Ein Benediktiner im Dienste der Spitex

Nach einem Start ins Berufsleben als Briefträger verschrieb sich Bruder Franz der Krankenpflege und einem Leben im Kloster Disentis. Dort pflegt der 67-Jährige seit 1982 seine Mitbrüder – dies inzwischen im Dienst der Spitex Cadi, seit 2016 als vollwertiger Angestellter im «Team Kloster».

Bruder Franz ist «Krankenbruder» im Kloster Disentis. Hier massiert er einem Mitbruder, der sich von einer Operation erholt, die Füsse. Bild: Martina Kleinsorg

MARTINA KLEINSORG. Der Himmel hängt grau über Disentis (GR) an diesem Märzmorgen, doch Bruder Franz begrüsst die Journalistin an der Pforte des Benediktinerklosters mit einem strahlenden Lächeln. Am 8. Dezember 1982 trat er als 25-Jähriger dem Orden bei, seither versieht er dort seinen Dienst als «Krankenbruder» – seit bald zwei Jahrzehnten im Auftrag der Spitex Cadi.

Berufswechsel nach Todesfall
In einer katholischen Familie, mit sieben älteren Geschwistern und vielen Freiheiten wuchs Bruder Franz auf einem Bauernhof in Wängi (TG) auf. Die Kirche in unmittelbarer Nachbarschaft, ministrierte er ab der 3.   Klasse. «Schon früh bewegte mich die Idee, mit Menschen zu arbeiten – ich wollte Krankenpfleger werden», erzählt er beim Kaffee in der Pilgerstube. Nach dem Schulabschluss mit 16 Jahren war er dafür aber noch zu jung. So absolvierte er im Nachbardorf zunächst eine einjährige Lehre zum Postboten, auf die fünf Jahre Einsatz in Kloten (ZH) folgten. Sportliche Ausdauer bewies er im Laufsportverein Kloten und nahm an 80 Wettbewerben teil, samt Silvesterlauf im brasilianischen São Paulo. 

Besuche bei einer Cousine seines Vaters im Alters- und Pflegeheim in Bussnang (TG) bestärkten ihn in seinem Wunsch, in die Krankenpflege zu wechseln. Ihr Tod gab schliesslich den Anstoss: An der Beerdigung lernte er den Verwalter des Heims kennen und vereinbarte mit diesem einen Schnuppertag, auf den eigentlich ein Praktikum folgen sollte. Bruder Franz hatte auf Ende August 1979 bereits bei der Post gekündigt, als er erfuhr, dass die Pflegekommission des Heims niemanden einstellen wolle. Doch abhalten liess er sich davon nicht: «Ich mache einen Monat Ferien, dann komme ich, ob ihr wollt oder nicht», stellte er damals klar und wäre dafür bereit gewesen, auf einen Lohn zu verzichten. Den freien September nutzte er für eine Wallfahrt nach Fátima in Portugal, um für seinen Einstieg in den Pflegeberuf zu beten. Am Gedenktag der Marienerscheinung am 13. des Monats, mit Zehntausenden von Pilgern gemeinsam singend und betend, wurde er sich seiner Berufung für einen geistlichen Werdegang bewusst: «Herrgott, du kannst mich haben von Kopf bis Fuss – aber ich muss noch wissen, wo mein Platz ist.» 

Das siebenmonatige Praktikum forderte Bruder Franz heraus: Während fünf Wochen wurde er in der Nachtwache eingesetzt mit 30 Bewohnenden im Pflege- und 100 im Altersheim. «Alleine von abends 21 bis morgens 7 Uhr – mit 22 Jahren, als Postbote.» Kurz nach Beginn der 18-monatigen Ausbildung im Mai 1981 zum Krankenpfleger FA SRK am Kantonsspital in Münsterlingen eröffnete er seinem Vater am Frühstückstisch die Absicht, «eines Tages» ins Kloster zu gehen. Der Vater starb drei Monate später unerwartet im Alter von 74 Jahren, drei Jahre zuvor war die Mutter mit 61 Jahren einem Krebsleiden erlegen. «Es gab niemanden, für den ich hätte sorgen müssen, so war der Weg in den geistlichen Beruf für mich frei.»

Der fleischlichen Versuchung widerstehen
Doch beschäftigte ihn die Frage, ob er mit weiblichem Personal zusammenarbeiten und der fleischlichen Versuchung widerstehen könne. Mit dreien, die mit ihm die Ausbildung absolvierten, hätte er es sich vorstellen können, den Bund der Ehe einzugehen: «Aber eine Stimme sagte mir jeweils: ‹Das ist es nicht. So, wie du dein Leben einsetzen möchtest, käme die Familie zu kurz.›» Eine andere junge Frau, die er während des Pflichtjahres im Kantonalen Pflegeheim St. Katharinental kennenlernte, hätte ihm die Entscheidung für ein Leben im Kloster noch verleiden können, so sehr gefiel sie ihm. Doch fand sie die Idee «lässig». «Geh du nur», war ihre Reaktion. Die beiden blieben in Freundschaft verbunden – und Bruder Franz lud sie und ihre Mutter viereinhalb Jahre später zur «ewigen Profess» ein, seiner Hochzeit mit Gott.

