Die Spitex baut ihre Psychiatriepflege aus

KATHRIN MORF. Die Spitex leistet immer mehr professionelle Psychiatriepflege. Über die Freuden und Herausforderungen dieser Entwicklung diskutieren Esther ­Indermaur, Spezialistin für Psychiatriepflege bei der Spitex, und Ruth Hagen, wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Spitex Schweiz.

Diese Zeichnung zeigt, was die Psychiatrie­pflege unter anderem tut: Psychisch kranke Menschen dazu befähigen, den Schritt nach draussen wieder zu wagen und damit im Alltag wieder funktionieren zu können. Illustration: Archiv/Karin Widmer

Wie hat sich die Psychiatriepflege der Spitex entwickelt?
Immer mehr Menschen sind laut dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) auf Leistungen des psychiatrischen Versorgungsnetzwerkes ihrer Region angewiesen. Kliniken, Psychiaterinnen und Psychiater sowie Psychotherapeutinnen und -therapeuten sind aber oft überlastet. Umso wichtiger ist es laut dem Bund, dass die Psychiatriepflege zu Hause ausgebaut wird. Noch 2002 zeigte eine Studie 1 jedoch, dass die psychiatrische Pflege der Spitex wenig sichtbar war und unterschätzt wurde (vgl. «Spitex Magazin» 6/2019 – nicht online verfügbar). «Seither haben aber zahlreiche Spitex-Organisationen ein Angebot in Psychiatriepflege geschaffen oder ausgebaut», sagt Ruth Hagen, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Ressort Grundlagen und Entwicklung von Spitex Schweiz. «Oft übersteigt die Nachfrage jedoch immer noch das Angebot, insbesondere in der Kinder- und Jugend­psychiatriepflege.» Diese Beobachtung passt zur Aussage des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums (OBSAN), dass der Anstieg der psychischen Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen besonders stark ist 2 – und die Covid-19-Pandemie verstärkte diese Entwicklung noch.

Laut Ruth Hagen hat die Spitex ihre Psychiatriepflege in den letzten Jahren nicht nur ausgebaut, sondern auch professionalisiert. Und dies werde im Gesundheitswesen zunehmend anerkannt. «Es ist ein guter Trend, dass die Spitex immer mehr hochspezialisiertes psy­chiatrisches Pflegefachpersonal einsetzt. Weder das ­Management noch die Finanzierer einer Spitex-Organisation dürfen denken, dass das somatische Pflegepersonal ‹nebenbei› professionelle Psychiatriepflege leisten kann», bekräftigt Esther Indermaur. Die Pflegeexpertin MScN ist eine erfahrene Pflegefachfrau, Autorin und Referentin zum Thema Psychiatriepflege. Seit 2021 ist sie ausserdem Leiterin Ambulante Leistungen bei der Thurvita AG in Wil SG.

Die Nachfrage übersteigt in der Psychiatriepflege der Spitex oft das Angebot, insbesondere in der Kinder- und Jugendpsychiatriepflege.

Ruth Hagen

Wissenschaftliche Mitarbeiterin Spitex Schweiz

Was umfasst die Psychiatriepflege der Spitex?
Wird die Psychiatriepflege zu Hause ärztlich angeordnet, führt die Spitex eine Bedarfsabklärung durch. Dies geschieht meist mit dem 2020 von Spitex Schweiz lancierten Instrument interRAI Community Mental Health (CMH)Schweiz (www.spitex-bedarfsabklärung.ch). Mit dessen rund 300 Items lassen sich zum Beispiel Stress und Trauma, Mentalstatus, kognitive Fähigkeiten sowie die Wohnumgebung von psychisch kranken Personen erfassen. Laut Esther Indermaur brauchen Pflegefachpersonen zusätzlich viel Erfahrung und Fokus-Assessments, um die Situation der Betroffenen wirklich in ihrer Gesamtheit erfassen und analysieren zu können. «Auf Basis der Bedarfsabklärung reflektiert die Pflegefachperson dann gemeinsam mit der psychisch kranken Person, was das Ziel des Pflegeprozesses sein soll und wie ­daran gearbeitet wird», erklärt sie weiter. Daraufhin besuchen die Spitex-Mitarbeitenden ihre Klientinnen und Klienten regelmässig – zumeist mit neutraler Kleidung und neutralen Fahrzeugen. «Wir wollen zwar gegen die ­Tabuisierung und Stigmatisierung von psychischen ­Erkrankungen ankämpfen. Aber wir dürfen das nicht auf dem Rücken unserer Klientinnen und Klienten tun und sie gegenüber ihrer Nachbarschaft outen», sagt Esther Indermaur. 

