«Der Fokus liegt immer da, wo es gerade am meisten brennt»

Kinder und Jugendliche mit psychischen Erkrankungen stellen für die Familie, das soziale Umfeld und die professionellen Helfer eine besondere Herausforderung dar. Die Stiftung Joël Kinderspitex bietet seit über zehn Jahren psychopädiatrische Pflege an.

Die Stiftung Joël Kinderspitex kümmert sich um die physische und psychische Gesundheit ihrer Klientinnen und Klienten. Themenfoto: Stiftung Joël Kinderspitex

MARTINA KLEINSORG. «Oft kommen wir erst ins Spiel, wenn die Standardangebote ausgeschöpft sind oder zu wenig Wirkung zeigen», sagt David Schmid, Experte für psychopädiatrische Pflege bei der Stiftung Joël Kinderspitex (SJK) mit Hauptsitz in Aarau. «Ein Grossteil der Kinder und Jugendlichen, die wir pflegen und betreuen, müsste sonst fremdplatziert werden. Dies nicht zuletzt, weil die Eltern an ihre Grenzen kommen.»

Damals noch freiberuflicher Pflegefachmann HF, hat der heute 43-Jährige das Angebot der psychopädiatrischen Pflege im Jahr 2010 gemeinsam mit der Stiftungsgründerin Verena Mühlemann-Burach gestartet. «Den Anlass dazu gaben anfänglich Kinder und Jugendliche, die an Duchenne Muskeldystrophie oder anderen lebensverkürzenden Erkrankungen litten und teilweise palliativ betreut wurden. Das Hauptziel bestand darin, ihnen Zeit zu geben, um über ihre schwere Situation zu sprechen, und sie in verschiedenen Themenbereichen zu unterstützen, einschliesslich des sensiblen Themas des Sterbens. Bei Pflege, die im Minutentakt abgerechnet wird, war das bislang nicht möglich.» Seither ist der Bereich der psychopädiatrischen Pflege stark ausgebaut worden. Sie wird an allen Standorten der SJK angeboten, jedoch werde sie von Kanton zu Kanton sehr unterschiedlich nachgefragt, sagt Sabina Di Giusto, die seit zehn Jahren die Region Mittelland als Regionalleiterin führt. Der starke Anstieg in den Kantonen Aargau und Solothurn seit 2017 gehe mit der engen Zusammenarbeit mit den Psychiatrischen Diensten Aargau einher. «Es hat sich bei den verschiedenen Stellen rumgesprochen, dass das, was wir leisten, ‹verhebt›.»

Autismus die häufigste Diagnose
Von den insgesamt über 360 jungen Klientinnen und Klienten der SJK sind es aktuell etwa 160, also knapp die Hälfte, welche von psychopädiatrischer Pflege profitieren, ausschliesslich oder ergänzend zur somatischen Pflege. Mit rund 70 Prozent ist Autismus, oft in Verbindung mit ADHS, die häufigste Diagnose, gefolgt von Trisomie 21 mit 15 Prozent. «Mit wechselndem Anteil folgen Wahrnehmungsstörungen, während Corona gab es vermehrt Teenager mit Depressionen, immer häufiger sind auch jüngere Kinder von Anorexie betroffen, und ab und zu betreuen wir Schulverweigerer sowie Heranwachsende mit dem Borderline-Syndrom», zählt Sabina Di Giusto auf. 

Da es sich meist um punktuelle Einsätze handle, benötige die psychopädiatrische Pflege weniger Personalressourcen als jene für Kinder mit schwerer somatischer Grunderkrankung. «Wenn es gut läuft, haben wir zwei Einsätze à 2,5 Stunden pro Woche. Die Krankenkassen sprechen maximal fünf Stunden pro Woche gut.» Sind darüber hinaus Einsätze nötig, werden diese über Spendengelder finanziert, zudem könne ein Kriseninterventionsgesuch für drei Monate an die Krankenkasse gestellt werden. Nicht immer werden Leistungen jedoch übernommen, und manchmal werden nach erzielten Fortschritten die Stunden gekürzt. Je jünger das Kind, desto schwieriger sei die Leistungsübernahme, weiss Sabina Di Giusto. «Grundsätzlich zeigen sich Krankenkassen aber offen, wir müssen einfach mit ihnen ins Gespräch gehen.» 