Die Wahl des Ordens fiel ihm nicht leicht. Ein Kapuzinermönch, den er an der Wallfahrt kennengelernt hatte, starb einen Tag vor dem geplanten Treffen in Brig. Bruder Franz fragte sich: «Ist jetzt ein Platz dort für mich frei?» Nach einem Besuch des Klosters Disentis, das er vom Jungwachtlager kannte, bat er Gott um Rat: «Gib mir einfach ein Zeichen.» Gleichentags starb der Krankenpfleger der Benediktiner, Bruder Franz las die Todesanzeige: «Da war es für mich klar: Disentis soll es sein.» 

Wir haben mit dem ‹Team
Kloster› einen auf das Kloster
beschränkten Leistungsvertrag
abgeschlossen.

DANIEL HERGER

Geschäftsleiter Spitex Cadi

Vorbild für das ewige Leben
Bei seinem Eintritt waren die Aufgaben in der Krankenstation auf zwei Schultern verteilt: Bruder Lukas betreute die rund 120 Schüler und Schülerinnen des Kloster-Internats. Der andere, an dessen Stelle er trat, war zuständig für den Konvent. 43 Mönche umfasste die Klostergemeinschaft seinerzeit, drei weitere waren auswärts stationiert. Schon nach wenigen Tagen übergab man Bruder Franz die Verantwortung. «Das ist eigentlich nicht üblich, doch ich packte zu», erinnert er sich.

Arbeit gab es genug: Tage und Nächte habe er an Betten gesessen, drei Monate auf dem Schragen im Krankenzimmer geschlafen, um sofort reagieren zu können. Gleich zu Beginn seien innert Jahresfrist fünf Mitbrüder gestorben, der letzte am 21. Oktober 1983 an Lungenkrebs, erinnert sich Bruder Franz. Er habe gebetet: «Bitte Herrgott, ein Jahr kein Todesfall.» Tatsächlich starb der nächste erst am 22. Oktober 1984 – nach einem Sturz von der Leiter.

Über 40 seiner Mitbrüder hat Bruder Franz bis heute beim Sterben begleitet. «Dass man zusammengelebt und einander aus gesunden Tagen gekannt hat, ist in der Pflege ein Vorteil», sagt er. Gerade im Fall einer Demenz könne man die Pflege mit besonders viel Empathie angehen, wenn man wisse, was dem anderen gefällt. Wie steht es bei den Klosterbrüdern um die Angst vor dem Tod? «Wir sollten ein Vorbild sein im Glauben daran, dass es ein ewiges Leben gibt. Doch der Prozess des Sterbens kann auch in uns Ängste auslösen, insbesondere bei Krankheiten im Herzbereich oder der Lunge. Der Tod selbst macht uns aber keine Angst.»

Vertraute Begegnung mit der Spitex auf Augenhöhe
Bald zwei Jahrzehnte dauert die Zusammenarbeit mit der Spitex Cadi bereits an. Im Jahr 2000 als Verein gegründet, gehört sie mit elf Vollzeitstellen und 33 Mitarbeitenden zu den kleineren Spitex-Organisationen des Kantons Graubünden. Zunächst waren die für die Pflege zuständigen Brüder als pflegende Angehörige angestellt. Da dieser Status eine Abrechnung auf mehrere Klienten erschwerte, wurde 2016 eine vollwertige Anstellung bei der Spitex Cadi aufgegleist. «Ein auf das Kloster beschränkter Leistungsauftrag unter Schirmherrschaft der Spitex», formuliert es Daniel Herger, der 2014 als Pflegedienstleiter begann und seit 2017 die operative Gesamtleitung der Spitex Cadi innehat. Das Kloster gelte als Haushalt und sei für die Infrastruktur zuständig, die Pflege und das Qualitätsmanagement laufe über die Spitex. Das Pensum variiere und das Gehalt werde formal an Bruder Franz ausgezahlt – es komme jedoch wie alle Löhne der Mitbrüder in eine gemeinsame Kasse. 

«Herausfordernd und horizonterweiternd» nennt Daniel Herger die ungewöhnliche Konstellation. Die ­Zusammenarbeit beschreiben er und Bruder Franz als unkompliziert, es sei eine «vertraute Begegnung auf Augenhöhe». Die gemeinsame Vorgeschichte reicht 40 Jahre zurück: Damals ging Daniel Herger selbst auf das Kloster-Gymnasium und war später Mitarbeiter in der Pflege und Bildungsverantwortlicher des Pflegeheims Disentis, das während eines Umbaus 2012/13 für 20 Monate im Kloster einquartiert war.