Während ihrer Besuche leisten die Psychiatriepflegefachpersonen vor allem «Hilfe zur Selbsthilfe»: Sie unterstützen die Betroffenen in der Entwicklung und Einübung von Bewältigungsstrategien und erarbeiten mit ihnen Tages- und Wochenstrukturen. Zudem kümmern sie sich um das Medikationsmanagement und sorgen für den engen Einbezug des Umfelds. Weiter befähigt die Spitex die psychisch kranken Menschen in der Selbstpflege, Haushaltsführung und der Pflege sozialer Kontakte. «Zentral ist auch die enge Kooperation der Spitex mit weiteren involvierten Gesundheitsfachpersonen, Sozialarbeitenden oder auch Behörden», fügt Esther Indermaur an. Die Krankenpflege-Leistungs­verordnung (KLV) unterteilt all diese Leistungen in ­A-Leistungen (Beratung, Bedarfsabklärung und Koordination), B-Leistungen (Leistungen rund um Medikation sowie die Bewältigung von Problemen und Krisen) und C-Leistungen (z. B. Leistungen rund um Alltagsfertigkeiten, Körperpflege, Haushalt, Tagesstruktur und soziale Kontakte) 3.

Einen besonders hohen Stellenwert hat bei alledem die Bezugspflege 4. «Ein Grossteil des psychiatrischen Prozesses spielt sich auf der Beziehungs- und Vertrauensebene ab, und jeder Unterbruch der Beziehung stört den Arbeitsprozess massiv», erklärt Esther Indermaur. Sie gewährleistet die Bezugspflege in ihrem Psychiatrie-Team mit einem Modell des Selbstmanagements: Jede Psychiatriepflegefachperson mit Tertiärausbildung 5 ist für eine gewisse Zahl an Klientinnen und Klienten verantwortlich und sorgt selbst für das Planen aller Einsätze. Nur bei seltenen, besonders komplexen Fällen teilen sich zwei Pflegefachpersonen die Bezugspflege. «Dieses Modell entspricht den Psychiatriepflegefachpersonen der Spitex, die ein grosses Verantwortungsbewusstsein haben und gerne Eigenverantwortung übernehmen», sagt Esther Indermaur. Bezugspflege bedeute dabei keineswegs, dass eine Abhängigkeit entsteht und dass die Pflegefachperson rund um die Uhr erreichbar sein muss. «Stattdessen befähigt die Fachperson die Klientin oder den Klienten, Probleme und Krisen ohne die Hilfe der Spitex zu bewältigen. Dafür wird auch ein persönliches Notfallkonzept erstellt, das zum Beispiel den Kontakt zu einem Kriseninterven­tionszentrum enthält.» Nicht zuletzt gehöre zu den Aufgaben einer psychiatrischen Pflegefachperson auch die Selbstpflege, schliesst Esther Indermaur die Aufzählung. «Die Pflegefachpersonen müssen sich abgrenzen können und ihre Klientinnen und Klienten trotz ihrer Krankheit als kompetente Menschen wahrnehmen, welche die Verantwortung für ihren Weg selbst tragen.»

Welche Qualifikation braucht das Personal der Spitex-Psychiatriepflege?
Seit Dezember 2021 können sich Fachpersonen Gesundheit (FaGe) und Fachpersonen Betreuung (FaBe) für die neue Berufsprüfung in psychiatrischer Pflege und Betreuung anmelden. Im März 2023 haben die ersten acht «Fachfrauen und Fachmänner in psychiatrischer Pflege und Betreuung» ihren eidgenössischen Fachausweis erhalten. FaGe mit psychiatrischen Zusatzkompetenzen seien für die Spitex ein Gewinn, sagt Esther Indermaur, welche die neue Berufsprüfung mitkonzipiert hat. ­«Leidet ein Mensch zum Beispiel unter einer schweren ­Depression und benötigt somatische Pflege, kann die Spitex diese spezialisierten FaGe einsetzen.» Zudem könnten die diplomierten Pflegefachpersonen einige psychiatriepflegerische C-Leistungen an FaGe mit viel Erfahrung oder einer Weiterbildung in Psychiatriepflege delegieren. Für die komplexeren A- und B-Leistungen brauche die Spitex aber immer Tertiärpersonal. 