Für David Schmid ist klar: «Durch frühzeitiges Eingreifen und individuelle Interventionen besteht die Möglichkeit, psychische Probleme zu mildern oder zu verhindern. Denn negative Erfahrungen und Prägungen aus der Kindheit und Jugend begleiten die Betroffenen bis ins Erwachsenenalter. Den ‹Zug früh wieder zurück auf die Schienen zu bringen›, ist für die Gesellschaft sowohl finanziell als auch emotional sehr wertvoll.»  Die Bezugspflege ist der SJK wichtig: In der psychopädiatrischen Pflege bilden jeweils zwei Pflegefachpersonen ein Team, sodass sich Klientinnen und Klienten nicht laufend auf jemand Neues einlassen müssen. 

Jede Altersstufe bringt neue Herausforderungen mit sich.

Sabina Di Giusto

Regionalleiterin Stiftung Joël Kinderspitex

Individuelles Abklärungsraster
Die Zuweisung erfolgt nach einer psychiatrischen Diagnose durch Psychiatrien oder Kinderärztinnen und ­Kinderärzte. Die Bedarfsabklärung findet daraufhin zu Hause statt. Je nach Kommunikationsfähigkeit oder -bereitschaft des Kindes spreche er dabei viel mit den Eltern, sagt David Schmid. «Spielt das Kind, versuche ich zudem einfühlsam auf dieses einzugehen und beachte dessen Interaktionen mit mir und der Umwelt, um daraus Informationen zu gewinnen.» Zwar nutze er zur Bedarfsabklärung InterRAI-Instrumente, doch weil diese nicht auf Kinder bezogen seien, deckten sie nicht alle Bereiche ab. David Schmid stellt daher vorab ein Abklärungsraster zusammen, um die psychischen Funktionen, Aktivitäten im Alltag, Problemverhalten und ­einiges mehr zu beleuchten: «So bekomme ich schnell ein klares Bild.» 

Welche psychopädiatrischen pflegerischen Massnahmen zum Einsatz kommen, sei von vielen Faktoren abhängig, angefangen bei Alter und Entwicklungsstand, sagt Sabina Di Giusto. Geht das Kind in den Kindergarten oder zur Schule, integrativ oder heilpädagogisch? Braucht es Unterstützung bei Verrichtungen des täglichen Lebens, müssen daheim Strukturen erarbeitet werden, wie ist es verbal und nonverbal unterwegs, braucht es Hilfsmittel zur Kommunikation, etwa Piktogramme oder einen Sprachcomputer? Bei autistischen Kindern gehe es vor allem darum, zu lernen, sich mitzuteilen, Bedürfnisse zu formulieren, Emotionen bei sich und anderen wahrzunehmen und einzuordnen. «Dass sie innere und äussere Konflikte nicht besprechen können, ist das grösste Problem», weiss David Schmid. 

Es gelte Strategien zu entwickeln, um Impulsdurchbrüche zu verhindern, Gefühle zu kanalisieren und Konflikte konstruktiv und ohne Aggressionen auszuagieren. «Dafür braucht es zunächst ganz viel Arbeit in der Wahrnehmung und Kommunikation.» 

Die Kunst, den Zugang zu finden
Die ersten sechs bis acht Einsätze dienen dem Beziehungsaufbau, dem gegenseitigen Kennenlernen. «Die Kunst ist es, den Zugang zu finden und das Vertrauen aufzubauen. Wenn man das schafft, lassen sich schnell Verhaltensänderungen erzielen», sagt David Schmid. Die erste Teamsitzung, um die Situation nach dem Kennenlernen zu erfassen, findet nach vier Wochen bei den Familien zu Hause statt. Nach sechs Monaten erfolgt eine umfangreiche Evaluation der Massnahmen, die zudem laufend verfeinert und Nahziele allenfalls angepasst werden. «Ein Ziel ist immer im Vordergrund – denn das Problem dort zu lösen, wo es gerade am meisten brennt, entlastet die Familie», weiss Sabina Di Giusto. Als Klassiker nennt die 42-Jährige die Sommerferien, welche den Verlust der gewohnten Strukturen bedeuten, in denen man sich anschliessend wieder zurechtfinden muss. «Das ist schon für ‹normale› Kinder eine Herausforderung. Doch unsere Mitarbeitenden wissen, wo sie ansetzen müssen, und sind nach den Ferien schnell wieder auf dem gemeinsam erarbeiteten Stand.»

