Dank Sensoren länger selbstbestimmt zu Hause leben
Wie digitale Technologie die Arbeit der Spitex unterstützen kann, zeigt das Beispiel eines sensorbasierten Präventionssystems des emeritierten Kardiologie-Professors Hugo Saner: Intelligente Software warnt, bevor es zu einem Notfall kommt.
MARTINA KLEINSORG. Möglichst lange selbstständig und sicher im eigenen Zuhause wohnen bleiben zu können, ist der Wunsch vieler Seniorinnen und Senioren. Auf dieses Ziel fokussiert sich auch die 2019 von Hugo Saner gegründete, nicht profitorientierte Organisation «StrongAge»: Sie fördert moderne Technologien, die der Selbstständigkeit im Alter dienen und zur Lebensqualität beitragen. «Sag mir, wie du dich bewegst, und ich sage dir, wer du bist», lautet das Motto des 74-jährigen emeritierten Professors an der Universität Bern und früheren leitenden Kardiologen am Berner Inselspital. «Die Bewegung war für mich immer zentral», sagt er. Sie steht auch im Fokus jenes Projektes, das nach zwölfjähriger Forschung und erfolgreichem Testbetrieb nun den Schweizer Gesundheitsmarkt erobern soll: Ein auf kontaktlosen Sensoren basierendes Sicherheits- und Präventionssystem für ältere Menschen. Das Aufzeichnen von Bewegungsmustern soll dabei helfen, gesundheitliche Probleme wie Altersdepression, Sturzgefahr oder kognitive Einschränkungen ebenso frühzeitig zu erkennen wie chronische oder akute Erkrankungen von Herzinsuffizienz bis zur COVID-19-Infektion. Entwickelt hat Hugo Saner das System gemeinsam mit «DomoHealth», einem Unternehmen aus Lausanne, das auch die zugrundeliegende intelligente Software Domo Care entwickelt hat. Über 200 Senioren und Seniorinnen nutzen das System schweizweit. In seinem Heimatkanton Solothurn hat der Oltner gemeinsam mit «StrongAge»-Projektleiterin und Pflegewissenschaftlerin Dr. Marianne Frech die Aufgabe übernommen, die Einführung und Bekanntmachung mit Vorträgen und Schulungen zu unterstützen. Im März 2022 haben sie den Geschäftsleitenden der Solothurner Spitex-Organisationen das System vorstellen dürfen, das auf grosses Interesse gestossen sei. Zudem finanziert der Kanton bis Mitte nächsten Jahres 50 Systeme für bedürftige Personen.
«Die Privatsphäre bleibt gewahrt»
Das System verwendet einfache Infrarot-Bewegungsmelder, wie man sie zur Steuerung von Lampen im Eingangsbereich kennt. Diese werden in allen bewohnten Räumen der Wohnung mit Doppelklebeband installiert. Komplettiert wird es mit Kontakten an der Haustür und am Kühlschrank sowie einem Bett-Sensor unter der Matratze, welcher Herzund Atemfrequenz sowie die Schlafqualität aufzeichnet. Verbunden mit einer Basisstation (analog zu herkömmlichen Notrufsystemen) werden die registrierten Bewegungssignale und Vitalfunktionen an den zentralen Server weitergeleitet, dort verschlüsselt und anonymisiert und von der Software ausgewertet. «Es gibt weder Mikrofon noch Kamera, die Privatsphäre bleibt völlig gewahrt», versichert Hugo Saner. Zudem kämen höchste Standards für die Sicherheit medizinischer Daten zur Anwendung. Verzeichnet das System Verhaltensänderungen, sendet es Präventionsmeldungen auf die App der jeweiligen Betreuungs- oder Pflegefachpersonen. Und es setzt bei allfälligen Stürzen oder gravierenden Abweichungen der normalen Vitalfunktionen über einen Alarm an die 24/7-Notfallzentrale den notwendigen Hilfeprozess in Gang. Damit soll es auch die Angehörigen entlasten. «Das Wichtigste an dem System ist, dass es passiv ist. Das bedeutet: Die Nutzenden selbst müssen nichts tun», sagt Hugo Saner. Das System erkenne schwerwiegende gesundheitliche Probleme häufig, bevor der oder die Betreffende diese realisiere. Damit sei es dem Notfallknopf deutlich überlegen. Allzu oft sei dieser im Fall eines Sturzes nicht greifbar, es werde vergessen, ihn zu drücken, oder der Sturz verunmögliche die Bedienung. Als ergänzendes Element habe der Notfallknopf jedoch eine wichtige Funktion, fügt der Mediziner an. Ein weiteres Merkmal des Systems sei seine hochgradige Individualisierung. «Man bekommt nicht einfach ein Programm übergestülpt», sagt Projektleiterin Marianne Frech, die derzeit eine Kohorte von 20 Senioren und Seniorinnen im Solothurnischen betreut. Zunächst werde während einer zweiwöchigen Probephase ein Bewegungsprofil der gewohnten täglichen Abläufe und das durchschnittliche Schlafverhalten ermittelt. Auf dieser Basis legen die Nutzenden gemeinsam mit der betreuenden Fachperson – bei der Spitex wäre dies der oder die Fallführende – die individuell zugeschnittene Konfigurierung fest, nach der das System arbeiten soll. «Schläft die Person normalerweise bis 6 Uhr, frage ich nach, wann es einen Alarm geben soll – vielleicht hat es ein Ereignis gegeben, das es ihr verunmöglicht aufzustehen, wie etwa einen Hirninfarkt», nennt Marianne Frech ein Beispiel. Wichtig sei auch, dass die Nutzenden selbst definieren, wer Zugriff auf die Daten erhält oder im Notfall informiert wird: die Spitex, Angehörige, Hausarzt respektive Hausärztin oder die Notrufzentrale.