So manche Spitex-Organisationen bekunden nun aber Schwierigkeiten damit, ausreichend diplomiertes Fachpersonal zu rekrutieren. Ruth Hagen hofft, dass die Situation durch die Förderung der Tertiärausbildung in der Pflege verbessert wird, welche ein Teil der Umsetzung der Pflegeinitiative ist. «Zudem muss die Spitex auf allen Ebenen aufzeigen, wie breit und spannend das Anwendungsgebiet für Psychiatriepflegefachpersonen bei der Spitex ist», fügt sie an. «Und jede Spitex-Organisation muss diesen Fachpersonen auch gute Arbeitsbedingungen bieten», ergänzt Esther Indermaur. «Dazu gehört, dass ihnen der wertvolle Austausch im psychia­trischen Team ermöglicht wird. Kann eine Organisation nicht mehrere Psychiatriefachpersonen beschäftigen, dann sollte sie ein gemeinsames Team mit anderen Organisationen aufbauen.»

Auch wenn die Spitex professionell dokumentiert und argumentiert, bekundet sie häufig Probleme mit der Verrechenbarkeit ihrer psychiatriepflegerischen Leistungen.

Ruth Hagen

Wissenschaftliche Mitarbeiterin Spitex Schweiz

Wer sind die Klientinnen und Klienten der Psychiatriepflege der Spitex?
Repräsentative Zahlen zu den Klientinnen und Klienten der Psychiatriepflege der Spitex gibt es keine. Darum wurde eine nicht repräsentative Auswertung der mit interRAI CMH erhobenen und in den Datenpool HomeCareData (HCD) eingespeisten Daten von rund 3000 Klientinnen und Klienten vorgenommen.  Dabei ergaben sich folgende Tendenzen:

  • Geschlecht: Rund zwei Drittel der Menschen, welche wegen einer psychischen Krankheit von der Spitex betreut werden, sind weiblich. Diese ungleiche Geschlechtsverteilung zeigt sich bei psychischen Krankheiten weltweit. «Eine ungewöhnliche Geschlechtsverteilung zeigt sich in der Psychiatriepflege der Spitex auch in Bezug auf die Tatsache, dass dort prozentual mehr Männer arbeiten als
    in der somatischen Pflege», fügt Ruth Hagen an (vgl. hierzu auch «Spitex Magazin» 2/2022).
  • Alter: Die Klientinnen und Klienten sind durchschnittlich rund 52 Jahre alt. Rund 3 % sind unter 18 Jahre alt, 27 % sind 18 bis 39 Jahre alt, 35 % sind 40 bis 59 Jahre alt, 26 % sind 60 bis 79 Jahre alt und 8 % sind 80 Jahre alt oder älter. Diese Verteilung ist anders als in der somatischen Pflege, wo die über 60-Jährigen rund zwei Drittel ausmachen. «In der Psychiatriepflege pflegt die Spitex vergleichsweise viele berufstätige Menschen, und das fordert von ihr viel Flexibilität», sagt Esther Indermaur.
  • Diagnosen: Hierfür wurden rund 2000 Fälle aus­gewertet, für die in interRAI CMHSchweiz eine Diagnose notiert wurde – oder mehrere Diagnosen, was häufig vorkommt. Unter Depressionen inklusive ­­­­bipolarer Störung leiden gut 60 %. Darauf folgen Suchterkrankungen (17 %), Angst- und Panikstörungen (12 %), Schizophrenie und posttraumatische Belastungsstörungen (je 10 %) sowie AD(H)S und Borderline (je 7 %). Mehrmals notiert wurden zum Beispiel auch Demenz, Essstörungen, Zwangsstörungen, Anpassungsstörungen, Schmerzstörungen und Agoraphobie. Selten erwähnt wurden beispielsweise Long Covid, eine Somatisierungsstörung oder eine anhaltende Trauerstörung. «Eine Dia­gnose sagt aber nichts darüber aus, wie stark symptombelastet eine Person ist», gibt Esther Indermaur zu bedenken. Eine Person könne zum Beispiel
  • trotz aller Vorurteile an Schizophrenie erkrankt sein und im Alltag gut funktionieren. Für die Pflegefachpersonen der Spitex sei die Diagnose darum weniger wichtig als die Frage, welche Probleme die Betroffenen im Alltag haben. 

