachwissen für spezifische komplexe Fälle, etwa in der Psychiatriepflege, Demenzpflege und Palliative Care.
  • Höhere Kosten – höhere Beiträge: «Das heutige, stark veraltete Finanzierungsystem wird der ­wachsenden Komplexität und den gestiegenen Anforderungen der Spitex nicht mehr gerecht», ­betont Claudia Aufdereggen. «Die Beiträge der Krankenkassen gemäss KLV wurden seit 2011 nicht erhöht. Sie wurden zum Beispiel nicht an die ­Teuerung angepasst und nicht an die gestiegenen Löhne der – auch zunehmend spezialisierten – Pflegefachpersonen», sagt Flurina Meier. 

«Die Spitex trägt ganz wesentlich dazu bei, dass die von allen Seiten und stetig geforderte Verlagerung in den ambulanten Bereich weiter umgesetzt werden kann», sagt Claudia Aufdereggen abschliessend. «Dadurch wächst die Komplexität ihrer Fälle. Die Politik muss darum sicherstellen, dass die Leistungen der Spitex für das Bewältigen dieser Komplexität angemessen finanziert werden.»

Das heutige Finanzierungssystem wird der
wachsenden Komplexität nicht gerecht.

CLAUDIA AUFDEREGGEN

Spitex Schweiz / Spitex Regio Liestal

Integrierte Versorgung: eine Lösung für Komplexität

Laut Oliver Strehle, Geschäftsführer des Schweizer Forums für integrierte Versorgung (fmc), kann ­integrierte Versorgung durchaus auch Komplexität verursachen – sie sei aber auch eine wichtige ­Lösung für das Bewältigen komplexer Fälle. «Die integrierte Versorgung wird dort nötig, wo ­Patientinnen und Patienten vielseitige und vielschichtige Herausforderungen vorweisen und ­darum verschiedenste Unterstützungsleistungen aus dem Gesundheits- und Sozialwesen benötigen», erklärt er. Damit die integrierte Versorgung funktioniert, seien folgende Aspekte zentral:

Planung und Kommunikation: «Integrierte Versorgung funktioniert nur, wenn sie gut geplant und abgesprochen wird. Ein Spital muss zum Beispiel sicherstellen, dass nachgelagerte Leistungserbringer gut informiert sind», sagt er. Wichtig sei dabei, dass die integrierte Versorgung «über den ganzen Behandlungs- und Betreuungsweg hinweg» stattfindet.

Ganzheitlichkeit und Klientenzentriertheit: «Eine gute integrierte Versorgung betrachtet die betroffene Person ganzheitlich aus der bio-­psycho-sozialen Perspektive und berücksichtigt individuelle Bedürfnisse und Fähigkeiten», fügt er an. Hierfür sei empfohlen, «Krankheit und Gesundheit als komplexe, dynamische und einzigartige Interaktionen zwischen verschiedenen Komponenten des Gesamtsystems zu betrachten und sich bei Versorgungsmassnahmen an den Bedürfnissen des Patienten zu orientieren.» 

Rahmenbedingungen: «Wir befinden uns in ­einer Situation, die eine organisationsübergreifende Zusammenarbeit nicht fördert», kritisiert er. Um dies zu ändern, seien unter anderem «zeitgemässe sowie fach- und leistungsgerechte Tarife für alle Leistungserbringer» nötig. Denn die heutige veraltete Tarifstruktur erfordere von den Leistungserbringern viel Energie und erleichtere die integrierte Versorgung damit nicht.

Mindset und Vertrauen: «Integrierte Versorgung ist ein ‹People-Business›. Das heisst: Gute Rahmenbedingungen nützen nichts, wenn die Gesundheitsfachpersonen sich nicht kennenlernen und austauschen wollen», sagt Oliver Strehle. «Zentral für das Funktionieren der Zusammenarbeit ist dabei vor allem eines: die Entwicklung einer gemeinsamen Vertrauenskultur.»

→ www.fmc.ch

  1. Vgl. Schweizerische Gesundheitsbefragung 2022 ↩︎
  2. Basic Activities of Daily Living (BADL) sind Basis-Alltagsaktivitäten.
    ↩︎
  3. Instrumental activities of daily living (IADL) sind instrumentelle Alltagsaktivitäten. ↩︎
  4. Vgl. BAG-Bericht «Abgeltung von Leistungen im Rahmen der koordinierten Versorgung», 2018. ↩︎

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