«Die Spitex bietet eine Vielzahl an spannenden Aufgaben für Studierende»

Immer mehr Spitex-Organisationen bilden Pflegefachpersonen auf Tertiärstufe aus. Die Spitex Wettingen-Neuenhof AG tut dies auf dem Niveau Höhere Fachschule (HF) und Fachhochschule (FH). Zwei ihrer Studierenden stellen klar: Die Spitex ist ein viel attraktiveres Setting, als manche denken. 

Simon Michel, Bereichsleiter Bildung und Personalentwicklung (rechts), diskutiert mit HF-Student Joe Stössel über Pflegematerial. Bilder: Ursula Staub

KATHRIN MORF. «Wichtig ist, dass der Fachkräftemangel nicht auf Kosten der Ausbildung bekämpft wird, indem Studierende als ausgebildete Fachkräfte eingesetzt werden», sagt Simon Michel, Bereichsleiter Bildung und Personalentwicklung bei der aargauischen Spitex Wet­tingen-Neuenhof AG, wenn er nach der Ausbildung von diplomierten Pflegefachpersonen durch seine Organisation gefragt wird. «Damit eine qualitativ hochwertige Ausbildung gelingt, braucht es ein kompetentes ­Bildungsteam, das Bildung als Identitäts- und Persönlichkeitsentwicklung versteht und Studierende in ihrer Selbstwirksamkeit unterstützt», fügt er an.

Die Spitex Wettingen-Neuenhof AG bildet seit über zwei Jahrzehnten Pflegefachpersonen auf dem Niveau Höhere Fachschule (HF) aus, also auf Tertiärstufe B. «Besonderen Wert legen wir in unserer HF-Ausbildung auf die interdisziplinäre Zusammenarbeit im Spitex-Team und in der integrierten Versorgung, auf die professionelle Beziehungsgestaltung mit den Klientinnen und Klienten, auf eine hohe Eigenverantwortung und auf die Reflexionsfähigkeit», erklärt er. Von diesem Vorgehen profitiert derzeit ein Student: Joe Stössel. Der 28-Jährige aus Endingen (AG) hat seine FaGe-Lehre im Akutbereich absolviert und rechnete damals nicht damit, dass er je für die Spitex arbeiten würde. «Dann stiess ich aber auf der Suche nach einem Arbeitsort ohne Nachtdienst auf die Spitex und bemerkte, dass ich zu Unrecht gedacht hatte, dass die Arbeit dort langweilig ist», erzählt er.

Der HF-Studierende schätzt die Selbstständigkeit bei der Spitex 
Erst arbeitete Joe Stössel als FaGe für die Spitex Wet­tingen-Neuenhof AG und beschloss bald einmal, auch das HF-Studium bei der Spitex in Angriff zu nehmen. Derzeit befindet er sich im sechsten und somit letzten Semester an der Höheren Fachschule Gesundheit und Soziales (HFGS) in Aarau. Bei der Spitex ist er oft allein unterwegs – um die Anwendung von neu erlangtem Fachwissen in der Praxis zu erlernen, begleitet ihn aber regelmässig eine Berufsbildnerin.

«Derzeit muss ich den Gürtel etwas enger schnallen, wie dies bei jedem Studium der Fall ist. Aber die Spitex Wettingen-Neuenhof bezahlt mir einen grosszügigen Ausbildungslohn», sagt Joe Stössel über die Herausforderungen seiner Ausbildung – die positiven Seiten überwögen indes klar. «Viele HF-Studierende unterschätzen die Spitex. Einer der grössten Pluspunkte meiner Ausbildung hier ist, dass ich selbstständig unterwegs sein und eigenständig Entscheidungen treffen darf. Viele Studierende wissen auch nicht, dass sie bei der Spitex viele Wundverbände machen und komplexe Wundbehandlungen durchführen können. Auch VAC-Verbände, Verbandswechsel bei einem Tracheostoma, Infusionstherapien oder Peritonealdialysen 1 trifft man hier oft an.» Damit die HF-Studierenden von einer umfassenden Ausbildung profitieren können, werde zudem je nach Vorbildung ein Praktikum zur Kompetenzerweiterung und -vertiefung in einem Spital absolviert. «Weiter können Studierende bei der Spitex einen umfassenden Blick für den Bedarf der Klientinnen und Klienten entwickeln, zahlreiche Gespräche und Abklärungen verantworten, eigenständig arbeiten und viel unterwegs sein», ergänzt er. «Ausserdem haben sie Zeit, um sich auf eine Klientin oder einen Klienten zu fokussieren – ohne dass gleichzeitig fünf andere Personen etwas von ihnen möchten. Und sie lernen, auf das kostbare Fachwissen des Pflegepersonals zu vertrauen – und damit auf sich selbst.» 