Jede Spitex-Organisation muss den Fachpersonen für Psychiatriepflege den wertvollen Austausch
im psychiatrischen Team
ermöglichen.

Esther Indermaur

Leitung Spitex Thurvita

Wie herausfordernd ist die Finanzierung psychiatriepflegerischer Leistungen?
Das grösste Hindernis der ambulanten psychiatrischen Pflege sei die Finanzierung, sagte die Westschweizer Psychiatriepflege-Koryphäe Raymond Panchaud kürzlich gegenüber «Krankenpflege». Dies bestätigt Ruth Hagen: «Zum Beispiel stufen die Versicherer B-Leistungen nach einem halben Jahr willkürlich auf C-Leistungen herunter. Und sie hinterfragen psychiatriepflegerische Leistungen der Spitex oft grundsätzlich. Die Spitex sieht sich hier also mit vielen Rückweisungen konfrontiert», berichtet sie. Dies sei mit dem unterschiedlich ausgeprägten Fachwissen der Versicherer zum Thema psychische Erkrankungen zu erklären. Um Rückweisungen zu vermeiden, sei für die Spitex die Pflegedokumentation und sorgfältige Erklärung der Wichtigkeit jeder psychiatrischen Pflegeleistung das «A und O». «Doch auch wenn die Spitex professionell dokumentiert und argumentiert, bekundet sie häufig Probleme mit der Verrechenbarkeit», sagt Ruth Hagen. 

Esther Indermaur sieht das Hauptproblem der Finanzierung indes bei der Höhe der heutigen Vergütung der psychiatrischen Leistungen. «Diese ist nicht kostendeckend für das tertiäre Fachpersonal, das in der Psychiatriepflege dringend nötig ist», erklärt sie. Vor allem bei den C-Leistungen sei der Ansatz klar zu tief, fügt Ruth Hagen an: «Der KLV liegt die Idee zugrunde, dass C-Leistungen von sekundär ausgebildetem Personal ausgeführt werden können. In der Psychiatriepflege ist dies aber oft nicht möglich. Zum Beispiel kann die Körperpflege bei stark traumatisierten und instabilen Klientinnen und Klienten so herausfordernd sein, dass dafür diplomiertes Personal eingesetzt werden muss.» Ruth Hagen und Esther Indermaur wünschen sich ­folglich eine Erhöhung der Vergütung – oder sogar ein ­neues Verrechnungssystem, das die Psychiatriepflege adäquat abzubilden vermag. 

«Auch mit der heutigen Gesetzgebung darf es aber keine Diskriminierung der Psychiatriepflege gegenüber der somatischen Pflege geben. Dies haben mehrere Bundesgerichtsurteile klargemacht», betont Ruth Hagen. Dies bestätigte das BAG 2022 in einem Schreiben an Spitex Schweiz. Die Urteile hätten «den gleichen Anspruch psychisch erkrankter Personen auf spitalexterne Krankenpflege wie für Personen mit physischen Krankheiten» anerkannt. In der KLV aufgelistete psychiatriepflegerische Leistungen müssten darum prinzipiell vergütet werden, sofern eine ärztliche Verordnung vorliegt. Die Versicherer haben gemäss BAG zum Beispiel nicht das Recht, die Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit (WZW-Kriterien) einer psychiatriepflegerischen Leistung grundsätzlich – statt bei einem Einzelfall – infrage zu stellen. Hierfür müssten die Versicherer beim BAG einen Antrag auf eine «Umstrittenheitsabklärung der Leistung» stellen.

Eine Diskriminierung der Psychiatriepflege gegenüber der somatischen Pflege darf es nicht geben. Das haben mehrere Bundesgerichtsurteile klargestellt.

