Die Selbstpflege stärken, bevor es professionelle Pflege braucht

Dank Früherkennung und mit gezielten Mass­nahmen will die «Gesundheitsberatung Daheim» der Spitex Stadt Winterthur älteren und chronisch kranken Menschen ermöglichen, länger selbstständig im eigenen Zuhause zu leben.

Im Gespräch entwickelt Sonja Bächi mit ihren Klientinnen und Klienten Lösungen für das Leben zu Hause. Bild: Alter und Pflege, Stadt Winterthur

MARTINA KLEINSORG. «Durch das frühzeitige Erkennen körperlicher Veränderungen und das Besprechen möglicher und sinnvoller Schritte unterstützen wir Menschen in ihrem Wunsch, daheim selbstständig zu leben – unabhängig von Alter und Gesundheit», sagt Sonja Bächi, Gesundheitsberaterin der Spitex Stadt Winterthur. In einem 50-Prozent-Pensum verantwortet die Pflegefachfrau mit Mastertiteln in Pflegewissenschaft und gerontologischer Pflege das nach einer zweijährigen Pilotphase im Herbst 2021 in den Regelbetrieb überführte und gegenüber Partnerorganisationen und der Öffentlichkeit breit kommunizierte Angebot «Gesundheitsberatung Daheim». Älteren und chronisch erkrankten Einwohnenden soll ein höheres Mass an Selbstbestimmung in Gesundheitsfragen ermöglicht und ihre Selbstpflege gestärkt werden, bevor institutionalisierte Pflege in Anspruch genommen werden muss.

Die Zuweisung erfolgt zu rund 75 Prozent durch die Spitex-Hauswirtschaft. Sie arbeite eng mit den Teamleitungen der Hauswirtschaft zusammen und biete Coaching sowie fachliche Unterstützung an, bestätigt Sonja Bächi. Zum Beispiel sensibilisiert eine Checkliste die Mitarbeitenden für schleichende negative gesundheitliche oder soziale Entwicklungen; entsprechende Beobachtungen werden im Verlaufsbericht vermerkt. Mit dem Einverständnis der Klientinnen und Klienten meldet die Hauswirtschafts-Teamleiterin die Situation der «Gesundheitsberatung Daheim». «Manchmal sind Veränderungen nicht eindeutig fassbar oder es ist unklar, welche Form der Unterstützung nötig ist. Auch da ist die ‹Gesundheitsberatung Daheim› die erste Anlaufstelle.» Weitere Zuweisungen erfolgen durch Betroffene, Angehörige, Spitex-Pflege, die Wohnberatung der Stadt Winterthur, die Hausärzteschaft sowie soziale Fachstellen.

«Die Herausforderung ist, jene Menschen zu erreichen, die noch gar nicht wissen, dass sie von der ‹Gesundheitsberatung Daheim› profitieren können», sagt Sonja Bächi. In einigen Städten gebe es das System, ganze Jahrgänge anzuschreiben und Fragebögen zur Gesundheit im Sinne eines Selbsttests zu versenden. In diesem Vor­gehen sieht sie grosses Potenzial, um mit präventiver Beratung noch mehr Wirkung erzeugen zu können.

Kommunikation auf Augenhöhe
In der Regel umfasst die Beratung drei Termine und beginnt mit einem umfassenden geriatrischen Assessment. Zentraler Aspekt der motivierenden Gesprächsführung ist laut Sonja Bächi der Aufbau von Vertrauen und eine Kommunikation auf Augenhöhe mit den Klienten und Klientinnen, die selbst entscheiden, ob eine vertraute Person dabei ist. Gemeinsam werden Lösungen entwickelt, welche die persönlichen Wünsche und anfangs definierten Ziele für das Leben daheim berücksichtigen. Sonja Bächi führt Rundtische mit allen involvierten Personen und übermittelt – mit Einverständnis der Klientinnen und Klienten – nach jeder Beratung der Hausärztin oder dem Hausarzt einen Kurzbericht mit ­allen relevanten Informationen.