Für das «Team Kloster», so die Bezeichnung im Spitex-­Organigramm, gelten alle Rechte und Pflichten, die der Betrieb mit sich bringe: vom Angebot interner Weiterbildungen bis zum Weihnachtsessen. «Einer genügt jeweils, bin ich der Ansicht, und habe bislang meinem Mitbruder den Vortritt gelassen», räumt Bruder Franz ein. 

Wechsel im «Team Kloster»
Bruder Lukas hörte nach einigen Jahren altersbedingt mit der Krankenpflege auf. Ihm folgte der junge Bruder Thierry nach, der bereit war, seine KV-Lehre um eine Ausbildung zum Pflegefachmann HF zu ergänzen, die er 2016 abschloss. Nachdem im September 2019 ein voll pflegebedürftiger Mitbruder verstorben war, rückte Bruder Franz in die zweite Reihe. «Fortan war ich nur noch als Reserve im Einsatz», sagt er. Auf Ende Januar 2024 hatte Bruder Thierry nun aber um drei Jahre Auszeit zu Hause gebeten. 

19 Mönche im Alter zwischen 28 und 85 Jahren zählt der Konvent aktuell. Nur um einen muss sich Bruder Franz derzeit kümmern: Dieser erholt sich nach einer Venen-Operation am Bein. «Ich richte wöchentlich seine Medikamente und massiere ihm bei Bedarf die Füsse», berichtet Bruder Franz. Doch gebe es auch ohne weitere Patienten für ihn genug zu tun. Als Subprior ist er Mitglied der Klosterleitung, «aber das sind nur Sitzungen», winkt Bruder Franz ab. Er sei vor allem mit Reinigungsarbeiten beschäftigt und fahre den Staubsauger spazieren – den «tschetschapuorla», wie dieser auf Romanisch heisst, der Betriebssprache der Spitex Cadi. «Sollte der Pflegebedarf im Kloster so zunehmen, dass Bruder Franz ihn nicht allein abdecken kann, wäre es natürlich möglich, die Pflege an uns zu delegieren», sagt Daniel Herger. 

Die drei Zimmer der Krankenabteilung sind im öffentlich zugänglichen Bereich des Klosters untergebracht. Eine Infotafel verweist auf die Öffnungszeiten zwischen 7 und 21.15 Uhr, die sich an den Gebets- und Mahlzeiten ausrichten. «Ora, lege et labora – bete, lies und arbeite», lautet das Motto der Benediktiner. Fünfmal täglich treffen sich die Mönche zum gemeinsamen Gebet in der barocken Marienkirche, knapp drei Stunden insgesamt, das erste beginnt um 5.30 Uhr. «Der regelmässige Rhythmus des Klosterlebens hält jung», ist Bruder Franz überzeugt. So habe sich die Demenz eines Mitbruders eigentlich nur an Festtagen bemerkbar gemacht: Den Hinweis auf die um 30 Minuten verschobene Essenszeit habe dieser sofort wieder vergessen.

Versiert auch in der Naturheilkunde 
Von der Beichte bis zur Seelsorge stehen die Mönche den Besucherinnen und Besuchern des Klosters für Gespräche zur Verfügung. So wenden sich zahlreiche Ratsuchende auch an Bruder Franz, die Anfragen reichen von Tipps bei Kinderwunsch bis zur Sterbebegleitung. Er setzt auch auf Naturheilmittel in Ergänzung zur Schulmedizin. Die Apothekerin Ellen Brendel aus Konstanz machte ihn einst mit Rezepten der heiligen Hildegard von Bingen vertraut: Ein Weizenwickel etwa könne seiner Erfahrung nach bei Durchblutungsstörungen der Wirbelsäule helfen. 

Eigentlich sei er schon pensioniert, sagt der 67-Jährige, doch wie habe es der heilige Benedikt vor mehr als 1500 Jahren formuliert: «Jeder solle nach seinen Kräften eine Tätigkeit ausüben.» Für ihn steht fest: «Es sind die Begegnungen mit Menschen, die ich an der Krankenpflege so sehr schätze und die mir auch die Kraft verleihen, weiterzumachen.»

Weitere Artikel

Dank Sensoren länger selbstbestimmt zu Hause leben

Wie digitale Technologie die Arbeit der Spitex unterstützen kann, zeigt das Bei...

Immer mehr jüngere Klientinnen und Klienten

RED. Das Bundesamt für Statistik (BFS) hat die «Spitex-Statistik» von 2021 veröf...

Neue Präsidentin für den Kantonalverband Luzern

RED. An der 30. Delegiertenversammlung des Spitex Kantonalverbands Luzern im Mai...