Der interprofessionelle Austausch gehöre zum Standard, je nach Situation mehr oder weniger eng. Doch macht es laut David Schmid ebenso Sinn, weitere Bezugspersonen wie Geschwister, Grosseltern, Nachbarn oder Peergroups einzubeziehen und über die (vorübergehenden) Besonderheiten der Klientinnen und Klienten aufzuklären. Dass alle am gleichen Strang ziehen, setze Verständnis voraus. «Für Kinder, die eine öffentliche Schule besuchen, ist es wichtig, dort einen persönlichen Schutzraum zu schaffen, wo sie Positives erfahren, statt Stress zu erleben – damit die Resilienz, die wir gemeinsam aufgebaut haben, nicht wieder abhanden-kommt», betont David Schmid. Ebenso müsse dem Kind zu Hause bedingungslose Akzeptanz, Wertschätzung, Empathie sowie eine zuversichtliche und wohlwollende Haltung entgegengebracht werden. «Wenn die Eltern nicht mitarbeiten, fängt man bei jedem Einsatz wieder bei null an.» Damit kommt David Schmid auf einen wichtigen Unterschied zur Erwachsenenpsychiatrie zu sprechen: Kritische Lebensereignisse wie Einschulung oder Pubertät können zu Instabilitäten und Dekompensationen führen: Bei Kindern und Jugendlichen sei oft schwer zu unterscheiden, ob Auffälligkeiten krankheits-, erziehungs- oder gesellschaftsbedingt sind. Ein Vorteil hingegen liege in ihrer vergleichsweise kurzen Biografie: «Man kann rasch die Schwachstellen identifizieren und gezielte Unterstützung anbieten». 

Durch frühzeitiges Eingreifen und individuelle Interventionen besteht die Möglichkeit, psychische Probleme zu mildern oder zu verhindern.

David Schmid

Stiftung Joël Kinderspitex

Jahrelange Betreuung ist die Regel
Während Schulverweigerer die wenigsten Einsätze benötigen, werden Kinder mit Autismus in der Regel über Jahre betreut. «Jede Altersstufe bringt dabei neue Herausforderungen mit sich», sagt Sabina Di Giusto. Die Betreuung sei meist abgeschlossen, wenn klar sei, wie es nach der Schulzeit weitergeht – in der Regel führe der weitere Weg in eine Institution oder ein Atelier. Duchenne-Patienten, die mit dem Wissen leben, dass sie im Schnitt nur 25 bis 30 Jahre alt werden, könne man bis zum Lebensende begleiten. «Da wir eine private Organisation sind, müssen wir Patienten nicht mit 18 Jahren abgeben. Das ist wertvoll für die Klientinnen und Klienten und ihre Angehörigen.»

Die psychopädiatrischen Fachpersonen der SJK würden ein Kind schon einmal auf einer Schulreise begleiten oder mit ihm einen Kinderumzug besuchen, berichtet Sabina Di Giusto. So lerne das Kind, solche Anlässe zu geniessen und nicht mehr als Stressfaktor zu betrachten. «Unser Grundgedanke ist, dass diese Kinder genau das Gleiche erleben dürfen wie alle anderen auch», sagt sie – und fügt abschliessend an, dass nichts mehr motiviere als Erfolgserlebnisse: «Fortschritte, die man über die Zeit sieht und die auch vom Umfeld ­erkannt werden, machen Freude und spornen an, weiterzumachen.»

Die Stiftung Joël Kinderspitex

Die Stiftung Joël Kinderspitex mit Hauptsitz in Aarau AG wurde 1990 von Verena Mühlemann-Burach gegründet und nach ihrem an Leukämie verstorbenen Sohn benannt. Rund 270 Mitarbeitende betreuen über 360 Kinder und Jugendliche mit schwerer Krankheit oder Beeinträchtigung in allen Kantonen der Deutschschweiz, in Teilen der Romandie und im Fürstentum Liechtenstein. Seit September 2022 ist die gemeinnützige Stiftung Mitglied von Spitex Schweiz.

www.joel-kinderspitex.ch

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