Aus ihrer bisherigen Erfahrung kann Sonja Bächi drei Schwerpunkte des Angebots nennen: «Es besteht ein grosser Bedarf an informeller Unterstützung, wenn es beispielsweise darum geht, ein vorhandenes Betreuungsnetz zu stärken oder zu entlasten.» So fühlt sich zum Beispiel eine Tochter entlastet, seit ihre Mutter den Austausch mit einer fast gleichaltrigen freiwilligen Besucherin einmal pro Woche geniesst. Auch schreibt sich die Mutter neuerdings ihre Fragen vor dem Arztbesuch auf und will den Hausarzt nicht mehr wechseln wie vor der Gesundheitsberatung.

In der Beratung von chronisch erkrankten Klientinnen und Klienten stehe meist das Selbstmanagement im Fokus – zu lernen, Symptome und eigene Bedürfnisse wahrzunehmen und selber entscheiden und handeln zu können. Kognitive Veränderungen sind ein weiteres häufiges Thema. «Unser Ziel ist es insbesondere, Angehörige und Betroffene darin zu bestärken, Anzeichen ernst zu nehmen und mit der Hausärzteschaft darüber zu sprechen.» Vertiefte Untersuchungen und Analysen, welche die Gesundheitsberatung durchführt, helfen, subjektive Wahrnehmungen einzuordnen. Zum Beratungsspektrum zählen auch Themen wie Ernährung, der sichere Umgang mit Medikamenten, psychische Gesundheit oder Sturzprävention. Nach einer «StoppSturz»-Weiterbildung für die Hauswirtschafts-Mitarbeitenden seien die Anmeldungen sturzgefährdeter Klientinnen und Klienten bei der Gesundheitsberatung um das Dreifache gestiegen. «Jeder Sturz, der verhindert wird, vermindert das Risiko, ins Spital oder wegen Gebrechlichkeit ins Alterszentrum zu müssen. Und das hilft auch, Kosten zu sparen», betont Sonja Bächi.

Es besteht ein grosser Bedarf an informeller Unterstützung, wenn es beispielsweise darum geht, ein vorhandenes Betreuungsnetz zu stärken oder zu entlasten.

SONJA BÄCHI

Gesundheitsberaterin Spitex Stadt Winterthur

Präventives Angebot kommt an
Steigende Zahlen belegen die Beliebtheit des Angebots: Gab es 2020 immerhin rund 120 Zuweisungen, wurden 2021 bereits 265 ältere Personen, chronisch Erkrankte oder deren Angehörige kontaktiert. Die insgesamt 342 Kontakte 2022 werden im laufenden Jahr voraussichtlich noch übertroffen. Nicht auf jede telefonische Kontaktaufnahme folgt allerdings ein Hausbesuch: Bei circa einem Drittel wird keine Folgeberatung in Anspruch genommen. Insbesondere hochbetagte Männer reagierten oft ablehnend, bedauert Sonja Bächi. «Vielleicht weil sie befürchten, ihre Autonomie, selbst Entscheidungen zu treffen, würde nicht respektiert.» Frauen seien durch die Sozialisierung eher gewohnt, sich in Gesundheitsfragen eine Fachmeinung einzuholen.

Der Anteil der Leistungen der «Gesundheitsberatung Daheim», welcher den Krankenkassen in Rechnung gestellt werden kann, betrug 2022 rund 30 Prozent. Die Differenz trägt die Spitex Stadt Winterthur. «In Prävention zu investieren, lohnt sich», ist Sonja Bächi überzeugt. Das Durchschnittsalter der Klientinnen und Klienten liegt bei 82 Jahren. Es gebe jedoch auch viele Hochbetagte über 90, während unter den chronisch Kranken – etwa MS- oder Parkinson-Betroffene – auch unter 40-Jährige zu finden sind.

Ins Rollen bringen und koordinieren
Die Wartezeit für einen ersten Beratungstermin beziffert Sonja Bächi auf eine bis drei Wochen. «Es handelt sich ja nicht um Notfälle, die Situation muss einigermassen stabil sein.» Manchmal gehe es auch darum, einen Menschen in seiner letzten Lebensphase zu ermutigen, seine Lebenswünsche oder eine Patientenverfügung zu formulieren. Ihre Aufgabe sieht die 48-Jährige auch darin, etwas ins Rollen zu bringen und bei Bedarf zu koordinieren. «Die ‹Gesundheitsberatung Daheim› ist eine begleitende, vorübergehende Massnahme – das Ziel ist immer, dass der Alltag zu Hause gelingt; manchmal selbstständig und manchmal mit Unterstützung.»

→ stadt.winterthur.ch/gesundheitsberatung.daheim

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