Ruth Hagen

Wissenschaftliche Mitarbeiterin Spitex Schweiz

Wie lassen sich psychiatrische Therapie und Pflege unterscheiden?
Ein weiteres Problem der Verrechnung ist gemäss Ruth Hagen, dass Krankenversicherungen eine Spitex-Leistung oft nicht bezahlen, weil sie diese als Therapie statt als Pflege einstufen. «Natürlich sind die Methodenkoffer der Spitex mit verschiedenen Kompetenzen gefüllt, die auch im therapeutischen Setting eingesetzt werden, zum Beispiel mit Gesprächskompetenzen wie dem ‹Motivational Interviewing›», sagt Esther Indermaur hierzu. Die Psychiatriepflege verfolge damit aber ein anderes Ziel als therapeutische Fachpersonen, welche auf die Diagnose und damit auf die Ursprünge aller Symptome fokussieren. «Wir Pflegefachpersonen arbeiten hingegen vor allem an den Auswirkungen der Krankheit auf den Alltag der Betroffenen», erklärt sie. «Wir arbeiten daran, dass die Betroffenen trotz Krankheit wieder selbstständig funktionieren können und ihren Alltag als sinnhaft, zufriedenstellend und sicher erleben.» Zum Beispiel könnten Spitex-Mitarbeitende mit einem Klienten daran arbeiten, dass er trotz den Stimmen in seinem Kopf wieder schlafen kann; oder mit einer Klientin mit Abhängigkeitserkrankung daran, dass sie wieder die Kontrolle über ihren Tagesablauf gewinnt. «Natürlich überlappt sich die Arbeit von Pflege und therapeutischen Fachpersonen zeitweise», räumt Esther Indermaur ein. «Umso wichtiger ist es, dass die Kooperation aller psychiatrischen Leistungserbringer eng ist und angemessen finanziert wird.» Schliesslich wünscht sich Esther Indermaur noch zwei Anpassungen hinsichtlich der Verrechenbarkeit der Psychiatriepflege: «Auch Gruppenangebote müssen künftig unter die psychiatrischen KLV-Leistungen fallen, denn die Wirkung dieser Angebote ist durch Studien belegt», sagt sie. «Und wenn die psychisch kranken Klientinnen und Klienten in einer stationären Einrichtung untergebracht sind, sollte die Spitex ihre Gespräche mit ihnen auch dort weiterführen und verrechnen können. Sonst ist die sorgfältig aufgebaute Vertrauensbeziehung bedroht.»

Was sind die besonderen Herausforderungen der Kinder- und Jugendpsychiatriepflege?
Die psychiatrische Pflege von Kindern und Jugendlichen bringe besondere Herausforderungen mit sich, sagt Esther Indermaur. Der Einbezug und die Betreuung des Familiensystems seien hier besonders wichtig. Hinzu kämen neue Themen wie Erziehungsthematiken, die Hirnentwicklung und Medikation von Heranwachsenden oder die Schnittstelle zur Sozialpädagogik. «Jede Spitex-Organisation muss gut reflektieren, ob sie die Kompetenzen und Ressourcen hat, um psychiatrische Pflege für alle Kinder und Jugendlichen anbieten zu können – oder eben nicht oder nur für eine bestimmte Auswahl an Altersgruppen oder Diagnosen», sagt die Pflegeexpertin.

Bei 84 Klientinnen und Klienten von 4 bis 18 Jahren, deren Daten mit interRAI CMHSchweiz erfasst wurden, sind die Diagnosen Autismus/Asperger mit 63 % und AD(H)S mit 18 % besonders häufig. «Die Kinderspitex-Organisationen pflegen viele Kinder und Jugendliche, die an Geburtsgebrechen leiden», bestätigt Ruth Hagen. «Die Anfrage nach Psychiatriepflege für Diagnosen wie Essstörungen, Angststörungen oder Depressionen steigt aber laufend. Auch, weil zunehmend teilstationäre und stationäre Angebote in diesem Bereich geschlossen werden.» Viele Spitex-Organisationen und insbesondere Kinderspitex-Organisationen wollten darum ein psychiatrisches Angebot einführen oder ausbauen – sie fänden aber häufig nicht ausreichend pädiatrisch und psychiatrisch ausgebildetes Fachpersonal (vgl. auch «Spitex Magazin» 1/2023). Zudem ist die Finanzierung solcher Angebote besonders mangelhaft, wie Ruth Hagen und Esther Indermaur betonen. Zum Beispiel würden die erzieherischen Leistungen der Pflegefachpersonen oder ihre intensive Arbeit mit dem Familiensystem oft unzureichend von den Krankenkassen finanziert.

