«Bei einer Abnahme der Hörkraft ist Handeln angezeigt»

Was die Spitex und andere Involvierte bei einem Verdacht auf Hörminderungen tun können, erläutert Prof. Dr. med. Heike A. Bischoff-Ferrari, Lehrstuhlinhaberin Geriatrie und Altersforschung an der Universität Zürich.

Wird ein Hörverlust rechtzeitig erkannt und behandelt, können viele negative Folgen verhindert werden. Themenbild: Getty Images

SPITEX MAGAZIN: Frau Bischoff-Ferrari, wie entstehen Hörminderungen?
HEIKE A. BISCHOFF-FERRARI: Es gibt verschiedene Faktoren, die unsere Hörkraft mit zunehmendem Alter beeinträchtigen. Nebst dem Alterungsprozess werden chronische Erkrankungen wie Bluthochdruck und Diabetes mit Hörverlust in Verbindung gebracht. Ausserdem gibt es Medikamente, die für die Sinneszellen in den Ohren giftig sind. Dazu zählen bestimmte Krebsmedikamente und Antibiotika. Seltener treten Anomalien des Mittelohrs auf, die das Hörvermögen verschlechtern. Ausserdem gibt es Hinweise auf genetische Risiken, die manche Menschen im Alter anfälliger für Hörverlust machen. Zu den externen Faktoren gehören vor allem langfristige Lärmbelastungen. Eine Abnahme der Hörkraft ist häufig und sollte kein Tabuthema sein: Jeder dritte Mensch im Alter von 65 und jeder zweite im Alter von 75 Jahren berichtet über Einschränkungen der Hörkraft.

Wie lassen sich Hörminderungen im Pflegealltag der Spitex erkennen?
Einerseits sind es einfache Beobachtungen – zum Beispiel, dass die Klingel nicht gehört wird. Dazu gibt es folgende einfache Fragen [1]. Werden mindestens zwei davon mit «Ja» beziehungsweise drei mit «Manchmal» beantwortet, sollte das Gehör überprüft werden. Gefragt wird: Verursacht ein Hörproblem …

  • Schwierigkeiten beim Hören von Fernsehen/Radio?
  • Schwierigkeiten, wenn Sie sich mit Freunden oder Familienmitgliedern unterhalten?
  • dass Sie sich ausgeschlossen fühlen, wenn Sie mit einer Gruppe von Menschen zusammen sind?
  • Schwierigkeiten, wenn Sie Freunde, Verwandte oder Nachbarn besuchen?
  • dass Sie das Gefühl haben, dass ein Hörproblem Ihr persönliches oder soziales Leben einschränkt oder behindert?
  • dass Sie sich unwohl fühlen, wenn Sie sich mit Freunden unterhalten?
  • dass Sie Gruppen von Menschen meiden?
  • dass Sie Freunde, Verwandte oder Nachbarn seltener besuchen, als Sie es gerne würden?

Oft gibt es also indirekte Anzeichen für einen Hörverlust. Die Betroffenen vermeiden zunehmend soziale Kontakte, weil die Kommunikation erschwert ist, gehen seltener aus dem Haus, essen weniger häufig in Gemeinschaft und vernachlässigen Freundschaften. Das beeinträchtigt die Gesundheit, auch weil im Gespräch mit der Ärztin oder einem Pflegeexperten wichtige Informationen verpasst werden.

Spitex Nidwalden hat ein Auge aufs Hörvermögen
Mitarbeitende der Spitex sind bei ihren Einsätzen immer wieder mit dem Thema Hören ­konfrontiert – und fungieren bei einem Verdacht auf eine eingeschränkte Hörfähigkeit als Brücke zwischen den Klientinnen und Klienten und Hörakustikunternehmen wie Neuroth. Für Spitex Nidwalden ist das Hörvermögen zum Beispiel bereits bei der Erstabklärung ein Thema. Bei späteren Einsätzen achten die Mitarbeitenden ebenfalls auf Anzeichen für eine verminderte Hörfähigkeit. «Indizien können sein, dass sich die Klientinnen oder Klienten zurückziehen, von den Lippen ablesen oder dass Angehörige an ihrer Stelle auf unsere Fragen antworten», sagt Larissa Häfliger, Pflegeexpertin MScN bei Spitex Nidwalden. Werden solche Beobach­tungen gemacht, sprechen die Mitarbeitenden das Thema an.

Die Klientinnen und Klienten wüssten in der Regel bereits um ihre eingeschränkte Hörfähig­keit. Wie offen sie für Abklärungen sind, sei aber sehr unterschiedlich. «Manche reagieren zunächst zurückhaltend. Sie möchten kein weiteres Hilfsgerät, das sie in ihren Alltag integrieren müssen, oder sind beim Wechseln der Batterien motorisch überfordert», sagt Larissa Häfliger. Möchten sich die Klientinnen und Klientinnen jedoch unterstützen lassen, werden sie an das Hörakustikunternehmen Neuroth verwiesen.