Das System erkennt schwerwiegende gesundheitliche Probleme häufig, bevor der oder die Betreffende diese realisiert.
Hugo Saner
StrongAge
Eingreifen, bevor Situationen eskalieren
Die App informiert die jeweiligen Kontakte über Aktivitäten und Gesundheitsdaten sowie den letzten Aufenthaltsort. Eine Chatfunktion ermöglicht die Kommunikation untereinander. «Wir sind manchmal im Dilemma zu sagen, was das System alles kann – die Seniorinnen und Senioren haben ja sowieso schon Angst, man wisse zu viel von ihnen», räumt Hugo Saner ein. Welchen Wert Präventivmeldungen haben, macht Marianne Frech an konkreten Beispielen deutlich: So werde sie informiert, wenn die Bewegungen einer Person an mehreren aufeinanderfolgenden Tagen reduziert waren oder die Person ihren Kühlschrank deutlich anders nutzt als bisher. Während das eine mit nachlassender Kraft und einer erhöhten Sturzgefahr einhergehen könne, deute das andere möglicherweise auf eine Verwirrung hin. «Wir können eingreifen, bevor Situationen eskalieren», erklärt sie. Etwa, indem direkt das Gespräch mit den Klientinnen und Klienten per Telefon gesucht oder die nächste Beratungssequenz gezielt zur Klärung genutzt werde. Eine digitale Detailansicht zeigt alle Messdaten im täglichen Verlauf und kann weiteren Aufschluss über etwaige Unregelmässigkeiten geben. Gerade durch die kombinierte Betrachtung von Bewegungsdaten und Vitalfunktionen liessen sich Krankheiten im Voraus erkennen, erklärt Hugo Saner. So haben Meldungen der Domo Care App über ungezielte Bewegungen, nächtliches Herumirren und heftigeres Atmen Hinweise auf eine COVID-19-Dekompensation gegeben. Auch seien Fälle von Herzinsuffizienz entdeckt worden aufgrund reduzierter Bewegung, hoher Atem- und Pulsfrequenz und vermehrter nächtlicher Toilettenbesuche. «Das Sensorsystem ist wissenschaftlich fundiert, sein Erfolg wird bisher von zwölf international publizierten Studien belegt», sagt Hugo Saner, der gemeinsam mit dem Berner Professor für Gerontotechnologie und Rehabilitation Tobias Nef ein interdisziplinäres Forschungsteam leitet. Grundlage sind 1268 Gesundheitsmesswerte, die während eines einjährigen Testbetriebes des Systems ab 2018 erhoben wurden, an dem 24 Senioren und Seniorinnen aus Olten und dem Kanton Neuenburg mit einem Durchschnittsalter von 88 Jahren teilnahmen. Finanziert wurde das rund 1,2 Millionen Franken teure Projekt mit Unterstützung von Innosuisse, der Agentur für Innovationsförderung, welche den Wissenstransfer aus der Forschung in die Wirtschaft fördert.