Um an dieser Ausgangslage etwas zu ändern, müsse das Verständnis mancher Versicherer für die psychiatriepflegerischen Leistungen der Spitex und Kinderspitex verbessert werden, sagt Ruth Hagen. Derzeit erarbeitet der Verband Kinder-Spitex Schweiz, der ein Mitglied von Spitex Schweiz ist, ein Grundlagenpapier zu den kinder- und jugendpsychiatrischen Leistungen der Spitex. «Auf dessen Basis wird Spitex Schweiz zusammen mit Vertreterinnen des Verbands Kinder-Spitex Schweiz ein Treffen mit Controllern der Versicherer-Verbände durchführen und hoffentlich das gegenseitige Verständnis verbessern», erklärt Ruth Hagen. Gemeinsam mit dem Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner (SBK) wolle Spitex Schweiz bald denselben Weg in Bezug auf die Psychiatriepflege für Erwachsene einschlagen. «Die Controller der Versicherer haben uns signalisiert, dass sie die Notwendigkeit eines solchen Austausches erkannt haben und dazu bereit sind.»

Warum ist die Zulassung zur Bedarfsabklärung eine Herausforderung?
Die KLV legt fest, dass nur diplomierte Pflegefachpersonen mit zweijähriger Berufserfahrung im psychiatrischen Bereich für die Bedarfsabklärung in der Psychiatriepflege zugelassen werden. Derzeit wird diese Zulassung insbesondere von der Geschäftsstelle «BEPSY» von santésuisse geprüft. «Leider umfasst diese Prüfung aber weit mehr, als es das Gesetz verlangt. Beispielsweise werden Anstellungen unter 50 Stellenprozent oder Weiterbildungen nicht als Teil der zweijährigen Berufserfahrung anerkannt», kritisiert Ruth Hagen. Esther Indermaur ist Mitglied der Psychiatrie-Kommission des SBK, die sich für eine einfachere Zulassungsprüfung einsetzt. Curacasa, der Fachverband für freiberufliche Pflegefachpersonen des SBK, hat zudem eine eigene Prüfungsstelle gegründet: APsy. «Angesichts des grossen Bedarfs nach psychiatrischem Fachpersonal bei der Spitex müssen wir diese unnötige und aufwendige Hürde unbedingt abbauen», fordert Esther Indermaur. «Spitex Schweiz wird zudem an den Bund gelangen, um zu klären, ob es überhaupt in der Kompetenz der Versicherer liegt, die Zulassung von Spitex-Personal zu prüfen», fügt Ruth Hagen an. 6

Wir Pflegefachpersonen arbeiten vor allem an den Auswirkungen der Krankheit auf den Alltag der Betroffenen.

Esther Indermaur

Leitung Spitex Thurvita

Was sind Ausschlusskriterien für das psychiatrische Spitex-Angebot?
Ein Ausschlusskriterium für die Psychiatriepflege der Spitex ist laut Esther Indermaur, wenn eine Person nicht ausreichend Verantwortung für sich selbst übernehmen kann. «Liegt eine akute Selbst- oder Fremdgefährdung vor, muss die Spitex einen Fall ablehnen», sagt sie. Und stelle sich die Gefährdung neu ein, müsse die Spitex die KESB oder eine zuständige psychiatrische Fachperson informieren. Aussenstehende dürften denken, dass Suizidgedanken eine solche akute Selbstgefährdung sind. «Das stimmt nicht immer», widerspricht Esther Indermaur. «Die Frage ist hier, wie handlungsrelevant diese Gedanken sind und ob die Betroffenen bei einem handlungsnahen Suizidplan Hilfe anfordern können.» In Fällen von Suizidalität sollte die Spitex jedoch immer externe Fachpersonen einbeziehen, um die Einschätzung der Suizidalität nicht allein zu tragen (vgl. Bericht über ASSIP und SERO).