Neuroth hat die Mitarbeitenden der Pflege von Spitex Nidwalden bereits zweimal geschult (vgl. Spitex Magazin 1/2019). Dabei wurde u.a. die Einstellung der Hörgeräte erklärt, die etwas Geduld erfordert. Mit diesem Wissen können die Mitarbeitenden bei ihren Klientinnen und Klienten Ängste abbauen und den Weg zu einem Hörgerät ebnen. Zudem unterstützen sie sie ganz praktisch im Alltag, indem sie die Batterien der Hörgeräte auswechseln. Ist das Hörgerät einmal in Gebrauch, seien die positiven Auswirkungen gut spürbar: «Es erleichtert den Pflegealltag, wenn die Klientinnen und Klienten ­unsere Anleitungen wieder verstehen. So können sie unsere Handlungen besser einordnen», sagt Larissa Häfliger.

Indizien können sein, dass
sich die Klientinnen oder Klienten
zurückziehen, von den Lippen
ablesen oder dass Angehörige
an ihrer Stelle auf unsere Fragen
antworten.

LARISSA HÄFLIGER

Pflegeexpertin MScN, Spitex Nidwalden

Was lässt sich gegen einen Hörverlust unternehmen?
Zu den präventiven Massnahmen gehören die Vermeidung von Lärmquellen und der Schutz vor lauten Geräuschen mittels Ohrstöpseln oder Kapselgehörschutz. Dazu zeigt die Forschung, dass eine regelmässige physische Aktivität wie Spazierengehen das Risiko eines Gehörverlustes vermindert. Grundsätzlich sind alle Massnahmen förderlich, welche die Gesundheit positiv beeinflussen: eine gesunde Ernährung, ausreichend Schlaf und soziale Interaktionen. Ist eine Einschränkung der Hörkraft bereits vorhanden, hängt die Behandlung von der Schwere des Hörverlusts ab. Es gibt eine Reihe von Hörhilfen zur Verstärkung von Telefonen. Hörgeräte, die man im oder hinter dem Ohr tragen kann, verbessern zum Beispiel das Sprachverstehen. Alternativ gibt es Cochlea-Implantate für schwer höreingeschränkte Menschen.

Welche Unterstützung gibt es nebst Hörhilfen?
Wichtig ist ein Gespräch mit Familie und Freunden, in dem man ganz praktische Dinge erklärt: zum Beispiel, auf welchem Ohr man besser hört. Menschen mit eingeschränkter Hörkraft können einer Unterhaltung zudem besser folgen, wenn aufs Mal nur eine Person spricht, ­ihnen diese Person beim Sprechen zugewandt ist, da ­Mimik und Lippenbewegungen zusätzliche Informationen liefern, und Musik oder Radio ausgeschaltet sind.

Hörverminderungen können den Alterungsprozess vorantreiben, weil sich die Betroffenen zurückziehen und sozial isolieren.

PROF. DR. HEIKE A. BISCHOFF-FERRARI

Professorin Universität Zürich

Was passiert, wenn der Hörverlust nicht behandelt wird?
Hörverminderungen können den Alterungsprozess vorantreiben, weil sich die Betroffenen zurückziehen und sozial isolieren. Dadurch nimmt die Mobilität ab, und Mangelernährung und Gebrechlichkeit werden begünstigt. In der Forschung ist gut belegt, dass Menschen mit einer eingeschränkten Hörkraft ein bis zu fünffach erhöhtes Risiko für eine Demenz haben. Der Grund dafür ist unter anderem eine abnehmende Gedächtnis-Stimula­tion infolge der sozialen Isolation. Es ist deshalb essenziell, eine Abnahme der Hörkraft nicht dem Alterungsprozess zuzuschreiben, sondern proaktiv anzugehen.

Neuroth: Premiumpartner von Spitex Schweiz
Das Hörakustikunternehmen Neuroth, Premiumpartner von Spitex Schweiz, ist Hersteller-unabhängig und bietet in über 8o Schweizer Hörzentren einen kostenlosen Hörtest und professionelle Beratung an. Mit der Hörtest-App ist ein einfacher Hörtest auch zu Hause möglich. Spitex-Organisationen dient Neuroth als Ansprechpartner für alle Fragen zum Thema Hören. Das Unternehmen unterstützt die Mitarbeitenden zudem bei Reparaturen und Serviceproblemen rund um Hörlösungen. Und es bietet Schulungen an – für Reinigungsarbeiten von Hörlösungen sowie kleine Reparaturen, die Spitex-Mitarbeitende selbst vornehmen können. Alle Dienstleistungen sind kostenlos. Kontakt für Interessierte:
Fabian Heeg, 041 729 70 80, Fabian.Heeg@neuroth.com

→ www.neuroth.com

[1]Cassarly, C. et al.: The Revised Hearing Handicap Inventory
and Screening Tool Based on Psychometric Reevaluation of the
Hearing Handicap Inventories for the Elderly and Adults.
«Ear Hear» 2020 (1), S. 95–105.

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