Die erste Spitex-Organisation im Kanton mit FH-Praktikum
«Wir sind die erste Spitex-Organisation im Kanton Aargau, die auch Pflegefachpersonen auf Tertiärstufe A ausbildet, also auf Niveau Fachhochschule», sagt Simon Michel, der unter anderem Ausbilder mit eidgenössischem Fachausweis ist. Bisher drei FH-Studierende haben seit Februar 2023 ein Praktikum bei der Spitex Wet­tingen-Neuenhof AG absolviert, allesamt vermittelt durch die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW). «Dieses Frühjahrssemester konnte das Praktikum nicht besetzt werden, da die ZHAW den Studiengang Pflege nicht füllen konnte», berichtet er. «Am 17. Juni 2024 startet aber die nächste FH-Studierende ihr Praktikum bei uns.» 

Die Ausbildungen auf Tertiärstufe A und B seien sich in einigen Punkten ähnlich, sagt Simon Michel. «Pflegefachpersonen FH bringen jedoch eine grössere Expertise in Bezug auf wissenschaftliches Arbeiten mit.» Passend dazu erlernten die FH-Studierenden bei der Spitex Wettingen-Neuenhof AG intensiv das Clinical ­Assessment, wofür sich eine Berufsbildnerin an der ZHAW speziell weitergebildet habe. «Zudem nehmen die FH-Studierenden am Qualitätsmanagement teil und überarbeiten unter Anleitung Konzepte, verfassen Standards und erstellen Checklisten.»

Die FH-Studierende war von der Spitex positiv überrascht
Brikena Dzeljilji aus Dietikon ZH befindet sich ebenfalls im letzten Semester ihres dreijährigen Vollzeitstudiums – allerdings auf Niveau FH an der ZHAW. Ihre drei Praktika wurden ihr von der Schule zugewiesen – und so lernte sie nach einer Rehaklinik und einem Spital auch die Spitex Wettingen-Neuenhof AG kennen. «Während meiner vier Monate bei der Spitex konnte ich ein neues und spannendes Setting kennenlernen», berichtet die 23-Jährige. Besonders gefallen habe ihr die Vielfalt der Verbandswechsel, durch welche sie ihr Wundmanagement-Wissen erheblich erweitern durfte. 

Das Bildungsteam der Spitex Wettingen-Neuenhof war äusserst hilfsbereit und engagiert und stets daran interessiert, wie es mir ging und ob ich Unterstützung
benötigte.

Brikena Xhelili

Studentin Fachhochschule

Anfänglich sei die Arbeit im Privathaushalt zwar ­herausfordernd gewesen, weil sie bisher nie allein ­gepflegt hatte. «Doch ich habe mich schnell daran ­gewöhnt und gelernt, selbstständig zu arbeiten. Bei der Spitex habe ich mich sowohl beruflich als auch persönlich weiterentwickelt, was mir in anderen Settings ebenfalls zugutekommen wird», sagt sie. Kommt hinzu: Auch wenn sie allein unterwegs war – alleingelassen wurde sie nie. «Ich fühlte mich ausgezeichnet betreut. Das Bildungsteam war äusserst hilfsbereit und engagiert und stets daran interessiert, wie es mir ging und ob ich Unterstützung benötigte.» Anderen FH-Studierenden würde Brikena Dzeljilji ein Praktikum bei der Spitex empfehlen: «Obwohl ich zunächst skeptisch war, erwies sich das Praktikum als äusserst bereichernd. Die Spitex bietet eine Vielzahl an spannenden Aufgaben für Studierende.»