Manche Spitex-Organisationen listen auf ihrer Website auch fehlende Kooperation und Absprachefähigkeit als Ausschlusskriterien auf. «Vor allem zu Beginn kann es gut sein, dass die Spitex bei der Mehrheit der geplanten Besuche nicht in die Wohnung einer psychisch kranken Person gelassen wird. Und die Krankenkassen finanzieren die vergeblichen Versuche nicht. Damit die Spitex solche Fälle übernehmen kann, muss der Restfinanzierer hier einspringen», erklärt Esther Indermaur. Ein ­weiteres Ausschlusskriterium ist schliesslich, dass die Spitex laut dem Bundesgericht 7 nur Psychiatriepflege verrechnen darf, wenn eine aktuelle psychiatrische Diagnose vorliegt. «Leider reicht die Diagnose einer Hausärztin oder eines Hausarztes also nicht für eine Überweisung an die Spitex. Die Wartezeiten von psychiatrischen Fachpersonen können nun aber sehr lang sein, und der Gang zum Psychiater stellt für viele Menschen eine grosse Hürde dar», gibt Ruth Hagen zu bedenken. «Die Psychiatriepflege der Spitex sollte besser für präventive Leistungen bezahlt werden», fordert Esther Indermaur. Einsamkeit sei zum Beispiel keine F-Diagnose, also keine psychische Krankheit gemäss der internationalen Klassifikation der Krankheiten ICD (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems). Die Psychiatriepflege könnte aber viel für einsame Menschen ausrichten. «Die Förderung der sozialen Teilhabe im Sinne von gemeinsamen Aktivitäten wird von einsamen Menschen kurzfristig oft als hilfreich erlebt und muss nicht in jedem Fall von einer Fachperson durchgeführt werden», räumt sie ein. «Für einsame Menschen langfristig wirksam sind aber Veränderungen der sozial-kognitiven Überzeugungen – und um diese zu ­erreichen, braucht es spezifisches Fachwissen.» 

Wie funktioniert das Zusammenspiel mit ambulanten Angeboten von stationären Leistungserbringern? 
In der Psychiatrie ist die enge Kooperation auf Augenhöhe zwischen der Spitex und stationären Leistungserbringern äusserst wichtig – insbesondere an den heiklen Übergängen (vgl. auch Bericht zur poststationären Übergangsbehandlung). Analog zum Trend «Hospital at Home» in der somatischen Pflege (vgl. «Spitex Magazin» 3/2023) werden diese stationären Leistungsanbieter nun aber zunehmend in der psychiatrischen Versorgung zu Hause tätig. Genauer bieten sie eine «stationsäquivalente» Akutversorgung im vertrauten Umfeld der Betroffenen an. Ermöglicht wird diese durch häufige Hausbesuche der pflegerischen und therapeutischen Fachpersonen der Klinik sowie durch deren ­Erreichbarkeit rund um die Uhr. Beispiele hierfür sind «Home Treatment» in Zürich oder die «Psychiatrische Akutbehandlung zu Hause» in Luzern und Bern. Laut der «Schweizerischen Ärztezeitung» hat sich bei den meisten etablierten Home-Treatment-Angeboten eine ­Finanzierung über Tagespauschalen durchgesetzt 8. Ruth Hagen befürwortet diese Akutversorgung zu Hause prinzipiell. «Im Sinne einer guten integrierten Versorgung braucht es dabei aber immer eine gute Zusammenarbeit und Absprache mit der Spitex», fordert sie. Laut Esther Indermaur muss das «Home Treatment» zudem immer einen Plan umfassen, «wie Patientinnen und Patienten begleitet werden, wenn die intensive Versorgung rund um die Uhr aufhört und zum Beispiel in die wöchentlichen Besuche der Spitex übergeht». 

Zudem müssen die Versicherer laut Ruth Hagen darauf achten, dass sie die Leistungserbringer bei gleichen Leistungen auch gleich behandeln. «Es darf nicht sein, dass die psychiatrischen Pflegefachpersonen von stationären Anbietern problemlos Stundenpauschalen für Leistungen erhalten, während die Spitex die gleichen Leistungen detailliert auflisten und rechtfertigen muss», sagt sie.

Ganz um psychiatrie pflegerisches Fachwissen herumkommen wird künftig keine Spitex-­Organisation.

Esther Indermaur

Leitung Spitex Thurvita

Kann die Spitex auf Psychiatriepflege verzichten?
In der Fachliteratur ist man sich einig, dass die Nachfrage nach ambulanten psychiatrischen Leistungen weiter ansteigen wird. Deswegen seien innovative Ansätze wie Tele-Konsultationen genauso gefragt wie weitere Anbieter. «Die Spitex ist eine zentrale Akteurin der ambulanten Gesundheitsversorgung. Darum muss sie an der Bewältigung dieser zentralen und wachsenden Herausforderung mitwirken», fordert Ruth Hagen. Nicht jede Spitex-Organisation müsse aber selbst ein Psychiatrie-Team aufbauen – sie könne auch eine Kooperation im psychiatrischen Netzwerk der Region eingehen. So schliessen vor allem kleinere Spitex-Organisationen häufig Leistungsverträge mit einer anderen ambulanten oder stationären Organisation ab, welche die psychiatrischen Leistungen für sie ausführt (vgl. Bericht). «Ganz um psychiatriepflegerisches Fachwissen herumkommen wird aber keine Spitex-Organisation», wirft Esther Indermaur ein. Denn gemäss der Spitex-Studie von 2002 haben 43 Prozent der Klientinnen und Klienten der somatischen Pflege auch eine psychische Erkrankung. Neuere Zahlen zu diesem Thema werden vorliegen, wenn Esther Indermaur ihre Doktorarbeit veröffentlicht. 9 «Damit eine Spitex-Organisation diese Menschen qualitativ hochstehend pflegen und unterstützen kann, muss sie auf psychiatrisches Fachwissen im eigenen Betrieb zurückgreifen können», ist sie überzeugt. 