Die Vorteile aus Spitex-Sicht
Die Spitex Thierstein/Dorneckberg (SO) bietet das Sensorsystem seit einigen Monaten an und hat ihre Klienten und Klientinnen darüber informiert. Noch liegen keine eigenen Erfahrungen vor, doch ist Geschäftsleiterin Simone Benne vom möglichen Nutzen überzeugt: «Das System kann helfen, den Umzug ins Alters- oder Pflegeheim hinauszuzögern. In solchen Fällen schlagen wir es unseren Klienten und Klientinnen oder deren Angehörigen aktiv vor.» Doch oftmals überwiege die Furcht vor Überwachung oder die Meinung, «es geht doch noch». «Da braucht es noch ein bisschen Arbeit, um die Betroffenen zu überzeugen.» Das Ziel aus Sicht der Spitex sei Arbeitserleichterung und langfristig sicher auch, Ressourcen einzusparen – etwa in Form von Wegzeiten, hofft Simone Benne. Doch sei die Spitex für manche der einzige Kontakt am Tag. «So gibt es natürlich Bedenken, das wir weniger vorbeikommen, weil wir aus der Ferne sehen können, dass es der Person gut geht.» Bereits im Einsatz steht das System bei der Spitex Pfannenstiel (ZH), als «Spitex-Digital» ist es dort seit März 2022 im Angebot: «Wir sind mit DomoHealth eine Vertriebspartnerschaft für ein Einzugsgebiet von 15 politischen Gemeinden eingegangen», sagt Geschäftsleiter Gregor Gafner. Die Basic-Variante basiert auf einem Armband mit Notrufknopf, die Comfort-Variante umfasst zusätzlich Bewegungsmelder und Bettsensor. «Während eines dreimonatigen Pilotprojektes Anfang 2021 haben wir das System für zehn Freiwillige finanziert», berichtet er. Von diesen sei niemand abgesprungen, als das Angebot kostenpflichtig wurde. Im regulären Betrieb werde das System aktuell von rund 40 Klienten und Klientinnen genutzt. Zwei Aspekte verknüpft Gregor Gafner mit «Spitex-Digital »: Dies sei einerseits eine Qualitätsverbesserung der Spitex-Leistungen durch zusätzliche Information und höhere Sicherheit für die Klienten und Klientinnen. Damit sei auch den Angehörigen eine grosse Sorge genommen: «Der Stein, den man bei ihnen vom Herzen plumpsen hört, zeigt, dass das System, hinter dem nicht zuletzt auch Menschen stehen, als enorme Entlastung empfunden wird», sagt er. Andererseits sieht er das System als Pre-Akquise-Instrument, um langfristig neue Spitex-Klientinnen und -Klienten zu gewinnen. Das System ersetze bisher keine Besuche der Spitex, sagt Gregor Gafner. Er könne sich jedoch vorstellen, dass die digitale Überwachung im Rahmen der geplanten Nacht-Spitex gewisse Kontrolleinsätze unnötig macht. Der zusätzliche Zeitaufwand, der für die zuständige Case Managerin oder den zuständigen Case Manager der Spitex anfalle – für die Sichtung der zugehörigen App, die Auswertung der Daten und allenfalls die Weiterleitung der Ergebnisse an das Pflegepersonal – lasse sich weitestgehend als KLV A-Leistung (Abklärung/Beratung) abrechnen.
Das System wird von den Angehörigen als enorme Entlastung empfunden.
Gregor Gafner
Spitex Pfannenstiel
Digitalisierung dringend benötigt
Noch müssen die Klientinnen und Klienten oder deren Angehörige die Kosten des Systems bei Miete oder Kauf aus eigener Tasche bezahlen. Hugo Saner ist jedoch mit verschiedenen Krankenkassen in Kontakt und hofft, dass es als medizinisches Hilfsmittel in den Leistungskatalog der Zusatzversicherungen aufgenommen wird. Derweil will der «StrongAge»-Gründer ab kommendem Frühling den Ausbau des Systems in einem Pilotprojekt mit dem Spitalzentrum Biel erproben. Das Ziel ist, Patienten und Patientinnen trotz akuten medizinischen Situationen dank Unterstützung von Sensortechnik und koordiniertem Personaleinsatz die Behandlung im Privathaushalt zu ermöglichen. Dies erfordere die zusätzliche digitale Erfassung und Übermittlung weiterer Vitalwerte, welche von den Erkrankten selbst oder von der Spitex übernommen werden soll. Die Bereitschaft zur Projektteilnahme sei bei vielen Patienten und Patientinnen grundsätzlich vorhanden, lautet die Erkenntnis aus zahlreichen Interviews: Wichtig seien eine ausführliche Anleitung, genügend Übungszeit sowie ein verfügbarer Support zu Hause. «In Zukunft werden wir zu wenig Alters- und Pflegeheime haben, zu wenig Ärzte, zu wenig Pflegepersonal – das ist bekannt», sagt Hugo Saner. Darum sei er überzeugt: «Wir benötigen die Digitalisierung als Unterstützung unbedingt, da kommen wir gar nicht drum herum.»