Die Vorteile der HF/FH-Ausbildung aus Sicht des Betriebs
Die Spitex Wettingen-Neuenhof AG, die den «Swiss Arbeitgeber Award 2024» gewonnen hat 2, zählt 85 Mitarbeitende. Sie bildet derzeit auch sieben FaGe aus und bietet ein einmonatiges Spezialpraktikum für angehende Rettungssanitäterinnen und Rettungssanitäter HF an. «Der Kanton Aargau hat eine Ausbildungsverpflichtung für Gesundheitsberufe. Wir haben unser Soll im Jahr 2022 mit 102,57 Prozent leicht übertroffen, und 2023 dürfte diese Zahl noch höher liegen», berichtet Simon Michel. Sein Betrieb bilde aber keinesfalls nur Pflegefachpersonen aus, weil er dazu verpflichtet ist. «Wir möchten dadurch unseren Beitrag zur Weiterentwicklung und Professionalisierung der Pflege leisten», betont er. Der Spitex-Bereich werde immer komplexer und anspruchsvoller, und diese Entwicklung könne durch Pflegefachpersonen mit Ausbildung auf Tertiärstufe besonders gut bewältigt werden (vgl. auch Bericht Einleitung Ausbildung). 

Wer gerne selbstständig arbeitet und Verantwortung übernimmt, wer Herausforderungen mit kreativem Denken begegnet, wer ­lieber nach Bedarf als nach Schema pflegt – für den ist ein Studium bei der Spitex genau das Richtige.

Simon Michel

Bereichsleiter Bildung und Personalentwicklung, Spitex Wettingen-Neuenhof AG

Vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels werde es für Spitex-Organisationen darum immer wichtiger, in die Ausbildung von Pflegefachpersonen zu investieren. «Die Studierenden werden durch die praxisnahe Ausbildung optimal auf die Anforderungen im Spitex-Bereich vorbereitet. Und die Betriebe profitieren von der hohen Motivation und Wissenschaftsnähe der Studierenden», ist er überzeugt. Leider sei das Image der Spitex als Ausbilderin auf Tertiärstufe aber veraltet und müsse korrigiert werden. «Darum ist die Spitex Wettingen-Neuenhof an Veranstaltungen sowie in Social Media stark präsent», berichtet er abschliessend. «Auf diesen Plattformen machen wir klar: Wer gerne selbstständig arbeitet und Verantwortung übernimmt, wer Herausforderungen mit kreativem Denken begegnet, wer lieber nach Bedarf als nach Schema pflegt – für den ist ein Studium bei der Spitex genau das Richtige.»

  1. «VAC» (vacuum-assisted closure therapy) ist eine Wundversorgung, bei der Wunden luftdicht abgedeckt werden. Ein Tracheostoma ist eine künstliche Öffnung an der Luftröhre. Die Peritonealdialyse (auch: Bauchfelldialyse) ist ein Verfahren der Nierenersatztherapie. ↩︎
  2. www.spitex-wettingen.ch/aktuelles/swiss-arbeitgeber-award ↩︎

Weitere Artikel

Digitale Helfershelfer ermöglichen Pflege aus der Ferne

Die Spitex kann ihre Klientinnen und Klienten auch hybrid versorgen, also mit einer Kombination aus Pflege vor Ort und aus Distanz: ...

In Luzern wird die Zukunft der Psychiatriespitex angepackt

Der Spitex Kantonalverband Luzern hat eine Strategie verfasst, um die Psychiatriespitex umfassend zu stärken und weiterzuentwickeln....

Gemeindenah und familienorientiert pflegen

Die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) empfiehlt ein Buch, in dem sich über 20 Fachpersonen – auch solche aus d...