Was sind die Freuden der Psychiatriepflege bei der Spitex?
Trotz aller Herausforderungen überwiegen die Freuden der Spitex-Psychiatriepflege laut Ruth Hagen und Esther Indermaur bei Weitem. «Psychiatrische Pflegefachpersonen können bei der Spitex sehr selbstständig arbeiten und Menschen mit psychischen Erkrankungen das Leben zu Hause ermöglichen», sagt Ruth Hagen. «Zudem können die Fachpersonen bei der Spitex lange, wertvolle Beziehungen zu ihren Klientinnen und Klienten aufbauen und mit ihnen eng zusammenarbeiten», fügt Esther Indermaur an. «Und sie können sich mit ihnen gemeinsam über Erfolgserlebnisse freuen. Für eine psychiatrische Pflegefachperson ist es zum Beispiel äusserst befriedigend, wenn eine Klientin oder ein Klient eines Tages zu ihr sagen kann: Ich brauche Sie nun nicht mehr.»

1Die Studie wurde 2002 bei 23 Spitex-Organisationen durchgeführt. Vgl. z.B. «Psychiatrische Probleme bei SpitexklientInnen» von Regula Lüthi und Christoph Abderhalden in «Managed Care» 5/2004.

2Vgl. OBSAN-Bulletin 1/2023.

3Eine genauere Auflistung der A-, B- und C-Leistungen findet sich in der KLV sowie im Leistungskatalog von Spitex Schweiz unter www.spitex-bedarfsabklaerung.ch/Bedarfsabklaerung/Zusatzformulare/Leistungskatalog

4Bezugspflege bedeutet, dass die Pflege einer Klientin oder eines Klienten durch eine Pflegefachperson oder durch eine stark begrenzte Zahl an Pflegefachpersonen durchgeführt wird statt durch viele, sich abwechselnde Mitarbeitende.

5Tertiärausbildung bedeutet in der Psychiatriepflege mindestens ein abgeschlossenen HF-Studium – mit Fachrichtung Psychiatrie oder mit anschliessender Weiterbildung, etwa einem CAS in Psychiatriepflege.

6Das «Spitex Magazin» wird zu einem späteren Zeitpunkt genauer über die Entwicklungen rund um das Thema Bedarfsabklärung in der Psychiatrie berichten.

7Das Bundesgerichtsurteil legte 2020 legt fest: «Für die Anordnung von Massnahmen der ambulanten (psychiatrischen) Krankenpflege ist eine überprüfbare zuverlässige Grundlage in Form einer nachvollziehbaren aktuellen psychiatrischen Statuserhebung und Diagnosestellung erforderlich.» Das Bundesgericht behandelte den Fall einer Spitex-Klientin, welche sich vor über 10 Jahren letztmals in ambulante psychiatrische Behandlung begeben hatte. Die alte Diagnose sei keine ausreichende Grundlage für eine Verordnung durch den Hausarzt.

8Vgl. Bericht «Home Treatment – Krisenintervention zu Hause», «Schweizerische Ärztezeitung» 2023, 104 (10).

9Gemeinsam mit Azra Karabegovic von Spitex Zürich arbeitet Esther Indermaur derzeit an ihrer Doktorarbeit an der Universität Liechtenstein zum Thema psychische Gesundheit von Spitex-Klientinnen und -Klienten. Spätestens im Sommer 2024 soll die Doktorarbeit vorliegen. Bereits verfügbar ist das Fachbuch «Recoveryorientierte Pflege bei Suchterkrankungen» von Esther Indermaur, erschienen 2016 im Psychiatrie Verlag.

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